SZ-Magazin: Bis Sie 18 Jahre waren, träumten Sie davon, als Geiger Mitglied der Wiener Philharmoniker zu werden. Nun sind Sie ein weltberühmter Dirigent. Was ist passiert?
Franz Welser-Möst (59): Ein Autounfall, am 19. September 1978, ein eiskalter Sonntag. Wir saßen zu sechst in einem Mercedes, wir kamen aus Großraming in Oberösterreich, wo ich bei der G-Dur-Messe von Schubert engagiert wurde, um dort Geige zu spielen, und waren auf dem Weg nach Steyr. Dort sollte ich abends beim Forellenquintett spielen, das Schubert in Steyr komponiert hatte. So haben wir uns als junge Burschen neben der Schule ein bissl Geld verdient. Der Fahrer, ein Freund, hatte gerade seinen Führerschein gemacht. Genau um 15 Uhr ist der Mercedes auf einer Brücke ins Schleudern gekommen, der Freund ist auf die Bremse getreten, das war unser Unglück. Nach der Brücke hat sich das Auto mehrfach überschlagen, die Mutter des Fahrers, die hinten neben mir saß, ist gestorben.
Und Sie waren schwer verletzt?
Wir anderen waren alle schwer verletzt und kamen auf die Intensivstation. Der Unfall passierte um 15 Uhr – die Todesstunde von Franz Schubert, fast 150 Jahre zuvor.
Das wissen Sie so genau, weil Sie Schubert verehren?
Sein Ges-Dur Impromptu war meine erste musikalische Erinnerung, da war ich drei. Und das erste, was ich im Radio hörte, auf Ö1, als ich von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt wurde, war die Schubert-Messe, die ich kurz vor dem Unfall gespielt hatte.
Welche Verletzungen hatten Sie?
Mein Oberkörper war zwölf Wochen eingegipst, ich hatte drei gebrochene Wirbel und zwei Finger an der linken Hand funktionieren seither nicht mehr, da ist ein Nerv beschädigt. Ich habe zwar später noch Geige gespielt und auch Klavier, aber dass es zu einem Profi gereicht hätte, das war vorbei.
Da ist Ihr Lebenstraum zerbrochen?
Man braucht schon lang, den Unfall zu verarbeiten, anfangs habe ich ja nicht mal meine Beine gespürt. Bis dahin hatte ich das Leben eines jungen Hundes, und auf einmal war das alles fast vorbei. Man fängt dann an, die Welt ein bisschen zu hinterfragen.
Und Sie haben beschlossen, Dirigent zu werden?
Nein, es hat einfach alles seinen Weg genommen, und ganz unerfahren war ich ohnehin nicht auf diesem Gebiet: Mit 14 kam ich auf das Musikgymnasium in Linz, eine Schule für musikalisch Hochbegabte. Es gab auch ein kleines Schulorchester. Mit 16 hat mein Musiklehrer gesagt, du hast Talent zum Dirigieren, du übernimmst die Probe morgen. Ich habe anschließend mehrere Proben für ihn dirigiert, das hat mir Spaß gemacht, aber es war nicht mein Berufsziel.
Kann man das einfach so, dirigieren? Muss man das nicht lernen?
Der große Karl Böhm gesagt, dirigieren könne man gar nicht lernen. Dirigieren ist eine sehr komplexe Angelegenheit: Man muss Talent dafür haben, etwas Musikalisches zu organisieren, man muss ein Gespür haben für Menschen. Mindestens fünfzig Prozent unseres Berufes besteht aus Psychologie, sage ich immer. Herbert von Karajan wurde mal gefragt, warum Sänger so gern mit ihm arbeiten. Da hat er geantwortet: »Ich gebe ihnen jede Freiheit, die sie wollen, damit sie das tun, was ich will.« Das sagt auch viel über diesen Beruf aus, denn der Dirigent macht ja keinen Sound, er muss andere Leute verführen, dass sie etwas tun, was nur in seiner Vorstellung vorhanden ist.
Konnten Sie nach Ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus weiterhin das Schulorchester dirigieren?
Ja. Das Orchester wurde auch immer größer. Im Grunde bin ich also so reingerutscht in diesen Beruf.
Hatten Sie nach dem Krankenhaus noch Schmerzen?
Ich hatte 14 Jahre lang keinen schmerzfreien Tag.
»Seit ich zu einer Yoga-Lehrerin gehe und selbst jeden Morgen Yoga mache, kenne ich praktisch keine Rückenschmerzen mehr«
Und heute?
Seit mir eine alte Freundin empfohlen hatte, zu einem Osteopathen zu gehen, wurde es besser. Plötzlich gab es schmerzfreie Tage. Ich kannte bis dahin ja auch Situationen, in denen ich morgens nicht aus dem Bett kam, weil es mir so schlecht ging, dass der Krankenwagen kommen musste. Doch seit ich zu einer Yoga-Lehrerin gehe und selbst jeden Morgen Yoga mache, kenne ich praktisch keine Rückenschmerzen mehr. Das hat mein Leben verändert.
Bereuen Sie es manchmal, nicht Geiger geworden zu sein?
Nein, nie. Als sich mir die Chance bot, mehr zu dirigieren, habe ich zugegriffen. Es hätte ja auch in die Hose gehen können. Es gibt auch die Zufälle, die im ersten Moment negativ aussehen, wie dieser Unfall. Aber er hat meinem Leben in eine ganz andere Richtung gelenkt. Ich habe zwar den Traum aufgegeben Geiger bei den Wiener Philharmonikern zu werden, aber als Dirigent habe ich, wie jetzt im Sommer bei den Salzburger Festspielen, trotzdem mit ihnen zu tun.