SZ-Magazin: Mit welchen Patienten hatten Sie in der Suchtpsychiatrie zu tun?
Mit Schwerstabhängigen, in der Regel Heroin- oder Kokainsüchtigen. Die meisten, die bei uns in der Klinik und in der Ambulanz waren, wurden mit Methadon substituiert. Viele waren seit Jahrzehnten in der Sucht gefangen. Oft waren nur kleinste Schritte der Besserung zu sehen.
Der Fall Ihres Lebens war aber kein Heroinsüchtiger, sondern ein Alkoholabhängiger. Worum ging es?
Der Mann, nennen wir ihn Tom, war Mitte fünfzig und trank, seit er 18 war – zwar heftig und konstant, aber er »funktionierte«: Er hatte einen gut bezahlten Job als ITler, für den er auf der ganzen Welt tätig war, er führte eine Art Jet-Set-Leben. Als seine Mutter starb, stürzte er binnen weniger Monate von oben nach ganz unten ab. Ging nicht mehr zur Arbeit, verlor seine Wohnung, verwahrloste, war kurz davor, sich zu Tode zu trinken.
Was passierte, als er zu Ihnen in die Suchtpsychiatrie kam?
Alkoholentzug ist einer der wenigen Entzüge, die wirklich lebensbedrohlich werden können. Alkohol hat eine hemmende Wirkung, an die sich der Körper gewöhnt. Wenn diese plötzlich wegfällt, kann es zum Alkoholentzugsdelir, Krampfanfällen und Kreislaufstörungen kommen, welche tödlich enden können. Daher muss man den Entzug gut überwachen. In der Therapie ersetzen wir erstmal den Alkohol durch andere hemmende Stoffe und lindern damit die Entzugssymptome. Weil diese Medikamente auf Dauer auch abhängig machen, sollte man sie bald wieder ausschleichen. Nach etwa zehn Tagen war Tom vom Alkohol entzogen, dann versuchten wir ihn zu einer Psychotherapie zu bewegen. Er weigerte sich, wurde schließlich entlassen, zog in ein Zimmer der Heilsarmee – und, weil er keine Struktur hatte und Alkohol dort verfügbar war, stürzte wieder ab. Erst als er zum zweiten Mal zu uns kam, Monate später, war er bereit für eine Psychotherapie, auch weil er mich wiedererkannte.
Was für ein Mann war er?
Zunächst beeindruckte mich seine Lebensgeschichte, er war in verschiedenen Ländern in Afrika aufgewachsen, weil seine Eltern aus beruflichen Gründen dort gelebt haben. Damals herrschte dort Bürgerkrieg, Tom hat als Kind schlimme Gräuel erlebt: Er sah Leichenberge in den Straßen. Einmal explodierte eine Autobombe direkt im Auto neben ihm. Einmal wurde er von Rebellen entführt, er überlebte auch das. Dennoch, und das fand ich so bemerkenswert, hat er seine Kindheit immer als glücklich bezeichnet – seine Augen leuchteten, wenn er von den Naturerfahrungen in der afrikanischen Steppe erzählte, von seiner Arbeit als junger Erwachsener als Ranger in den Nationalparks, den Löwen und Giraffen. Einen Zusammenhang zwischen den schlimmen Erlebnissen als Kind und seiner Sucht stellte er nicht her.
Was machte Toms Fall zum Fall Ihres Lebens?
Ich begann mit ihm eine ambulante Psychotherapie, zwei Mal die Woche eine Stunde. Nebenbei besuchte er weitere therapeutische Angebote, er entdeckte zum Beispiel seine Liebe zum Origami – was rührend war, denn Tom war ein Bär von einem Mann. Sehr kräftig, Hände groß wie Schaufeln. Und nun bastelte er plötzlich diese kleinen Tiere… Zum Fall meines Lebens wurde er, weil ich dabei zusehen konnte, wie er begann, klar auf sein Leben zu blicken: Er war ja zum ersten Mal nüchtern seit mehr als 30 Jahren. Er stellte fest, wie der Alkohol ihm im Weg gestanden hatte, beim Knüpfen von Beziehungen, beim Ausleben seiner Natursehnsucht, im Verhältnis zu seinen Eltern, die er sehr liebte. Er konnte nun auch der Trauer um seine Mutter Raum geben, jetzt wo er sich nicht mehr betäubte. Und trotz der Trauer war da auch so viel Zuversicht und Lust, Dinge nachzuholen, die er jahrelang versäumt hatte.
Überwiegen sonst oft Bedauern und Scham, was die Sucht alles zerstört hat?
Ja und oft liegt ja auch vieles in Scherben. Wir machten einen Zeitstrahl und Tom begab sich auf Spurensuche, rief alte Weggefährten an, fragte sie, wie das mit dem Trinken begann und wie er sich nach diesem und jenem Kindheitserlebnis verändert hat. Ich ermutigte ihn, die Erlebnisse seiner Kindheit aufzuschreiben und er begann mit einem Buch. Ich habe bei einem Patienten selten so eine Freude gesehen, die Trümmer seines Lebens wegzuräumen. Nicht oft konnte ich in meiner damaligen Arbeit sagen: So, geschafft, Patient geheilt, Fall abgeschlossen. An Tom sah ich, dass alles gut werden kann.
Wie geht es Tom heute?
Im Verlauf unserer ambulanten Therapie fand er eine Wohnung und begann wieder zu arbeiten, er konnte aufgrund seiner Arbeitsbelastung nur noch selten zu Terminen kommen. Irgendwann brach unser Kontakt ab. Nach einiger Zeit machte ich mir Sorgen, ich wollte wissen, wie es ihm geht. Durch Zufall erfuhr ich, dass er einen tragischen Unfall hatte, er war nicht rückfällig geworden. Es war wohl ein schwerer Sturz, den er nicht überlebte. Sein Tod traf mich und die andere behandelnde Ärztin tief. Uns tröstete nur ein Gedanke: dass er es noch zu Lebzeiten geschafft hatte, wieder glücklich zu werden.