Eine der bekanntesten Auseinandersetzungen der Philosophiegeschichte fand im Jahr 1797 statt. Sie drehte sich um die Rechtfertigung der Lüge zur Rettung eines anderen Menschen. Der französische Philosoph Benjamin Constant hatte in seiner Schrift Über politische Reaktion einen »deutschen Philosophen« kritisiert, der »so weit geht zu behaupten, dass selbst Mördern gegenüber, die uns fragen würden, ob ein Freund von uns in unserem Hause Zuflucht gesucht hat, die Lüge ein Verbrechen wäre«. Dies sei, so Constant, falsch, denn: »Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.«
Constant hatte bei diesem Beispiel, das übrigens schon in der Antike diskutiert wurde, vermutlich den Philosophen und Theologen Johann David Michaelis gemeint, dennoch fühlte Immanuel Kant sich angesprochen und antwortete in dem Aufsatz Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen: »Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen Jeden, es mag ihm oder einem Andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen.« Was bedeutet das für Sie? In Kants Sinne, dem es um eine allgemeine Rechtspflicht zur Wahrhaftigkeit ging, haben Sie sich mit der Verweigerung der Lüge tatsächlich neutral verhalten, also für niemanden Partei ergriffen, sondern nur Ihre Pflicht erfüllt. Doch scheint mir das zu formal. Praktisch gesehen haben Sie sich auf die Seite der Mutter gestellt. Wäre der Kant-Constant’sche Mörder an der Strippe gewesen, hätten Sie vermutlich anders gehandelt und ihn angelogen. Damit hätten Sie klar Partei für das Mädchen ergriffen. Wenn Sie hier anders, gegen die Lüge entscheiden, zeigt das, dass Sie das Recht der Mutter auf Wahrheit höher einschätzen als das des Mörders. Oder umgekehrt ausgedrückt, das Recht der Tochter auf Schutz in diesem Fall geringer. Das ist nicht falsch, aber eine Entscheidung.
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Illustration: Marc Herold