Voll, sehr voll, brechend voll

Dass man beim Kauf eines Bahntickets erfährt, wie voll der Zug sein wird, klingt sinnvoll. Oder soll die Auslastungsanzeige zum Kauf von Reservierungen verleiten, die gar nicht nötig wären?

Illustration: Nishant Choksi

In meiner Familie ist es der Running Gag – sollen wir für die nächste Bahnfahrt wirklich reservieren? Denn am Ende haben wir noch selten auf den Plätzen gesessen, die wir gebucht hatten; meistens fanden wir bessere. Etwa weil diese näher an der Tür oder am Kinderwagen-Stellplatz lagen. Also hatten wir umsonst neun Euro für die Reservierung bezahlt. Wenn man Sparpreise bucht, kann das ein Viertel des Fahrpreises sein. Das Geld hätten wir uns gespart, wenn ich nicht beim Anblick der im vergangenen Jahr eingeführten Auslastungsanzeige ständig die Nerven verlieren würde; man sieht sie in der DB-App Navigator oder beim Buchungsprozess auf der DB-Homepage. Grund für meine Nervosität sind die vier Stufen der Anzeige: 1. »geringe bis mittlere Auslastung», 2. «hohe Auslastung erwartet – wir empfehlen eine Sitzplatzreservierung«, 3. »sehr hohe Auslastung erwartet – bitte reservieren Sie einen Sitzplatz oder wählen Sie eine andere Verbindung, wenn Sie noch keine Fahrkarte gekauft haben« und 4. »außergewöhnlich hohe Auslastung erwartet – Ticketbuchung und Sitzplatzreservierung sind nicht mehr möglich, bitte wählen Sie eine andere Verbindung«.

Die letzte Stufe sagt meiner Erfahrung nach zuverlässig volle Züge an – wobei ich auch in solchen Zügen nicht-reservierte Plätze gesehen habe und es diese Warnung auch schon vor Einführung der Auslastungsanzeige gab (damals gekennzeichnet mit Ausrufezeichen in der App). Die anderen Stufen der Auslastungsanzeige sind allerdings weniger aussagekräftig. Ein Freund schickte mir neulich ein Foto, auf dem komplett leere Sitzreihen im ICE zu sehen waren – bei vorhergesagter »sehr hoher Auslastung«.

Für mich ist diese Anzeige ein Irreführung der Fahrgäste

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Die Bahn erklärt Abweichungen so: »Bei der Auslastungsanzeige handelt es sich um eine Prognose auf Basis der historischen Auslastungswerte (Zählungen im Zug) sowie der bereits eingegangen Buchungen für diese Verbindung. Daher kann es in Einzelfällen zu Abweichungen kommen.« Klar, Verspätungen, durch die Reisende Anschlusszüge verpassen, sind natürlich nicht bis zu 28 Tage im Voraus (ab da gibt es die Auslastungsanzeige) vorherzusagen.

Allerdings erschließt sich mir nicht, warum bereits die zweite Stufe eine »hohe« Auslastung vorhersagt. Ich habe bei sehr vielen Bahnfahrten nie erlebt, dass ein Zug bei prognostizierter »hoher« Auslastung mehr als halb voll war. Aber die Anzeige in der App suggeriert mir etwas anderes – nämlich, dass ich keine nebeneinanderliegenden Plätze mit meiner Familie bekommen könnte oder wir vielleicht sogar stehen müssten. In Panik buche ich also Reservierungen.

Ich würde wetten, dass es seit Einführung dieser Anzeige mehr Reservierungsbuchungen gibt. Danach gefragt, antwortet die Pressestelle der Bahn, dass heute «für volle Züge mehr Reservierungen erworben werden als vor der Einführung der Auslastungsanzeige.« Ich habe mir vorgenommen, mich von vermeintlich »hoher Auslastung« nicht mehr zum Reservieren drängen zu lassen.

Für mich ist diese Anzeige ein Irreführung der Fahrgäste – warum benutzt man eine Skala bei der »gering und mittel« zusammengefasst sind, während es für hohe Auslastung drei verschiedene Abstufungen gibt? Würde man in der Schule ein Notensystem akzeptieren, das aus 1, 2 und 2- bestände und als vierte Abstufung 3 bis 6 hätte? Oder eines das »sehr gut bis zufriedenstellend« zusammenfasste und mangelhaft, sehr mangelhaft und ungenügend getrennt auswiese? Solche Skalierungen kennt man sonst eigentlich nur vom Ostereier-Suchen und Topfschlagen (»kalt«, »heiß«, »sehr heiß«, »glühend heiß«). Es sollte ja eigentlich kein Problem sein, prozentuale Angaben zur Zugauslastung zu machen, denn die Empfehlungen müssen ohnehin auf Zahlen beruhen.

Gut zu wissen: Die Anzeige bezieht sich immer auf den am stärksten ausgelasteteten Abschnitt der angefragten Verbindung. »So kann es sein«, schreibt eine Bahnsprecherin, »dass der Zug beim Einstieg noch recht leer ist und sich erst an einem späteren Bahnhof deutlich füllt.« Leider erfährt der Reisende nicht, welcher Abschnitt gemeint ist – wenn ein Zug nur eine Viertelstunde lang von Göttingen bis Kassel außergewöhnlich hoch ausgelastet ist, kann man als Fahrgast (zumindest, wenn man nicht mit Kind unterwegs ist) damit ganz gut leben. Aber wenn das die gesamt Fahrtzeit von Hamburg bis Frankfurt betrifft, würde man sich den vollen Zug wohl lieber sparen. Diese Zusatzinformation über den Streckenabschnitt wäre also sehr sinnvoll – es gibt noch einiges zu verbessern bei der Auslastungsanzeige. Eine gute Nachricht zum Schluss immerhin: Seit diesem Jahr sind Reservierungen in der zweiten Klasse 50 Cent billiger und kosten nur noch vier Euro pro Platz.