Die Herrin der Dinge

Die Französin Inga Sempé ist eine der wenigen weltweit erfolgreichen Designerinnen. Sie bringt die Ordnung einer immer noch männlich dominierten Branche durcheinander - und meint: Die Frage ist nicht, wie Frauen und Männer designen, sondern was man von ihnen erwartet.

»Nein«, sagt Inga Sempé, »nein.« Sie sitzt auf einem Bürostuhl in ihrem Studio im 10. Arrondissement in Paris, ihre Beine auf der Sitzfläche angewinkelt, immer wieder wechselt sie die Position, stellt ihre Füße auf den Boden, rückt an die Stuhlkante, lehnt sich zurück. Sie klappt ihre Arme und Beine aus und ein wie Werkzeuge an einem Taschenmesser. »Nein, ich kann mich nicht an den Moment erinnern, in dem ich beschloss, Designerin zu werden.« Ihre Augen wandern zur Decke, an der ihre Lampe »w103« hängt, die sie für den schwedischen Hersteller Wästberg entworfen hat. »Nein.« Es ist das Wort, das Sempé am häufigsten benutzt. Auch ihr Leben ist eine Aneinanderreihung von Dingen, gegen die sie sich entschieden hat, ein Leben im Ausschlussverfahren, bestehend aus nein, nicht, keine, niemandem.

Inga Sempé gilt als bedeutendste Produktdesignerin Frankreichs. Eigentlich möchte man das -in streichen und es geschlechtsneutral formulieren, so wie es früher auf den Schulzeugnissen stand: Sempé hat herausragende Leistungen im Bereich Design erbracht. Sie gestaltet Besteck für Alessi, Keramik für Japan Creative und Tische für Ligne Roset. Sie wurde mit dem Grand Prix de la Création von Paris ausgezeichnet. Auf der Liste der hundert wichtigsten Designer unserer Zeit, die das Magazin Wallpaper jedes Jahr aufstellt, belegt sie Platz 65. Was sehr weit vorn ist, wenn man bedenkt, dass die Liste zu fast neunzig Prozent aus Männern besteht. Doch die große Bühne interessierte sie nie. Sie verwehrt sich Fragen nach Rollenbildern von Mann oder Frau, nach Klischees von Inspiration, Vision und Utopie. Sie gleicht einer Sterne-Köchin, die sich selbst als Hausfrau bezeichnet, die gutes Essen zubereiten möchte.

»Frauen und Technik? Nein. Wir werden immer nur auf bestimmte Bereiche reduziert. Technik gehört nicht dazu«, sagt sie. Dabei liebt sie mechanische Gegenstände: Regenschirme faszinieren sie. Diese Verbindung von Stoff, Metall und Mechanismus. Sempé spricht ruhig und überlegt, höflich und freundlich. Aber sie ist nicht auf herkömmliche Weise nett. Sie lächelt kaum. Ihre Mimik ist konzentriert, ihre Wortwahl präzise, die Art, wie sie spricht, bestimmt.

Meistgelesen diese Woche:

»Ich war auf einer sehr elitären Schule«, erzählt sie. »Wir sollten jeden Tag Le Monde lesen, aber mich langweilte das. Außer die Todesanzeigen.« Von den Details in den Anzeigen ist sie fasziniert, so einfach und doch so voller Wissen, das man aber nur entschlüsselt, wenn man genau hinsieht. Von Marie zu Claire zu Emmanuelle ändern sich das Sterbealter und der soziale Status, der Name verrät es. »Man sieht auch, wer wen geheiratet hat – und an der Adresse, die darunter steht, erkennt man, in welchem Arrondissement sie leben oder ob sie ausgewandert sind. Manchmal ist es wie ein Familienepos.«

In dieser Geschichte liegt alles, was Sempé mag und nicht mag. Die großen Konzepte, wie die große Politik, reizen sie nicht. Nicht in der Zeitung und nicht beim Entwerfen. Sie mag das Alltägliche, das oft übersehen wird. Sie liebt Strukturen, aber nur jene, die nicht banal und offensichtlich sind, sondern sich verbergen. Sie folgt Vorgaben wie dem Leseangebot einer Zeitung, aber auf ihre eigene Weise, mit ihren eigenen Ideen. Todesanzeigen unterliegen keiner Mode. Ach ja, Mode: noch etwas, was Sempé nicht leiden kann. Trends langweilen sie. »Menschen müssen sich ändern«, sagt sie, »es ist ein tiefsitzendes Bedürfnis. Aber ich möchte nicht Teil dieses ständigen Wandels sein.«

Sempé stöbert gern auf Ebay, ohne je etwas zu kaufen, so wie sie früher über den Flohmarkt Marché aux Puces de la Porte de Vanves geschlendert ist und sich die Objekte angeschaut hat, die einst jemand gebraucht hatte, die dann aber in seltsamen Konstellationen mit anderen Objekten zum Verkauf standen. Die Arbeitsplatte, vor der sie sitzt, ähnelt diesen Flohmarktständen. Darauf: eine Apple Watch – »benutze ich nur, um meine Schritte beim Tennis zu zählen«, »Sauce à la Café de Paris« aus einem deutschen Supermarkt – »Deutsch war mein bestes Fach in der Schule. Ihr habt Regeln. Wir haben Regeln und jede Menge Ausnahmen«, ein paar dunkelblaue Socken – »von meinem Sohn«. Zwei Kinder hat Sempé, eine siebenjährige Tochter und einen Sohn, der bereits 17 Jahre alt ist.

Sempés Leben als Mutter tröpfelt in ihren Arbeitsalltag, in einer Ecke steht ein zusammengefaltetes Reisebett, der Sohn ruft zwischendurch mal an, und die Familie lebt über dem Studio. Doch sie will nicht über sich als Mutter reden. »Nein, meine Kinder inspirieren mich nicht und beeinflussen mich nicht«, sagt sie. »Wäre ich ein Mann oder Metzger, käme auch niemand auf diese Idee.« Dabei ist es ja nicht nur das: Kann man das kreative Leben, das Trudeln zwischen verschiedenen Ländern, Italien, Japan, Skandinavien, wo ihre Auftraggeber sitzen, alles organisiert bekommen? »Wenn man sich den falschen Partner dafür aussucht, hat man natürlich Ärger. Man hat aber ja die Wahl, ob man sich mit dummen Männern zusammentut oder nicht«, sagt sie. Sempés Partner Ronan Bouroullec ist ebenfalls ein sehr erfolgreicher Designer.

Zwei Designer, eine Frau, ein Mann. Wo liegt der Unterschied? Nicht darin, wie ein Objekt konzipiert werde, findet Sempé, sondern darin, wer was gefragt werde. Jemand hat ihr vor Kurzem angeboten, Stickereien zu gestalten. Sie lacht. »Warum sollte ich das tun wollen?« Sempé sagt, Männer teilten die Designwelt auf in das, was sie tun wollen, nämlich das große Ganze, und das, was für Frauen übrig bleibe: kleine Einzelteile. Der Mann entwerfe das Auto, die Form, die Farbe, den Lack; die Frau die Sitze, die Bezüge und die Kopfstützen. »Es hat sich nicht viel geändert: Frauen sollen unsichtbar bleiben, am besten drinnen, im Haus«, sagt sie. Vielleicht produziert sie so unaufgeregtes und trotzdem überraschendes Design: weil ihr Denken nie in so eine Schaukästchen-Form gebracht wurde. Ihre Eltern ließen ihr die größtmögliche Freiheit.

Sempés Mutter, die dänische Malerin Mette Ivers, illustrierte Kinderbücher, unter anderem eine Ausgabe von Ronja Räubertochter. Der Vater – abwesend. Eine weitere Verneinung: »nicht da«. Nur in ihrem Nachnamen steckt die Verbindung zu Jean-Jacques Sempé, dem weltberühmten Zeichner des »Kleinen Nick«. Wenn sie von ihrer Kindheit erzählt, spricht sie trotzdem einheitlich von »meinen Eltern«. »Meine Eltern haben mich beeinflusst. Jedes Kind wird von den Eltern beeinflusst, auch wenn sie gar kein Talent haben.« – »Meine Eltern waren keine Heimwerker oder Bastler. Wir hatten keine Bohrmaschine. Ich habe keine technischen Fähigkeiten von ihnen erlernt.«

Deshalb liebt Sempé Faltungen, für sie braucht man kein Werkzeug. Nur Papier und jede Menge Geduld. Viele ihrer entworfenen Lampen haben Schirme, die an das Auf und Ab selbst gefalteter Fächer erinnern. Schon als Kind mochte sie Papierwaren. Mit ihren Freundinnen streifte sie durch das große Kaufhaus am Ende ihrer Straße und befühlte Quittungsblöcke, Nummernkarten, wie man sie noch in den Wäschereien hat, oder Auftragsbücher. »Alles war sehr altmodisch dort«, sagt sie.

Einen ähnlichen Laden fand sie in der Nähe der Villa Medici in Rom, wo sie im Jahr 2000 lebte. Damals trat sie das erste Mal als eigenständige Designerin in Erscheinung. »Ich wollte immer meine eigenen Entwürfe machen, Herrin über meine Dinge sein, schon nach dem Studium, aber ich war zu schüchtern«, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Selbstmarketing? Nein. Anders als viele ihrer Kollegen reist sie nicht als Rednerin durch die Welt, kuratiert keine Ausstellungen, publiziert keine Bücher. Es drängt sie einfach nicht ins Rampenlicht. Ihr Facebook-Konto lässt sie von einer Assistentin pflegen, ihre Mails beantwortet sie immer noch alle selbst.

In den Neunzigerjahren jobbte sie als Hutmachergehilfin, Modelagenturassistentin, Praktikantin. Sie hat bei dem australischen Designer Marc Newson gearbeitet und für die französische Designerin Andrée Putman entworfen. »Putman machte Fashion für Hotels und Restaurants. Innenarchitektur. Alle wollen immer das Gleiche, und nach fünf Jahren muss alles wieder anders sein.« Sempé schüttelt den Kopf. Ein weiteres »Abgelehnt«. Stattdessen strebt sie nach Langlebigkeit.

Die Lampe »Eclisse« von Vico Magistretti, die 1967 von Artemide hergestellt wurde, war das einzige moderne Designobjekt ihrer Kindheit. Heute steht sie in ihrem Schlafzimmer. »Eclisse« ist eine Lampe, die aussieht wie ein ikonisierter Inuitkopf: Eine halbe Kugel als Schulterpartie, eine zweite als Kapuze, und darin sitzt die Glühbirne als Kopf. Die Kapuze besteht aus zwei halben Kugeln, eine davon kann man vertikal drehen, so lässt sich das Licht modulieren. Es sieht aus wie Mondphasen: Vollmond, abnehmender Mond, fast Neumond.

Sempés Objekte sind ähnlich konzipiert: einfach, aber nicht minimalistisch. Am wichtigsten ist ihr die Funk-tion. Die Materialien, die sie wählt, müssen immer darauf abgestimmt sein. »Ich denke an Körper, wenn ich entwerfe. Jedes Organ, jedes Gelenk, jeder Muskel hat einen Sinn.« Sempés Lampen lassen sich ausziehen wie Akkordeons, ihr Koffer-Prototyp für VIA ist höhenverstellbar und ersetzt jeden Hotelschrank, das Sofa »Enveloppe« hat Kissen, die den Sitzenden umarmen können. Ob sie von einem Männer- oder Frauenkörper ausgeht? »Von einem Körper. Wir Frauen designen nicht anders, weil unsere Körper Rundungen haben«, sagt sie, »wenn Männer Produkte mit weichen Formen entwerfen, nennen sie es organisch.« Es gebe Frauen, die schwere, uneinfühlsame Monolithen entwerfen, und Männer, die feine, zarte Strukturen entwickeln.

Man nehme sie selbst. Gerade hat sie die Lampe »w153« für Wästberg entwickelt. Im Herbst kommt die Lampe auf den Markt. Sie sieht aus wie ein Sonnenschirm, der auf einer kleinen Insel steht. Das Detail, für das sie sich am meisten begeistert, fällt am wenigsten auf: die Klemme am Fuß der Lampe. Wochenlang hat sie getüftelt. Klemmlampen können normalerweise nicht stehen, und ohne einen weiteren Gegenstand, an den sie sich klammern, auch nicht an der Wand hängen. Die »w153« kann das alles. Der Schirm ist zudem über ein magnetisches Gelenk mit dem kleinen Ständer verbunden, so kann man ihn in alle Richtungen drehen. Wer sich diese Lampe kauft, kann umziehen oder seine Wohnung umräumen – die Lampe richtet sich immer wieder neu danach. Klein, aber nicht niedlich. Voller Klugheit, aber niemanden überfordernd. Schön, aber nicht anbiedernd. Auch Sempés Produkte definieren sich durch das, was sie nicht sind. »Gutes Design kennt keine Geschlechter«, sagt Sempé, »nein, ganz und gar nicht.«

Fotos: David Luraschi