»Plötzlich trieb ich mitten in der dunklen Nordsee«

Dieter Steffens ist seit 45 Jahren Seemann und war lange Zeit Seenotretter in der Nordsee. Während eines Einsatzes bei einem nächtlichen Sommersturm wurde er selbst zum Seenotfall.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Was ist an dem Tag passiert, als Sie nicht nur retteten, sondern gerettet werden mussten?
Dieter Steffens: Es war ein Sommertag im August. Wir lagen im Hafen von Wilhelmshaven, als eine Sturmwarnung eintraf. Es handelte sich um einen üblichen Sommersturm mit viel Wind und starken Böen. Gegen 19 Uhr erreichte uns dann ein Notruf. Eine Segeljacht war in Seenot. Also sind wir ausgelaufen.

Hatten Sie keine Angst?
Nein, wir waren gestandene Seemänner. Ein normaler Sturm erschrickt einen da nicht. Wenn ein Notruf eintrifft, wird die Rettung immer versucht. Abbrechen geht im schlimmsten Fall immer.

Wie sind Sie zur Jacht gelangt?
Da die Wellen bis zu sieben Meter hoch waren, brauchten wir drei Stunden und kamen erst gegen 22 Uhr an. Glücklicherweise war es noch nicht ganz dunkel, das erleichterte die Suche. Auf einer etwa neun Meter langen Yacht waren ein Mann und eine Frau. Normalerweise haben die Menschen Priorität und das Boot wird nur geborgen, wenn es geht. In diesem Fall waren die Wellen aber so hoch, dass wir das Schiff in Schlepptau nehmen mussten, ohne die Passagiere davor zu bergen.

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Wie ging es weiter?
Wir befanden uns etwa zwei Seemeilen nördlich von Wangerooge, als ich auf dem Weg vom unteren Fahrstand zum oberen ein unfassbar lautes Rauschen wahrnahm. Ich hob meinen Blick und sah auf Steuerbord eine etwa 20 Meter hohe Wasserwand. Sie erwischte uns komplett. Wir hatten 110 Grad Schlagseite – das ist die seitliche Neigung des Schiffes. Da ich gerade hochkam und nicht wie meine Kollegen angeschnallt war, bin ich über Bord gegangen. Plötzlich ging alles sehr schnell und ich trieb mitten in der Dunkelheit der tosenden Nordsee.

Was haben Sie in dem Moment gedacht?
Da ich Seemann bin, war mir sofort klar, dass meine Chancen sehr schlecht stehen. Wir haben öfters Menschen gesucht, die über Bord gegangen waren. Meist haben wir sie aber nicht gefunden. Bei dem Wetter und der mittlerweile kompletten Dunkelheit war es umso schwieriger.

Wie haben Ihre Kollegen auf dem Schiff reagiert?
Die »Vormann Steffens« war nach dem Vorfall selber ein manövrierunfähiger Seenotfall. Man muss von Glück sprechen, dass das Schiff nicht gekentert ist – nach dem Unfall war es vier Monate lang zur Reparatur in der Werft. Die Fenster waren eingeschlagen, die Motoren ausgefallen, der Mast abgebrochen. Es befanden sich rund fünf Tonnen Wasser im Schiff. Die Kollegen hatten Rippenbrüche und Kopfverletzungen, sie waren durch den Aufprall gegen die Wand geschlagen worden. Alles, was meine Kollegen in dem Moment tun konnten, war einen Notruf abzusetzen.

Wie hat man Sie gefunden?
Die Seenotretter von Norderney konnten mich wie durch ein Wunder aufgrund meiner Hilfeschreie orten. An Bord nehmen konnten Sie mich allerdings nicht, da das Wetter weiterhin sehr schlecht war. Also riefen sie einen Hubschrauber. Es war zum Verzweifeln: Man sieht den Scheinwerferkegel des Hubschraubers in 200 Meter Entfernung an einem vorbeisausen, brüllt, schluckt Wasser und strampelt – und wird trotzdem nicht gesehen. Natürlich wusste ich als Seemann, dass man sich ruhig verhalten sollte, um nicht auszukühlen. Aber in dem Moment kann man nicht anders. Ich hatte damals zwei kleine Kinder und eine Frau, ich dachte: Die siehst du nie wieder. Irgendwann merkt man, wie die Kraft nachlässt.

Schließlich konnte der Hubschrauber Sie ausfindig machen.
Ja, nach etwa einer Stunde konnte man mich bergen. An all das kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern. Der erste Moment, an den ich mich wieder erinnern kann, war, als ich am nächsten Morgen im Krankenhaus aufgewacht bin. Laut meinem Arzt hatte ich nur noch 31 Grad Körpertemperatur, als man mich im Wasser fand – ich hatte viele Schutzengel.

Wie ging es Ihnen nach dem Unfall?
Ich hatte zwar keine körperlichen Verletzungen wie meine Kollegen, die an Bord geblieben waren, war allerdings traumatisiert. Ich musste vier Monate pausieren, bis ich mir zutraute, den Dienst wieder aufzunehmen. Als ich meinen ersten Einsatz hatte, war ich wie versteinert und bekam unglaubliche Magenkrämpfe. Da habe ich beschlossen, hauptamtlich mit der Seenotrettung aufzuhören.

Fahren Sie heute noch auf See?
Natürlich, meine ganze Familie ist seit Generationen in der Seefahrt aktiv und schließlich bin und bleibe ich leidenschaftlich Seemann. Mittlerweile arbeite ich als Steuermann auf der Fähre von Neuharlingersiel nach Spiekeroog.