Der Wind pfeift kalt, die Wolken drücken, als auf dem Pausenhof der Grund- und Mittelschule Falkenstein im Bayerischen Wald eine Epoche zu Ende geht.
»Man wird sich an Sie erinnern wie an die Menschen, die ’89 beim Fall der Mauer dabei waren«, beschwört Oberstleutnant Andreas Pickel den historischen Augenblick. Doch hinter dem Oberstleutnant kleben an den Fensterscheiben der Schule bunte Papierblumen, auf der anderen Seite des Platzes hat sich eine Deutschlandfahne am Mast verheddert. Dann deckt ein Windstoß auch noch die Plastikplane ab, die die Gäste auf der Ehrentribüne vor Regen schützen soll. Nichts an diesem Nachmittag im März 2011, an dem Wehrpflichtige geloben, »der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen«, wirkt feierlich.
Dabei gehören sie zu den Allerletzten, die nach Paragraf 12a des Grundgesetzes zur Bundeswehr eingezogen worden sind. Nach ihnen wird es nur noch Freiwillige geben. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt, so hat es die schwarz-gelbe Regierung beschlossen. Damit verschwindet eine Institution, die über fünfeinhalb Jahrzehnte das Volk in Bundis und Zivis gespalten hat, ideologisch so besetzt wie früher einmal die Entscheidung für CDU oder SPD. Damit verschwindet die Musterung als Teil jeder Männerbiografie, die Beklemmung, sich vor Autoritätspersonen ausziehen zu müssen, der peinliche Griff zu den Hoden; die Tricks, mit denen man sich einen schnellen Puls oder eine aschfahle Gesichtsfarbe zulegte, braucht jetzt endgültig keiner mehr. Rund 8,4 Millionen deutsche Männer haben seit 1956 den Dienst am Vaterland angetreten.
Sie sollten im Ernstfall die Truppen des Warschauer Paktes am Durchbruch hindern (wie lange ihnen das gelingen würde, war Thema vieler banger Überlegungen) und im Friedensfall »Staatsbürger in Uniform« sein, so lautete das Leitbild der Bundeswehr nach der deutschen Wiederbewaffnung. Keine willenlosen Befehlsempfänger, sondern eingebunden in die Gesellschaft und von dieser getragen, Söhne des Landes, die aus tiefster Überzeugung handelten, der »inneren Führung« folgend, nicht mehr wie einst den Kommissköpfen und Schindern, die ihr Menschenmaterial in die Schützengräben hetzten. Zum Selbstverständnis gehörte es auch, dass die Wehrpflicht allen auferlegt war, den Bürger- wie den Arbeiterkindern, eingezogen nur für den unwahrscheinlichen Verteidigungsfall des Frontstaates Deutschland. Es klang nicht wirklich nach Krieg, wie auch alles andere in der Bundesrepublik nicht, es klang fast so, als hätte man sogar als Pazifist mitmachen können, und falls man nicht wollte, konnte man entweder nach West-Berlin umziehen, auf das die Bundeswehr keinen Zugriff hatte, oder Ersatzdienst leisten, nachdem man einer Kommission dargelegt hatte, dass man selbst im äußersten Notfall (»Stellen Sie sich vor, Ihre Freundin …«) nicht zu Waffengewalt Zuflucht nehmen wollte. Es war vielleicht das Seltsamste an der alten Bundeswehr: Sie erschien sowohl ihren Befürwortern als auch ihren Gegnern weniger als politisches Instrument denn als moralische Institution – eine Einrichtung, die dazu zwang, die eigene Position zu Krieg und Frieden, Vaterlandsliebe und Dienst am Gemeinwohl zu klären und zu bekunden.
Doch was bedeutet es überhaupt, heute Wehrdienst zu leisten, auf den letzten Drücker? Sitzen da nicht nur ein paar Jungs ihre Zeit ab, die es nicht geschafft haben, sich ausmustern zu lassen? Sechs Monate dauerte der Wehrdienst zuletzt noch – zusammengesetzt aus drei Monaten Allgemeiner Grundausbildung, der sogenannten AGA, und drei Monaten Dienst. In den Sechzigerjahren waren es noch anderthalb lange Jahre, eine Ewigkeit für junge Männer.
Wir haben drei der letzten Wehrpflichtigen über ihre sechs Monate begleitet: Stefan, Nico und Markus. Sie sind dabei, als auf dem Pausenhof der Grund- und Mittelschule Falkenstein die Plane von der Ehrentribüne weht, doch ihre gemeinsame Zeit bei der Bundeswehr hat – wie im Wehrdienst üblich – drei Monate vor dem Gelöbnis begonnen: im Januar 2011, in der Arnulf-Kaserne im ostbayerischen Roding, Gebäude 5, Zimmer 104.
Stefan, Nico und Markus stehen zwischen den Stockbetten in ihrem neuen Zuhause und tragen Unterhose und weiße Socken. Es ist der dritte Tag ihrer Ausbildung, und sie lernen gerade, sich richtig anzuziehen: die schwarzen Turnschuhe zur kurzen Sporthose, das rote Barett zum grauen Ausgehanzug. In der Welt, in der sie nun leben, gelten andere, merkwürdige Gesetze: Laut Zentraler Dienstvorschrift darf ihr Haar »bei aufrechter Haltung des Kopfes weder Uniform- noch Hemdkragen berühren«. Sie sind dazu verpflichtet, ihre Gesundheit »weder vorsätzlich noch grob fahrlässig« zu beeinträchtigen. Und in ihren Kleiderschränken müssen die blauen T-Shirts direkt über der Kleiderstange mit dem Mantel auf DIN-A4 gefaltet liegen, nirgendwo sonst. Mit der Bundeswehr war es immer ein bisschen wie mit Lothar Matthäus – es ist leicht, sich über sie lustig zu machen.
Zwar hatte der Presseoffizier an diesem Morgen versichert, dass es für viele Rekruten eine Ehre sei, zu den letzten Wehrpflichtigen zu gehören – aber wären Stefan, Nico und Markus nicht gern ein Jahr später geboren, um dem Umweg Bundeswehr zu entgehen? »Also, ich sehe die Zeit hier als Erfahrung fürs Leben«, sagt Stefan. Er ist 21 Jahre alt, ein großer, kräftiger Mann, der viel redet und laut lacht. Eigentlich arbeitet er in Nürnberg als Kfz-Mechatroniker in einer Autowerkstatt, doch nun spielt er mit dem Gedanken, sich länger zu verpflichten.
Nico, 20, wäre dagegen fast nicht mehr hier. Am ersten Tag musste er beim Truppenarzt auf die Waage: 94,5 Kilogramm, nur 500 Gramm mehr und er wäre nachträglich ausgemustert worden. »Da hab ich mir schon gedacht: Hätte ich morgens mal zwei Leberkässemmeln mehr gegessen«, sagt er und grinst. Als Jugendlicher hat Nico oft im Fitnessstudio trainiert, aber dann kam der Beruf. Nico ist Koch. Er hat in einem Gasthof in seiner Heimatstadt Regensburg gelernt. 650 Plätze mit Biergarten, viel Arbeit, wenig Bewegung, an manchen Tagen hat Nico 120 Kilogramm Spargel geschält. Von fünf Lehrlingen war er der Einzige, der durchgehalten hat. Er wirkt zwar gemütlich, aber Nico kann sich durchbeißen.
Auch Markus, 19, wäre gern um die sechs Monate herumgekommen, aber er wollte sich nicht ausmustern lassen, wegen seiner Bewerbung bei der Polizei. Wie hätte das ausgesehen? Markus ist der schweigsamste auf dem Zimmer und der Einzige, der keine Ausbildung, sondern Abitur gemacht hat. Stefan und Nico nennen ihn später das »Lexikon«, weil er die Dienstgradabzeichen am schnellsten auswendig weiß und Science-Fiction-Romane auf Englisch liest. Noch nie ist er von einem Chef zusammengestaucht worden, an den scharfen Ton der Vorgesetzten hier muss er sich erst einmal gewöhnen.
»Auf dem Flur in Linie antreten!«, hallt die Stimme von Oberfeldwebel Frank Westergerling in ihr Zimmer hinein. Stefan, Nico und Markus rennen polternd vor die Tür, im grauen Ausgehanzug wie die anderen 51 Rekruten in ihrem Ausbildungszug. »Die Daumen liegen an, die Hände sind gestreckt, die Hacken zusammen«, bellt der Oberfeldwebel. Westergerling ist ihr Gruppenführer, Ausbilder und Vertrauensperson in einem. Er sei »hart, aber fair«, sagen später Nico und die anderen. Wenn sie strammstehen, dürfen sie dem Oberfeldwebel nicht in die Augen schauen, selbst wenn er mit ihnen spricht, der Blick bleibt geradeaus – eine merkwürdige Welt.
Februar
Vier Wochen später, im Februar, nimmt Stefan auf dem Schießplatz der Arnulf-Kaserne einen Kreis aus Pappe ins Visier. Ein Nebelwölkchen schießt aus seinem Mund, dann rattern vier Schuss durchs MG und lassen den Sand hinter der Zielscheibe spritzen. Der Geruch von Silvester dampft in der Luft.
Stefan springt von der Isomatte auf und klopft sich den Schnee von der Hose. Das MG3 hat einen so starken Rückstoß, dass man es im Liegen abfeuert. »Du musst dich voll mit dem Oberkörper reinlegen«, erklärt er Markus, dem die Nase läuft. Nico ist heute nicht mit dabei, er hat etwas Falsches gegessen und ist nun »krank auf Stube«. Stefan hat bisher keinen einzigen Tag gefehlt, »trotz Grippe«, wie er sagt. Von den vier Schuss hat er zwei auf die Scheibe gebracht, und damit als einer der wenigen die Übung auf Anhieb bestanden. Er freut sich darüber wie ein Schüler über eine Eins – für Stefan ist es gerade eine gute Zeit.
Er will nun SaZ werden, Soldat auf Zeit, für acht Jahre. »Ich seh da vor allem die Aufstiegsmöglichkeiten und die Sicherheit. Draußen kannst du jederzeit gekündigt werden«, sagt er. Bei der Bundeswehr würde er 400 Euro mehr verdienen und könnte nebenbei seinen Kfz-Meister machen. Stefan möchte etwas erreichen in seinem Leben. Etwas Vorzeigbares. Schon vor einem Jahr ist er von zu Hause ausgezogen, er wohnt jetzt mit seiner Freundin zusammen, Wohnzimmer, Schlafzimmer, sechzig Quadratmeter, sie suchen gerade etwas Größeres.
Bisher konnte die Bundeswehr vierzig Prozent ihrer SaZler und FWDLer, das sind die freiwillig Wehrdienstleistenden, aus dem Heer der Wehrpflichtigen rekrutieren. Nun, da es keine Wehrpflicht mehr gibt, ist die Sorge groß, dass sich nicht genügend junge Menschen für den Dienst an der Waffe begeistern werden. Für die kommenden Monate ist deswegen eine Werbekampagne geplant, Kosten: 4,8 Millionen Euro; Motto: »Bundeswehr – Karriere mit Zukunft«. Auf den Fotos der Werbebroschüren strahlen junge Männer und Frauen, auf bild.de gibt es eine umfangreiche Ratgeberseite, ein Scharfschütze erzählt da von den Vorteilen seines Jobs: »Der Verdienst ist vor allem durch den Auslandseinsatz sehr gut.«
Die Bundeswehr muss sich wandeln: von einer Institution, die automatisch in die Lebensläufe junger Männer eingreift, zu einem Arbeitgeber, der im Konkurrenzkampf mit anderen Unternehmen besteht.
»Schütze Gernhart!«, ruft einer der Ausbilder.
»Jawohl!«, antwortet Stefan.
Er soll die Isomatten ausklopfen, die Übung ist beendet, es wird abgebaut. Stefan grinst: »In den ersten Tagen habe ich immer noch ›Okay‹ gesagt. Aber nun kommt nur noch: ›Jawohl!‹ Auch bei Lidl an der Kasse: ›Das macht 13,24 Euro.‹ – ›Jawohl!‹«
März
Sechs Wochen später, im März, geht Nico hinter einer großen Kiefer in Deckung. Von hier aus hat er einen guten Blick auf die Wiese vor ihm: ein paar Büsche, ein kleiner Hügel, ein Bachlauf – Nico scannt das Gelände nach Verstecken ab. Dann läuft er los, schleicht ein Stück, robbt ein Stück, wie früher beim Cowboy-und-Indianer-Spiel.
Es ist der erste Tag des Biwaks, einer Geländeübung im Wald hinter ihrer Kaserne, und auch abends noch am Lagerfeuer lodert Klassenfahrtstimmung. Neben Nico, Stefan und Markus sind noch sechs andere Rekruten in ihrer Gruppe. Erst sprechen sie über die Autos ihrer Väter, dann über eine unglaubliche Doku-Show auf dem Männersender DMAX. Ein ehemaliger britischer Elitesoldat zeigt da, wie man sich nachts in der Wüste in einem ausgeweideten Kamel wärmt. Ein anderes Mal legt er sich mit dreckigem Wasser einen Einlauf, um auf hoher See nicht zu dehydrieren. Jeder kennt eine noch krassere Episode. Morgen ist die große Prüfung am Ende der AGA, doch in die kleinen Zelte, in die »Dackelgaragen«, möchte noch niemand kriechen.
Punkt 23 Uhr muss Nico in den Alarmposten vorne am Waldrand, ans MG. »Wenn du eine Stunde in dieses Mondlicht guckst, siehst du überall Feinde«, sagt er. Die Zeit bei der Bundeswehr gefällt ihm mittlerweile immer besser, sie ist für ihn, was für andere der Rucksackurlaub ist: ein Abenteuer, Abwechslung vom Schnitzelklopfen und Cordon-bleu-Panieren. Nico hat abgenommen, zwölf Kilo. Jeden Tag werden ihm neue Aufgaben gestellt. Er kann sich messen: mit seinen Stubenkameraden, mit den anderen Gruppen des Ausbildungszugs. »Oberfeldwebel Westergerling hat uns gesagt, dass er immer die beste Gruppe hatte. Das wollen wir wieder schaffen«, sagt er. Die Bundeswehr weckt in Nico den Ehrgeiz. Wie Stefan will auch er sich nun länger verpflichten – für vier Jahre.
Beide müssen als SaZler, Soldaten auf Zeit, damit rechnen, nach Afghanistan geschickt zu werden. Dort wurden erst vor wenigen Tagen drei deutsche Soldaten bei einem Anschlag erschossen. Die drei kamen aus der Bayerwaldkaserne, nur vierzig Kilometer von Roding entfernt, einer der Getöteten war 21 Jahre alt, wie Stefan.
»Ich habe da immer die Statistik im Kopf«, sagt Nico. »Wie viele Soldaten nach Afghanistan gehen und wie vielen etwas passiert. Da muss man hoffen, dass man das Glück auf seiner Seite hat.«
»Berufsrisiko«, sagt Stefan. »Ich kann doch auch hier auf der Straße überfahren werden, auch wenn der Vergleich vielleicht nicht ganz passt. Aber sein Leben kann man überall verlieren.« Mit ihren Ausbildern haben sie kaum über den Anschlag gesprochen. »Das ist ein schwieriges Thema«, sagt Oberfeldwebel Westergerling und kommt zum ersten Mal ins Stocken. »Niemand redet gern über den Tod.«
Die Umwandlung der Armee von einem Wehrpflichtigen- zu einem Freiwilligenheer geschieht genau in jenem historischen Augenblick, in dem sich Deutschland endgültig nicht mehr einreden kann, dass es keine Kriege führt. Die Todesnachrichten aus Afghanistan kommen immer häufiger, doch die Debatten darüber sind eher pflichtschuldig bemüht als besorgt und leidenschaftlich. Niemand redet gern über den Tod, natürlich. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass schon heute jeder Soldat, der in Afghanistan unterwegs ist, sich freiwillig für die Bundeswehr entschieden hat. Betreten auf eigene Gefahr. Die Nacht bleibt ruhig, kein Feindkontakt, am nächsten Morgen sehen Nico und die anderen trotzdem ziemlich gebeutelt aus. Kaum einer hat geschlafen, und vor ihnen liegen noch sieben Stunden Geländemarsch. Ein Bus fährt sie vom Truppenübungsplatz zwanzig Minuten hinaus in die zivile Welt. Ihre erste Aufgabe ist es, in einem kleinen Dorf ein Holzkreuz zu finden. Ein Hund bellt im Zwinger, ein Schulbus fährt an den Rekruten vorbei, die Kinder schauen herab auf die mit Tarnschminke geschwärzten Gesichter. Vom Holzkreuz aus sollen sie 1250 Meter der Kompasszahl 63 folgen, was ungefähr Norden ist. Doch sie verlaufen sich und brauchen mehr als eine Stunde für den kurzen Weg. Nico und die anderen wirken jetzt wie zehn Null-Bock-Teenager: Kaum jemand sagt noch etwas, alle blicken zu Boden. Genauso hatte man sich die letzten Wehrpflichtigen vorgestellt. Bis plötzlich jemand schreit: »Hilfe! Mein Bein!! Mein Bein!!!«
Markus schmeißt sich ins Gras und sichert die Flanke nach Norden. Die Schulterstütze seines G36-Sturmgewehrs schmiegt sich in die kleine Kuhle zwischen Oberarm und Brustkorb, das Fernrohr ragt ein paar Millimeter unter seinen Helm. Es sieht fast so aus, als sei das Gewehr mit ihm verwachsen – eine faszinierende Verlängerung des eigenen Körpers.
Nico und Stefan ziehen den Mann, der da so schreit, aus dem Gebüsch. »Ist Ihnen schlecht? Haben Sie Kopfschmerzen?«, redet Stefan auf ihn ein. Der Mann hat keine Schmerzen, er ist ein SIDAF, ein Soldat in darstellender Funktion, ein Schauspieler. Die Rekruten wuchten ihn trotzdem auf eine Trage. Markus packt rechts an, Nico links, vor ihnen Stefan, so stapfen sie einen Hügel hinauf, einen Kilometer über matschiges Gras, Schritt für Schritt, Zentimeter für Zentimeter. Und etwas verändert sich auf diesem Weg: Oben angekommen schweigen sie zwar noch immer, aber niemand blickt mehr zu Boden. Die Anstrengungen und Qualen haben aus Null-Bock-Teenagern stolze Wehrpflichtige gemacht. So funktioniert die Bundeswehr. Und als einen Kilometer vor ihrem Feldlager eine Leuchtrakete über ihnen explodiert und Oberfeldwebel Westergerling schreit: »ABC-Alarm!«, reißen sie ihre Gasmasken aus den Koppeltaschen, ziehen sie über ihre Köpfe und rennen los, nach Luft saugend, bis vor ihre Zelte. Selbst der Regen, der abends einsetzt, kann ihnen nun nichts mehr.
Mai
Acht Wochen später, im Mai, fällt als Erstes der Fernseher auf. Er thront mitten im Zimmer auf einer leeren Getränkekiste, davor ein plattgesessenes Sofa. Seit die dreimonatige Grundausbildung vorbei ist, sind private Möbel und Feierabend-Entertainment auf Stube erlaubt. »Zu Beginn wollte ich schon ein paar Mal weg«, sagt Markus, »aber jetzt ist es echt in Ordnung hier.«
Sein Tag dauert nicht mehr von fünf bis 23 Uhr, sondern von sieben bis Viertel nach Vier. In die Dienstzeit fällt die »NATO-Pause«, eine Art zweites Frühstück, gegen zwölf gibt es Mittagessen, Markus und Stefan haben ein paar Kilo zugelegt, auch Nico sieht wieder kräftiger aus. Macht der Wehrdienst dick? »Während der AGA ist die Stressbelastung sehr hoch, da gewöhnt man sich daran, viel Süßigkeiten zu essen«, erklärt Markus. Stress haben sie nun keinen mehr. Stefan hat neulich bei einer Übung für Offiziersanwärter einen Feind gespielt, Markus ist in einem Lkw mitgefahren, weil da immer ein Beifahrer mit drinsitzen muss. Sie haben auch schon mitgeholfen, einen Sandkasten zu bauen, in dem können nun Einsätze mit kleinen Figuren nachgestellt werden, so ähnlich wie bei einer Modelleisenbahn. Manchmal spielen sie Volleyball oder gehen joggen. Oft halten sie sich einfach »auf Stube bereit«. Einen großen Unterschied zur Freizeit gebe es da nicht, sagt Markus: »Wir dürfen nur unsere Uniformen nicht ausziehen.«
Seit im Sommer 2010 der Wehrdienst von neun auf nur noch sechs Monate verkürzt worden ist, findet die Bundeswehr überhaupt keine Verwendung mehr für ihre Wehrdienstleistenden. Was soll man in den drei Monaten nach der AGA auch mit ihnen machen? Trotzdem spricht Oberstleutnant Pickel, der Kommandeur der Arnulf-Kaserne, der die Rede während des Gelöbnisses gehalten hat, von Wehmut, wenn er an das Ende der Wehrpflicht denkt: »Hier kam der Abiturient mit dem Hartz-IV-Empfänger auf einem Zimmer zusammen.« Die Wehrpflicht als sozialer Schmelztiegel? Vielleicht hat er damit recht. Markus, der Abiturient, wäre ohne die Wehrpflicht nie bei der Bundeswehr gelandet. Andererseits hat er sich nicht weiterverpflichtet wie seine Stubenkameraden Stefan und Nico. Und ein Querschnitt der Gesellschaft war das Heer der Wehrpflichtigen schon lange nicht mehr. Nur noch etwa zwanzig Prozent eines Jahrgangs wurden in den vergangenen Jahren eingezogen, 2010 waren es 57 467 junge Männer nach 409 515 Musterungsverfahren – 14 Prozent. Michael Wolffsohn, Professor an der Bundeswehrhochschule in München, hat aufgrund dieser Entwicklung das hässliche Wort »Unterschichtenarmee« geprägt, weil sich Abiturienten eher vor dem Wehrdienst drückten. Zurückzuführen sind die geringen Einberufungszahlen auf den Strukturwandel der Bundeswehr: Seit dem Ende des kalten Krieges hat sich die Truppenstärke von 500 000 auf 250 000 halbiert, da wird einfach nicht mehr so viel potenziell nachrückendes Personal benötigt. In der neuen Freiwilligen-Armee sollen nur noch 175 000 bis 185 000 Soldaten dienen, je nachdem wie viele Freiwillige sich finden.
Was also geht mit dem Ende der Wehrpflicht verloren? Der Staatsbürger in Uniform? Zu diesem Leitbild gehört die freie Persönlichkeit, das verantwortungsbewusste Handeln jedes Soldaten und jeder Soldatin. Daran soll sich auch unter den Bedingungen der Professionalisierung nichts ändern, versichern die Wehrpolitiker. Und aus idealistischen Gründen entscheidet sich auch heute kaum jemand für die Armee. Wenn man Rekruten, die sich wie Stefan und Nico für eine Laufbahn bei der Bundeswehr entschieden haben, nach ihren Beweggründen fragt, sprechen sie vor allem von Jobsicherheit und Zukunftsperspektiven, nicht über den Wunsch, einen Dienst für die Gemeinschaft zu verrichten.
Wird es nach dem Ende der Wehrpflicht noch genügend Nachwuchs für die Bundeswehr geben? Zum April-Quartal jedenfalls war das Interesse am freiwilligen Wehrdienst nicht besonders groß, nur 1494 junge Männer und Frauen verpflichteten sich. Um tatsächlich auf eine Truppenstärke von 185 000 zu kommen, müssten es pro Quartal mindestens 3750 Rekruten sein. Aber auch 16 andere EU-Staaten haben seit 1989 die Umstellung von einem Wehrpflichtigen- zu einem Freiwilligenheer bewältigt. Was also geht verloren? Vielleicht ist es nur ein Gefühl. Markus jedenfalls sagt, er sei stolz: »Den Wehrdienst haben schon Generationen vor mir gemacht.« Dann überlegt er kurz. »Es steckt ja Sinn dahinter. Auch wenn man nicht immer genau sagen kann, welcher.«
In der iPad-Ausgabe des SZ-Magazins schildert der Fotograf Julian Baumann diese Woche seine Eindrücke von den letzten Wehrpflichtigen und zeigt noch mehr Fotos.
Fotos: Julian Baumann