Höher, Keller, Weiter

Hat es irgendeine Institution verdient, das Bauhaus der Gegenwart genannt zu werden? Aber ja: Die Schweizer ECAL ist die spannendste Designschule der Welt – weil hier ein kreativer Diktator seine Leute zu Rekorden treibt.

Wenn Pierre Keller, der Direktor der Kantonalen Kunstschule Lausanne (ECAL) in der Schweiz, über seine Schule spricht, dann redet er viel von sich. Er sagt zum Beispiel: »Ich kontrolliere alles. Sind am Morgen die Aschenbecher vor der Schule nicht geleert, merke ich das.« Seine hochfahrende Stimme hallt dabei durch sein saalgroßes Büro. Um seinen Sätzen Nachdruck zu verleihen, schlägt er häufig mit der Hand auf den Tisch. »Ich habe diese Schule quasi allein aufgebaut. Aber ich bin gern Chef. Dafür werde ich ja schließlich bezahlt.« Bamm. Bamm. Bamm.

Pierre Keller, 64, ist klein, untersetzt und doch ein Mann wie ein Ausrufezeichen. Dicke Silberringe an den Fingern, stechende Augen hinter seiner Nickelbrille, das Hemd hängt aus der Hose. Vom Typ her irgendwo zwischen Jean Gabin und Louis de Funès. Sein Modus: immer auf Angriff geschaltet. Vor mehr als 14 Jahren haben sie ihm den Posten angeboten. Die ECAL war damals, 1995, eine kleine Schule im schönen Lausanne, außerhalb der Schweiz praktisch unbekannt. Sie schlief vor sich hin und drohte etwas Wichtiges zu verschlafen: Der Designboom der Achtzigerjahre hatte aus einem unscheinbaren Beruf eine Profession mit Glamour und scheinbar unbeschränkten Möglichkeiten gemacht.

Desig­ner, das waren nicht länger Italiener in schwarzen Rollkragenpullis, die einen Stuhl zeichnen, wie Philippe Starck einmal höhnte. Sie konnten plötzlich Stars werden, viel Geld verdienen und ihrem Land Renommee einbringen. Das war auch in der Schweizer Politik angekommen. Keller sollte es richten.

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Heute ist die ECAL selbst der Star unter den Designschulen Europas. »An ihr kommt man nicht vorbei, weil sie als Schule das Design selbst weitertreibt, hier werden die großen Designer von morgen ausgebildet«, sagt Didier Krzentowski, Leiter der einflussreichen Pariser Design-Galerie Kreo. 150 Studenten, überwiegend Schweizer, hatte die ECAL, als Keller antrat, heute sind es mehr als 500, und sie kommen aus der ganzen Welt: Briten, Chinesen, Südamerikaner.

Ihre Studienarbeiten werden in Museen in Tokio, Shanghai und Los Angeles gezeigt, und auf der Mailänder Möbelmesse zählt die jährliche Ausstellung der ECAL mittlerweile zu den Pflichtterminen. All das, so heißt es einhellig, ist das Werk von Pierre Keller. Manche vergleichen ihn schon mit Walter Gropius.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die ECAL, das bringt es vielleicht auf den Punkt, ist eine Schule, in der man T-Shirts kaufen kann, auf denen »Lucky Pierre« in goldenen Lettern steht.)

»Die ECAL hat alle Symptome einer Monarchie – mit einem König, herumschwirrenden Höflingen, Vasallen, Hofnarren und dem Fußvolk«, sagt der Züricher Grafikdesigner Cornel Windlin. Für den Pariser Designer Ronan Bouroullec, der seit vielen Jahren in Lausanne lehrt, ist »die ECAL keine Demokratie, sie ist eine Diktatur«. Die ECAL, das bringt es vielleicht auf den Punkt, ist eine Schule, in der man T-Shirts kaufen kann, auf denen »Lucky Pierre« in goldenen Lettern steht.

Das Bauhaus stand für die gute Form, wofür steht die ECAL? »Die ECAL ist tief verwurzelt in der Realität«, sagt John Armleder, Schweizer Künstler und Gastdozent der ersten Stunde. »Sie versteckt sich nicht hinter pompösen intellektuellen Programmen.« Pierre Keller mag ein großes Ego haben, Sendungsbewusstsein geht ihm ab.

Er ist ein Macher, kein Intellektueller: »Eine Schule ist eine Schule. Die Verbesserung der Welt gehört nicht zu unseren Hauptbeschäftigungen. Ich sehe mich keiner Tradition verpflichtet. Internationalität und ein gesundes Maß an Verrücktheit – das ist unsere Stärke.« Paola Antonelli, Designchefin des Museum of Modern Art in New York, nennt Keller einen »Tornado der Ideen«. Aus der ECAL hat er einen riesigen bunten Spielplatz für Kreative gemacht, das ist ihm Philosophie genug.

Und so entstehen an der ECAL Pantoffeln aus Stroh, Hängeleuchten aus Eternit, ein Vogelhaus in Form eines Beils, eine Jeans mit Tasche im Schritt und ein schwarzer Melkstuhl, dessen Fuß einem erigierten Penis nachgebildet ist. Der Melkstuhl stammt von Keller.

Geboren wird Pierre Keller 1945 in Gilly, einem kleinen Dorf zwischen Lausanne und Genf. Seinen Wehrdienst leistet er als Trompeter in der Soldatenkapelle ab. Mit 20 geht er nach Genua, arbeitet für Olivetti. 1967, nach seinem eigenen Abschluss an der ECAL, verschlägt es ihn nach London. »Um ein bisschen Englisch zu lernen.« Danach zieht er für zehn Jahre nach New York, trifft den Fotografen Robert Mapplethorpe und den Künstler Basquiat, verkehrt in der Factory von Andy Warhol, wohnt bei Christo, fotografiert mit Nan Goldin und entwirft mit Warhol und Keith Haring Plakate.

1983 vertritt er die Schweiz auf der Biennale in São Paulo. Vier Jahre später kehrt er zurück in seine Heimat. Pierre Keller, nicht verheiratet, keine Kinder, hat im Lauf seines Lebens ein imposantes Netzwerk gesponnen. Es ist noch größer als sein Ego. Es verleiht seinem polternden Wesen Autorität.

Die brauchte er bereits, als er antrat: »Ich hatte 1995 die ganze Kommission gegen mich, aber der Minister hat mich einfach durchgesetzt«, erzählt Keller. »Dann habe ich gesagt: Ihr habt verloren, ich habe gewonnen. Wem das nicht passt, der kann gehen!« Und viele Lehrer sind gegangen. Es war ein Putsch, keine freundliche Übernahme. Er besetzte die Schaltstellen der Schule mit jungen Leuten, ließ ein neues Gebäude bauen und sein Adressbuch spielen.

»Lausanne ist eine kleine Stadt, internationale Studenten kommen nicht freiwillig hierher. Also habe ich die Welt nach Lausanne geholt.« Sein Ruf blieb nicht unerhört: Yves Béhar aus Kalifornien, Jasper Morrison aus London, Fernando und Humberto Campana aus Brasilien, Konstantin Grcic aus München, Nan Goldin aus New York, ja sogar Phil Collins – sie alle haben schon an der ECAL gelehrt. Nur einer ziert sich noch: Ingo Maurer, berühmtester Lampendesigner der Welt. »Den krieg ich auch noch!«, ruft Keller. Bamm.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Student entwarf bereits im ersten Jahr eine schraubbare Tülle. Sie macht aus jeder Flasche eine Gießkanne. Das Ding kam in Italien und den USA auf den Markt. 350 000-mal ging es mittlerweile über den Ladentisch.)

2005 zog die ECAL in ihr neues Gebäude, eine ehemalige Fabrik für Damenstrumpfhosen im Stadtteil Renens, mitten im aufstrebenden Industriegürtel, der sich rund um den Genfer See zieht. Viele große Konzerne sitzen hier: Procter & Gamble, Yahoo und Nestlé. Die Nähe zur Industrie pflegt man an der ECAL wie einst im Bauhaus, wenn auch aus eher pragmatischen Gründen: »Meine Studenten sollen arbeiten, wenn sie hier fertig sind. Ich will niemanden in die Arbeitslosigkeit entlassen.«

Schon während der Ausbildung knüpfen die Studenten Kontakte zu Firmen wie Coca-Cola, Vitra, B & B Italia oder Louis Vuitton. Gute Ideen sollten nicht in Mappen verschwinden. Ein Student entwarf bereits im ersten Jahr eine schraubbare Tülle. Sie macht aus jeder Flasche eine Gießkanne. Das Ding kam in Italien und den USA auf den Markt. 350 000-mal ging es mittlerweile über den Ladentisch.

Kontakte, Bewerbungsgespräche, Gastdozenten, Ausstellungen – Pierre Keller kümmert sich um alles persönlich. Er ist ein Perfektionist, auch wenn er sagt, dass er sich in zwei Jahren in sein Haus, ein ehemaliges Weingut in den Rebbergen in St-Saphorin, zurückziehen wird. Und wenn er Besucher durch seine Schule führt, dann hat das etwas von einem Kontrollgang. Studenten, die ihm begegnen, begrüßt er per Handschlag, der Ton ist locker, solange nichts seinen Unmut erregt.

So wie das Fitzelchen Papier, das in einer Ecke liegt. Er hebt es kopfschüttelnd auf und steckt es weg. Vor einem Lehrsaal stehen ein paar Stuhlprototypen auf dem Gang herum. Kopfschütteln. Schon eilen Studenten herbei, um aufzuräumen. Als er die Tür zu einer kleinen Dunkelkammer öffnet, gerät er außer sich. Jemand hat eine neue Lampe an die Wand geschraubt, die nicht zu den anderen passt. Verwünschungen hallen durch die Gänge. Keller wird seine Tour um einen Schlenker zur Werkstatt erweitern, um ein paar Handwerker zusammenzufalten: »Muss man denn hier alles selber machen?« Pierre Keller erwartet nicht wirklich eine Antwort auf diese Frage.