Die Gewissensfrage

»Ich habe früher ein Mädchengymnasium besucht und glaube seitdem, dass Mädchen dort mehr gefördert werden als in koedukativen Schulen; diese persönliche Erfahrung deckt sich auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Meine Tochter würde ich also gern auf eine Mädchenschule schicken. Im Gegensatz dazu finde ich die Vorstellung, dass mein Sohn nur Jungen in der Klasse hat, keineswegs positiv. Kann ich erwarten, dass andere Eltern ihre Töchter in gemischte Klassen schicken, während ich selbst für meine Tochter Koedukation ablehne?« IREMELA P., München

Immanuel Kants Kategorischen Imperativ gibt es in mehreren Varianten, darunter in der selte-ner zitierten, sogenannten Naturgesetz-Formel: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« Die Maxime, nach der Sie handeln, also das subjektive Prinzip Ihres Wollens, würde man wohl so formulieren: »Ich will meine Töchter auf reine Mädchenschulen schicken, meine Söhne aber auf gemischtgeschlechtliche Schulen.«

Versucht man darauf die Naturgesetzformel anzuwenden, merkt man: Das geht nicht. Denn wenn getreu der Maxime alle ihre Töchter auf Mädchenschulen schicken, kann es keine gemischten Schulen für die Söhne geben. In Kants Worten: »Da sehe ich nun sogleich, dass sie niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse.« Folgt man Kants streng auf Pflichten basierter Betrachtungsweise – die wohl auch Ihre Zweifel nährt –, müssten Sie Ihre Kinder daher in Schulen stecken, die Sie für weniger geeignet halten. Wie kann man dieses etwas befremdliche Ergebnis vermeiden?

Die erste Lösung wäre, sich in diesem Punkt nicht nach der Kant’schen Pflichtenethik zu richten, sondern im Sinne der sogenannten Care-Ethik vor allem nach der Fürsorge für Ihre Kinder.

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Die zweite lautet: Ihr Ausgangspunkt stimmt gar nicht. Wie mir eine Expertin für geschlechterspezifische Bildungsforschung erklärte, gibt es keinen wissenschaftlichen Nachweis für die Annahme, dass Mädchen von getrennter Erziehung besonders profitieren. Wesentlich wichtiger sei, überhaupt eine gute Schule zu wählen. Da jedoch auch dies wieder zu einer Selektion und Benachteiligung mancher Schüler führt, scheint mir auf jeden Fall auch ein Drittes geboten: Engagement nicht nur für die Förderung der eigenen Kinder, sondern zugunsten möglichst guter Bildungschancen für alle.

Illustration: Jens Bonnke