Die Gewissensfrage

Sollte man heutzutage seinen Kindern in der Erziehung auf den Weg geben, ihre Ellenbogen auszufahren? Oder darf man ihnen immer noch Werte wie Respekt, Anstand oder Fairness vermitteln?

»Unser sechsjähriger Sohn ist sehr wild, aber wir versuchen ihm vorzuleben, dass Werte wie Respekt, Anstand oder Fairness wichtig sind. Gleichzeitig frage ich mich, ob das heute überhaupt noch zu verantworten ist. Müssten Eltern angesichts eines zunehmenden Verteilungskampfes dem Nachwuchs nicht eher Fähigkeiten wie Durchsetzungskraft oder flexiblen Umgang mit gesellschaftlichen Normen und der Wahrheit vermitteln?« Anna G., Bonn

Sie sorgen sich – und das per se ist natürlich positiv – um die Zukunft Ihres Sohnes. Ob man dabei so stark auf das Wirtschaftliche fokussieren sollte, schon darüber ließe sich streiten. Für falsch halte ich allerdings den von Ihnen behaupteten Gegensatz zwischen Werten und Erfolg in Wirtschaft, Finanzen und Politik. Gut, die Politik mag ein Sonderfall sein, schon Platon etwa hat den Regierenden zugestanden, zum Nutzen des Staates zu lügen. Ansonsten aber scheint mir der Trend speziell in der Wirtschaft gerade umgekehrt in Richtung Werte zu gehen, die Wirtschaftsethik hat Hochkonjunktur.

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Innerhalb dieses Bereichs gibt es zwei Ansätze, wie ethische Grundsätze in der Praxis umgesetzt werden: Compliance und Integrity. Beim Compliance-Ansatz werden möglichst detaillierte Regeln vorgegeben, und deren Einhaltung wird streng überwacht. Der Integrity-Ansatz zielt hingegen auf die gemeinsamen Werte des Unternehmens und der Mitarbeiter ab und darauf, dass die Mitarbeiter sich von sich aus zu diesen Werten bekennen und deshalb auch danach handeln. Im Prinzip liegt dem Compliance-Ansatz ein negatives Menschenbild zugrunde: Man nimmt an, dass jeder Mitarbeiter potenziell falsch handelt und nur durch Regeln, Überwachung und Strafen davon abgehalten wird. Beim Integrity-Ansatz hingegen vertraut man auf die Mitarbeiter und bemüht sich, deren richtiges Verhalten zu fördern. Auch wenn dieser Ansatz nicht ohne Compliance-Elemente auskommt, man denke nur an die Einhaltung von Gesetzen oder die Verhinderung von Straftaten, werden die Mitarbeiter damit als eigenverantwortliche Individuen behandelt und zugleich kann das Unternehmen insgesamt besser auf Veränderungen reagieren als mit einem starren Regelgeflecht.

Damit kommen wir zu Ihrem Sohn, und ich will die Frage an Sie zurückgeben: Wollen Sie einen Sohn, der möglichst effizient passiv Regeln einhält, um seinen Vorteil zu haben und gerade nicht bestraft zu werden? Oder einen, der sich an seinen Grundüberzeugungen orientieren kann und damit aktiv selbst über sein Handeln entscheidet? Ich glaube, ganz unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Überlegungen lässt auch die Orientierung allein am Wohl Ihres Sohnes fast nur die zweite Variante zu.

Quellen:

Lynn Sharp Paine, Managing for Organizational Integrity, Harvard Business Review, 1994, 106 – 117

Ulrich Thielemann, Compliance und Integrity – Zwei Seiten ethisch integrierter Unternehmenssteuerung, Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu), 2005, 31 – 45 mit Korreferat von Thomas Bschorner: Integrität, Institution, Transformation, zfwu 2005, 46 – 50

Einen guten Überblick bietet: Bernd Noll, Wirtschafts- und Unternehmensethik in der Marktwirtschaft, Kohlhammer-Verlag 2002. Dort vor allem das Kapitel 9: Ethik-Management: Kodizes, Strategien und Instrumente, S. 115ff., und 9.2. Compliance- oder Integrity-Ansatz: eine strategische Grundsatzentscheidung, S. 119ff.


Zur Wahrheitsliebe in der Politik siehe Platon, Politeia, Buch III 389b:

„Also denen, die in der Stadt regieren, wenn überhaupt irgend jemandem, kann es zukommen, Unwahrheit zu reden, der Feinde und der Bürger wegen, zum Nutzen der Stadt; alle anderen aber dürfen sich hiermit gar nicht befassen.“

Aus: Platon, Sämtliche Werke, Band 2, rowohlts enzyklopädie, Rowohlt-Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg 1994, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, S. 282)

Illustration: Marc Herold