»Vor Kurzem stand ich mit einer Freundin auf einer sehr breiten Einkaufsstraße und unterhielt mich, als ein Rentner wiederholt auf einem Elektromobil schnurstracks auf uns zufuhr, ohne auszuweichen. Offensichtlich erwartete er, dass wir für ihn zur Seite treten. Müssen wir das, oder nutzt er sein Elektromobil für asoziales Verhalten?« Klara S., Düsseldorf
Sie verwenden den Begriff »asozial«, und wenn ich den aufgreife, muss ich feststellen, dass Sie sich beide gleichermaßen »asozial« verhalten – in der wörtlichen Bedeutung dieses Begriffs. Die griechische Vorsilbe »a-« bedeutet übersetzt »un-«, weshalb »asozial« mit »unsozial« oder »nicht sozial« zu übersetzen wäre und nicht mit der Bedeutung »gegen die Gemeinschaft«, also anti-sozial, wie es meist verwendet wird.
Und darum, dass sich hier beide Seiten a-sozial, nicht sozial verhalten, kommen Sie nicht herum. Sie sehen jemanden, der offensichtlich Hilfe zur Fortbewegung braucht, auf sich zukommen und wollen nicht ausweichen. Er wiederum sieht zwei Menschen im Gespräch vertieft und will es anscheinend ebenso wenig. Soziales Verhalten, also ein Verhalten für die Gemeinschaft, für das Zusammenleben, wäre für beide, dem anderen Platz zu lassen, sei es, indem man beiseitetritt, sei es, indem man einen Bogen fährt.
Vielleicht ist es ein bisschen übertrieben, aber ich glaube, das A-soziale winkt immer schon aus der Ferne, wenn man sich Gedanken darüber macht, wer denn nun in einer bestimmten Situation »im Recht« ist. Und es eilt mit großen Schritten heran, wenn es darum geht, wer wem ausweichen oder Platz machen muss. Ich halte auszuweichen, dem anderen Platz zu machen für eine elementare soziale Handlung und noch mehr für eine Geste, die hilft, das Miteinander zu festigen, weil man damit den anderen anerkennt.
Damit wären wir beim letzten, allerdings leicht spekulativen Punkt. Ein alter Mensch, der nicht mehr so mobil sein kann, mag sich schnell – ob zu Recht oder nicht – an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Das könnte ein Grund dafür sein, warum er nicht ausweichen will. Vor allem aber könnte es für Sie ein Grund sein, ihm Platz zu machen – ob zu Recht oder nicht.
Literatur:
Für die Anerkennung als zentraler Punkt der Sozialphilosophie steht das Werk des Frankfurter Philosophen Axel Honneth.
Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Frankfurt am Main 1992/2003
Für die gegenseitige Rücksichtnahme - auch am Beispiel des Ausweichens - als eines der grundlegenden Prinzipien einer zeitgemäßen Moral siehe das Kapitel 15 „Von Bahnfahrern, Spaziergängern und Vorausschau. Über Rücksicht" in: Rainer Erlinger, Moral. Wie man richtig gut lebt, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
Illustration: Serge Bloch