»Ich habe ein Problem in meiner Erdkunde-Klasse: Jeder von uns Schülern muss ein Referat halten, und danach sollen die anderen ihm anonym eine Note geben - auf Zetteln, die die Lehrerin einsammelt. Die Lehrerin sagt zwar, unsere Bewertungen würden die tatsächliche Benotung des Referats nicht beeinflussen. Trotzdem haben viele von uns Bedenken und weigern sich deshalb, Noten abzugeben. Ist diese Weigerung moralisch zu begründen?« Martina F., Dessau
Ist die Weigerung moralisch begründbar? Ja, man kann sie zum Beispiel auf ein altes Weisheitsbuch stützen, die Bibel, in der es heißt: »Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.« (Matthäus 7,21) Sich daran zu orientieren scheint in der Schule auch noch klug, zumal wenn jeder reihum ein solches Referat halten muss. Die Stelle geht nämlich weiter: »Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.«
Dass die Weigerung ein halbwegs passendes Bibelzitat für sich vorweisen kann, bedeutet aber noch nicht automatisch, dass sie auch richtig ist. Denn es gibt sehr wohl Gründe, die für die Idee Ihrer Lehrerin sprechen. Neben der Möglichkeit für die Lehrerin selbst, ihre eigene Einschätzung zu überprüfen, ergibt sich für die Schüler der Anreiz, besser zuzuhören, vor allem aber die Notwendigkeit, sich mit dem Referat, seinen Stärken und Schwächen auseinanderzusetzen. Und wenn man davon ausgeht, dass die Referate nicht dazu dienen, die Stimmbänder der Lehrerin zu schonen, sondern den Schülern beizubringen, wie man etwas gut vorträgt, dürfte das ziemlich zielführend sein: Wer den Vortrag anderer bewerten will, muss sich Gedanken machen, was gut war und was nicht, was die Zuhörer unterhalten und informiert hat und was gelangweilt und gepeinigt.
Und genau diese Erkenntnisse benötigt man für einen eigenen guten Vortrag. Trotz dieser guten Ansätze hege ich Sympathie für die Verweigerer. Und zwar, weil mich das Verfahren, selbst wenn es keine Auswirkungen auf die tatsächliche Benotung hat, zu sehr an ein Scherbengericht erinnert. Bei diesem aus der griechischen Antike bekannten Verfahren konnte die Bevölkerung unliebsame oder für die Demokratie gefährlich erscheinende Mitbürger für zehn Jahre in die Verbannung schicken. Einfach indem sie bei einer Abstimmung den Namen derjenigen in Bruchstücke von Tongefäßen als »Stimmzettel« ritzten - ohne Begründung oder Aussprache. Ich gebe zu, diese Analogie ist kein sehr starkes Argument. Zu schwach, um das Vorgehen der Lehrerin komplett abzulehnen. Aber meines Erachtens doch stark genug, um die Weigerung der Schüler nachvollziehbar zu machen.
Literatur
Peter Siewert (Hrsg.), Ostrakismos-Testimonien. Bd. 1: Die Zeugnisse antiker Autoren, die Inschriften und Ostraka über das athenische Scherbengericht aus vorhellenistischer Zeit (487-322 v. Chr.), (Historia-Einzelschriften 155), Franz Steiner Verlag Stuttgart 2002.
Illustration: Marc Herold