SZ-Magazin: Herr Prix, woran denkt ein Architekt, wenn er an Licht denkt?
Wolf D. Prix: Ich denke an La Tourette, das Benediktinerkloster von Le Corbusier. Da gibt es eine Kapelle, die wie ein Ohr aussieht. Vor einer Betonwand steht ein frei geformter Körper. Da drin sind Röhren, die das Licht von außen in den Innenraum führen. Das war mein Erweckungserlebnis.
Wie meinen Sie das?
Als ich das gesehen habe, wusste ich, dass ich Architekt werden will. Es war die wunderbare Vorstellung, Licht einzufangen, es zähmen zu können. Ist das Ihre Berufsbeschreibung eines Architekten?
Lassen Sie es mich anders sagen: Beethoven ist taub geworden und hat trotzdem noch die Neunte geschrieben. Können Sie sich vorstellen, dass ein blinder Architekt ein Haus entwirft?
Wenn er erst spät erblindet ist, vielleicht …
Ich glaube nicht. Das ist der große Unterschied zwischen Ton und Licht, Ohr und Auge.
Mal abgesehen davon, dass Architekten ohne Licht ihren Zeichentisch nicht finden würden: Wie ließe sich die Bedeutung des Lichts für die Architektur beschreiben?
Wenn ich das wüsste, müsste ich keine Häuser bauen! Denken Sie an die Schildbürger, die haben ein Rathaus gebaut ohne Fenster und haben dann verzweifelt versucht, das Licht mit Körben zu fangen. Es geht um psychologische Dinge: Forschungen haben ergeben, dass nichts so viel Stress erzeugt wie Gleichförmigkeit in Räumen. Abwechslung hingegen erzeugt im Gehirn sogenannte Alphawellen. Die fördern das Wohlbefinden. Das heißt: Ein gleichmäßig beleuchteter Raum ist nicht nur langweilig, er stresst.
Liegt das nicht in erster Linie am Raum selbst, wie er gestaltet ist?
Schon, aber mit Licht kann man in jedem Raum Abwechslung erzeugen, sei es mit Tageslicht oder mit Leuchtkörpern. Wir setzen zum Beispiel die Lichtquellen gern so, dass sie am Abend natürliches Licht simulieren. Also eher in Fensternähe.
Warum?
Das haben wir so als Kriterium festgelegt. Wir arbeiten auch viel mit Streiflicht, weil es die Plastizität eines Raums unterstreicht und der Raum zu jeder Tageszeit anders aussieht. In der Falkestraße hier in Wien haben wir bei einem Haus einen Lichtschlitz gebaut, durch den die Sonne nur am Geburtstag des Auftraggebers hereinscheint.
Das haben die Ägypter vor 4000 Jahren auch schon gemacht.
Ein altes mystisches Vokabular, richtig. Man sieht daran: Licht ist nicht nur ein Stilmittel, sondern auch ein Statussymbol.
Von welchem Moment an wird Licht wichtig beim Entwerfen?
Von Anfang an. Wenn Sie ein Museum bauen, müssen Sie zum Beispiel wissen, was da drinhängen soll und wo es hängen soll. Es gibt ja Bilder, die kaum Licht vertragen. Aber das sind nur die technischen Aspekte, es geht um Wichtigeres: Man muss seine Augen als Antennen benutzen. Welches Licht vermag welche Stimmung zu erzeugen? Es heißt ja nicht umsonst: Lichtstimmung. Sie beschreibt ja Gemütszustände.
Was beschäftigt einen Architekten mehr: Tageslicht oder Kunstlicht?
Selbstverständlich das Tageslicht. Es ist der Ausgangspunkt. Wir sind Tagesmenschen. Es ist auch interessanter, weil es so vielfältig ist. Das Weiß leuchtet ja in Sydney anders als in Los Angeles.
Tatsächlich?
Es ist in Los Angeles heller als in Wien, und in Sydney ist es noch greller als in L. A. Ich denke, es hängt mit dem Einfallswinkel der Sonnenstrahlen zusammen, aber auch mit der Reflexion der Farben, die in einem Land vorherrschen. Ich glaube ja auch, dass die Blue Hour in amerikanischen Bars nur eingeführt wurde, weil sich herausgestellt hat, dass die Leute in diesem Licht trinkfreudiger sind. All das muss man als Architekt wissen. Man muss das Licht lesen können.Was lesen Sie denn zum Beispiel im Wiener Licht? Wien hat das Image, eher grau zu sein. Das hängt mit dem Wetter zusammen. Das wird sich ja in Zukunft durch den Klimawandel ändern. Ich nehme an, dass die traurige Stimmung des Wiener Lichts viel dazu beiträgt, dass wir als Wiener das Glas eher halb leer als halb voll sehen. Was beim Heurigen allerdings immer stimmt.
Jetzt wird die Glühbirne vom Markt genommen. Das muss Sie als Wiener ja noch trauriger machen.
Der Verlust des Kerzenlichts war auch schmerzlich. Aber das Leben ging weiter. Allerdings: Kerzen gibt es heute auch noch, die Glühbirne aber wird aussterben. Ich weiß, dass uns was verloren geht, aber Nostalgie bringt uns nicht weiter.
(Lesen Sie auf der nächssten Seite: Ich habe sehr viele verschiedene Lichtquellen: für den Tag große Fensterflächen, am Abend eine Mischung aus Industrielicht, Glühbirnen, Halogenleuchten. Ich halte die Variationen der Beleuchtung für sehr wichtig.)
Beeinflusst dieser Technikwandel Ihre Arbeit?Architekten müssen immer neue Antworten auf neue Techniken finden.Wie könnten die aussehen?
Ich traue mir zu, einen Leuchtkörper zu entwickeln, der ein intimes, warmes Licht macht. Also das zurückgibt, was uns durch die kalte Energiesparlampe verloren gegangen ist. Ich glaube auch, dass neue Lichttechniken den Charakter des Raumes verändern werden. Die Frage ist: Wie beherrsche ich das? Sage ich: Oh, Gott! Oder nehme ich das als Ausgangspunkt neuer Überlegungen?
Schon mal eine Lampe entworfen?
Natürlich. Erst kürzlich. Sie heißt »Schilda« und besteht aus einem eisernen Prisma mit einem Deckel. Wenn man den Deckel öffnet, geht das Licht drinnen aus.
Sie haben das Licht gefangen, wie Le Corbusier.
Zumindest in diesem Falle ist mir das gelungen, ja.
Wie sieht es bei Ihnen zu Hause aus?
Ich habe sehr viele verschiedene Lichtquellen: für den Tag große Fensterflächen, am Abend eine Mischung aus Industrielicht, Glühbirnen, Halogenleuchten. Ich halte die Variationen der Beleuchtung für sehr wichtig. Man braucht allgemeines Licht und Lichtpunkte, die einen anregen. Es ist ja auch nicht gut, wenn in einer Wohnung überall gleiches Licht oder gleiche Temperatur herrscht. Das gilt übrigens auch für Farben.
Sie haben mal gesagt: "Die Architektur hat so zu reagieren, dass wir in ihr Leben wollen, nicht umgekehrt." Wie muss sie denn auf die Herausforderungen der Gegenwart reagieren?
Als ich das gesagt habe, ging ich davon aus, dass der Raum durch das Befinden des Menschen gesteuert wird. Wenn ich zum Beispiel müde bin, sollte mich ein Raum entspannen, im besten Falle auch ohne mein Zutun.
Hört sich nach Science-Fiction an.
Wir haben früher Installationen gebaut, die das angedeutet haben: ein Haus, das grüßt; ein Raum, der auf den Herzschlag des Menschen reagiert. Dass ein Raum nicht nur statisch, sondern auch dynamisch sein kann, das war damals unser Credo: Architektur, veränderbar wie Wolken.
Es ist ein sehr menschenfreundliches Credo. Ihre Prestigebauten wie zum Beispiel die BMW Welt in München hingegen sehen aus wie gelandete Raumschiffe: bizarr, futuristisch und nicht sehr gemütlich.
Das sagen alle die, die diese Räume nicht persönlich erlebt haben. Wenn die BMW Welt ein ungemütlicher Raum wäre, wie erklären Sie sich dann über drei Millionen Besucher, die schon dort waren?
Von Ihnen stammt auch der Satz: "Architektur muss brennen!" Ist für Sie die Architektur die Fackel, die uns den Weg in die Zukunft weist?
Ja, sicher. Und die Stadt ist die mentale Landkarte des Raumes, in dem wir uns bewegen. Je profilierter und beschreibbarer diese Landkarte ist, umso mehr kann ich sie emotional in Besitz nehmen. Das Gleiche gilt für Wohnungen: Je differenzierter ich sie gestalte, desto mehr kann ich sie emotional in Besitz nehmen. Ich denke also, dass wir differenzierte, ja ikonenhafte Gebäude brauchen, damit unsere mentale Landkarte nicht verödet.
Der ikonenhaften Stararchitektur wird aber auch Kritik entgegengebracht: Sie sei narzisstisch, menschenfern und unmoralisch.
Ich sehe in dieser Kritik nur Missgunst, Unterstellung und Eifersucht. Was schauen sich denn die Menschen in Wien an? Den Stephansdom, Schönbrunn … Ikonen! Selbst für Wiener ist der erste Bezirk mit seinen Ikonen das Wien schlechthin. Warum soll das nicht möglich sein in Zeiten wie unseren: neue Ikonen zu bauen? Es wäre ein Armutszeugnis unserer Kultur, wenn sich die Architektur, die ja der dreidimensionale Ausdruck der Kultur ist, nur in funktionalen Kisten erschöpfen würde.
Ist Architektur also auch Kunst? Steht sie über moralischen Fragen?
Die Metaebene der Architektur, die weit über das Bauen hinausgeht, beinhaltet die Verpflichtung, sich mit der Fortentwicklung ästhetischer Begriffe zu beschäftigen. Dazu gehört auch Form. Architekten müssen strategisch in die Zukunft denken, sonst bleiben sie Erfüllungsgehilfen der Gegenwart.
Spielt es eine Rolle, ob man für Auftraggeber in Wien, Dubai oder China baut?
Ich finde es lächerlich, wenn man Rem Koolhaas oder Herzog & de Meuron zum Vorwurf macht, dass sie für chinesische Auftraggeber bauen. Das ist so, als würde man den Architekten der Renaissance vorwerfen, sie hätten für das autoritärste, grausamste Regime, die katholische Kirche, gebaut. Diese großartigen Gebäude werden bis heute bewundert. Mir geht es um gleiche Augenhöhe. Wenn ich in China verwirklichen kann, was technisch, ökologisch, formal einen Anspruch erhebt, der uns auch gesellschaftlich weiterbringt, dann ist das legitim.
Würden Sie im Iran bauen?
Eher nicht.
Weil Sie sich nicht sicher fühlen dort oder aus politischen Gründen?
Das eine hängt mit dem anderen zusammen.
Das Thema Licht hat in der Architektur auch eine ökologische Seite. Interessiert Sie die?
Schon, wobei ich das Wort »Nachhaltigkeit« nicht mag, weil es ein kapitalistischer Begriff ist. Er legt ja immer den Nutzen nahe, und am Ende läuft es auf ewiges Wachstum hinaus. Ich halte es für die Aufgabe der Architekten, eine neue Ästhetik zu entwickeln, die umweltgerechtes Bewusstsein widerspiegelt. Und ich denke da nicht an Isolierung, sondern an Gebäude, die zum Beispiel mehr Energie erzeugen, als sie verbrauchen. Das bringt naturgemäß eine eigene Ästhetik mit sich, die neue, fremde Begriffe einführt.
Wäre Dubai ein Beispiel dafür?
Rem Koolhaas hat mal gesagt, das wird die Stadt, die Gesellschaft der Zukunft. Ich war gerade dort und habe sie als dümmste aller Städte erlebt. Von schlechten Planern geplant, ohne intellektuellen Background, ruhend auf einer Spekulationsblase. Da sehe ich nichts Neues.
Wenn man sich Städte wie Wien so anschaut, wird man das Gefühl nicht los, dass es bei uns sehr lange dauern wird, bis sich solche neuen Begriffe durchsetzen.
Ich sage Ihnen auch, warum: weil die Infrastruktur und die Substanz alter europäischer Städte vom reichen Bürgertum so reich gebaut worden sind, dass es kein Bedürfnis gibt, da was zu verändern.
Ernüchternd für Avantgardisten wie Sie, oder?
Nicht wirklich. Es gibt ja städtebauliche Strategien, wie man das umgeht: Man muss zu den alten Kernen neue Zentren schaffen, und in diesem Spannungsfeld zwischen Alt und Neu können sich Städte erneuern.
Welcher Architekt hat Ihrer Meinung nach das Licht am besten verstanden?
Le Corbusier und später Oscar Niemeyer. Beide haben plastisch und skulptural gedacht und unverwechselbare Gebäude geschaffen. Das Bauhaus hingegen ist protestantische Architektur. Licht beim Bauhaus war: ein Fenster – und abends macht man den Vorhang zu.
Thomas Bärnthaler hat sich vor dem Interview mit Wolfgang Prix sowohl die BMW Welt als auch den Akademiebau von Coop Himmelb(l)au in München angeschaut.
Der schönste Lichtfang Münchens bleibt für ihn aber nach wie vor die Herz-Jesu-Kirche von Allmann Sattler Wappner im Stadtteil Neuhausen.
Foto: Peter Rigaud