»Wir können nicht planen, nicht mal von Tag zu Tag«

Als Krankenschwester auf einer Coronastation erlebt Katja Pichler die Krise derzeit hautnah. Sie pflegte unter anderem einen der ersten bestätigten Coronafälle in Deutschland – und war überrascht davon, wie schnell dann alles ging.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Sie arbeiten als Krankenschwester an der Tübinger Uniklinik in der Infektologie. Wie sieht Ihr Alltag gerade aus?Katja Pichler: Ich habe in der Regel Frühschicht, die beginnt um 6 Uhr. Ich komme aber momentan meistens 20 Minuten früher und bleibe nachmittags auch mal eine Stunde länger. Ich bin stellvertretende Bereichsleiterin, deshalb bin ich gerade viel mit der Koordination und Organisation der Station beschäftigt. Ich arbeite aber trotzdem 75 Prozent meiner Zeit in der Pflege.

Ende Februar hatten Sie in Tübingen den ersten bestätigten Corona-Fall. Sie waren bei der Betreuung mit dabei. Erzählen Sie uns davon.
Das waren Herr Bösmüller und seine Tochter. Die beiden sind 60 und 24 Jahre alt. Der Fall ging durch die Presse, Herr Bösmüller ist Oberarzt in der Pathologie in Tübingen. Seine Tochter hatte sich in Mailand mit dem Coronavirus angesteckt und den Erreger an ihren Vater weitergetragen. Nachdem die beiden Symptome gezeigt hatten, informierten Sie das Gesundheitsamt und wurden bei uns eingeliefert. Bis dahin war Covid-19 für uns alle sehr weit weg. Wir hatten nur einen unbestätigten Verdachtsfall gehabt, Ende Januar. Aber wir hätten nicht damit gerechnet, dass wir so schnell bestätigte Covid-19-Patienten bei uns auf Station haben.

Vor der Einlieferung der Bösmüllers mussten Sie Ihre Station im Schnelldurchlauf für die Corona-Patienten herrichten. Was war dabei zu beachten?
Am wichtigsten ist, dass keine Erreger nach außen dringen. Deshalb sind die Zimmer in der Infektologie unter anderem mit Unterdruck ausgestattet. Zudem ist die Station komplett isoliert vom Rest des Klinikums. Die Patienten dürfen nicht besucht werden. Mittlerweile sind wir eine reine Corona-Station. Es werden keine Patienten mehr aufgenommen, die andere Krankheiten als Covid-19 haben.

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Wieviele Betten für Corona-Patienten haben Sie auf ihrer Station?
Wir haben Platz für zehn Corona-Patienten auf der Infektionsstation. Wir sind aber auch im vorderen Teil der Station auf weitere 30 Patienten vorbereitet. Wir sind gewappnet für alles, was noch kommt.

Die Bösmüllers waren mit die ersten erfassten Corona-Patienten in Deutschland. Wie verlief Covid-19 bei den beiden? Geht es ihnen mittlerweile wieder gut?
Die Bösmüllers hatten einen milden Verlauf von Covid-19. Sie hatten Fieber, Nasennebenhöhlenentzündungen und Husten. Insgesamt waren die beiden eine Woche auf unserer Station. Danach durften sie in die häusliche Quarantäne. Mittlerweile sind beide wieder gesund.

»Die meisten Patienten machen sich Sorgen, dass sie zu spät das Gesundheitsamt angerufen und ihre Familie oder Freunde infiziert haben«

Was berichten Ihnen die infizierten Patienten?
Covid-19-Patienten sind sehr verunsichert. Dabei haben wenige Angst um die eigene Gesundheit, zumindest am Anfang des Krankheitsverlaufs. Die meisten Patienten machen sich Sorgen, dass sie zu spät das Gesundheitsamt angerufen und ihre Familie oder Freunde infiziert haben. Viele schämen sich. Aber das müssen sie nicht. Die Krankheit kann jeden treffen.

Verändern sich die Sorgen der Patienten mit der Zeit?
Bei einigen kommt irgendwann die Angst um das eigene Leben dazu. Bei schweren Verläufen bekommen die Patienten immer schlechter Luft, sie haben Angst, dass sie ersticken müssen. Eine weitere Sorge ist natürlich, ob man sich wieder gut erholt und in sein häusliches Umfeld zurückkehren kann.

Wie läuft die Pflege der Patienten in Isolation ab?
Wir müssen uns jedes Mal komplett umziehen und desinfizieren, wenn wir zu den Patienten in die Zimmer gehen. Das erschwert die Pflege sehr. Wir schwitzen wahnsinnig unter der Schutzkleidung und bekommen schlecht Luft. Das merken die Patienten und bedanken sich jedes Mal, wenn wir zu ihnen hereinkommen. Das ist wirklich rührend. Viele Patienten haben Hemmungen, nach uns zu klingeln, weil sie wissen, dass die Pflege anstrengend ist. Aber niemand sollte Hemmungen haben, uns zu rufen. Das ist unser Job. Wir sind die einzigen menschlichen Kontakte und wir tragen Mundschutz, Brille und Schutzanzug. Covid-19-Patienten sehen, solange sie auf Station sind, kein einziges echtes menschliches Gesicht. Keine schöne Vorstellung.

Wann haben Sie zum ersten Mal vom Coronavirus gehört?
Im Dezember 2019. Ich habe mich dann im Januar ein bisschen eingelesen, mehr aus privater Neugier als aus beruflichen Gründen. Als dann die ersten Fälle in Italien aufgetreten sind, habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen. Aber dass wir nun mittendrin sind, habe ich erst realisiert, als die Familie Bösmüller bei uns war.

Haben Sie das Virus unterschätzt?
Ja, sehr. Ich arbeite seit 16 Jahren in der Tübinger Infektologie. Ich habe SARS miterlebt, EHEC, die Schweinegrippe und die Vogelgrippe. Wir waren jedes Mal vorbereitet und nie kamen diese Epidemien wirklich zu uns. Außerdem habe ich immer an das deutsche Gesundheitssystem geglaubt. Deshalb habe ich mir zu Anfang auch keine Sorgen gemacht. Nun komme ich mir deswegen ehrlich gesagt ein bisschen dumm vor.

Sie sagen, Sie hätten an das deutsche Gesundheitssystem geglaubt. Glauben Sie nicht mehr daran?
Doch. Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Aber es wird momentan hart auf die Probe gestellt. Und ich hoffe, dass es für die Politik ein Gedankenanstoß ist und nach der Krise Änderungen geben wird im Bezug auf das Pflegepersonal.

Abends klatschen die Menschen aus den offenen Fenstern, um sich bei Ihnen für Ihre Arbeit zu bedanken. Kommt das bei Ihnen an?
Es ist schön zu sehen, dass der Wert der Pflegeberufe in der Gesellschaft wieder steigt. Das alles rührt mich, aber es hat einen bitteren Beigeschmack. Wir sind jahrelang auf die Straße gegangen, für besser Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Niemand hat sich für uns interessiert. Jetzt, wo man uns braucht, sind wir auf einmal die Heldinnen und Helden der Nation, dabei machen wir nichts anderes als die Jahre zuvor.

Wie ist die Stimmung unter ihren Kolleginnen und Kollegen gerade? Sind mit ihrer Arbeit überlastet?
Noch nicht. Aber die Belastung ist sehr hoch. Wir kommen vom Spätdienst nach Hause und wissen nicht, wie der morgige Tag verläuft. Patienten werden über Nacht verlegt, werden neu eingeliefert, verschlechtern sich stark. Oder sie sterben. Wir können nicht planen, nicht mal von Tag zu Tag. Wir wissen, wie sehr wir gebraucht werden. Dieses Gefühl beflügelt irgendwie. Deshalb ist die Stimmung momentan noch gut. Es klingt komisch, aber Covid hat uns als Team echt zusammen geschweißt.

Haben Sie Angst, selbst krank zu werden?
Nein. Wir bekommen die Patienten auf der Station komplett isoliert und arbeiten nach höchsten Hygieneanforderungen. Die Hausärzte und die Pflegekräfte im Rettungsdienst sind viel gefährdeter als wir. Wir haben hier optimale hygienische Bedingungen. Wir haben noch genügend Schutzkleidung. Wir müssen uns keine Gedanken darüber machen, dass wir nur noch 10 ml Desinfektionsmittel übrig haben. Deshalb habe ich keine Angst um mich. Um meine Familie aber schon. Meine Mutter ist im höheren Alter und gehört zur Risikogruppe.

Macht Ihr Job Ihnen gerade Spaß?
Ja, immer. Es ist der für mich der beste Job der Welt, ich wollte nirgends sonst arbeiten, auch nicht auf einer anderen Station. Die Dankbarkeit, die wir von unseren Patientinnen und Patienten zurückbekommen – die kriegt man nirgendwo sonst.