Der Moment, wenn Eltern ihr Baby zum ersten Mal ansehen, ist oft ein Abgleich: mit den eigenen Gesichtszügen, mit den Erwartungen, mit dem, was man im Ultraschall schon gesehen hat. Es fallen Sätze wie »Du hast ja rote Haare!« Oder: »Ich hab mir dich ganz anders vorgestellt«. Mir kommt dann oft eine Geschichte in den Sinn, die ich ganz am Anfang meiner Zeit als Hebamme erlebt habe.
Weil ich die Ausbildung gerade erst abgeschlossen hatte, schaute mir anfangs immer eine Kollegin über die Schulter, doch nach einigen Wochen durfte ich zum ersten Mal alleine ran. Ich war irre aufgeregt. Die Angst, einen Fehler zu machen, begleitete mich wie ein Schatten. Das Paar stammte aus Eritrea. Einfache Leute, sie hatten den Waschbeutel und das Nachthemd der Frau in einer Plastiktüte mitgebracht, ihre Kleidung lag säuberlich gefaltet auf dem Stuhl.
Schon eine Stunde, nachdem die Frau eingetroffen war, war das Köpfchen zu sehen. Mein erster Gedanke, war, ich weiß es bis heute: »Huch, du siehst....anders aus.«
Aber Babys sehen oft etwas zerknautscht aus, wenn sie aus dem Geburtskanal kommen, also tat ich den Gedanken wieder ab. Der Mutter wurde ihr Sohn zum Bonding auf den Bauch gelegt, der Vater verdrückte ein Tränchen, die Ärztin bereitete das Abnabeln vor. Der Junge schnaufte normal, das Herz schlug, aber plötzlich war da wieder dieser Zweifel. Vielleicht, war es die breite Nasenwurzel. Oder der leicht geöffnete Mund, aus dem die Zunge herausspitzte. Aber um einen Verdacht zu äußern, reicht so ein vager Blick nicht, vor allem um darauf basierend eine Diagnose zu stellen. Und mir als Hebamme stünde das auch gar nicht zu.
»Er schleckt schon, bestimmt hat er Hunger«, sagte die Frau lächelnd. Sie sprach perfekt deutsch. Sie und ihr Mann lebten schon einige Jahre hier. Ich nickte und dachte: Ja, die Zunge spitzt heraus, aber nicht wie bei den üblichen Hungerzeichen.
Während die Eltern überschäumend vor Glück sich mit ihrem Sohn, dem kleinen Samuel, beschäftigten, ging ich nach draußen und suchte die Ärztin, die bei der Geburt dabei gewesen war. »Kann es sein, dass das Kind Down-Syndrom hat?«, fragte ich. Sie sah mich an mit einem Blick, in dem Unglauben, Irritation und Schuster-bleib-bei-deinen-Leisten lagen. »Unerkannt? Das wäre extrem ungewöhnlich.«
Sie ließ sich die Ultraschallbilder bringen. Das Paar hatte jenes Maß an Vorsorge durchlaufen, das in Deutschland üblich ist, also drei reguläre Ultraschallscreens in der Schwangerschaft: Wenn dort Auffälligkeiten festgestellt worden wären, hätte man weitere empfohlen. Doch weder in den Sonografien der Frauenärztin noch in unserem Ultraschallbefund war ein Herzfehler und nichts anderes zu erkennen gewesen, das einen Verdacht auf eine Gen-Anomalie nahegelegt hätte (beweisen lässt sich diese nur über die Chromosomen-Auswertung). Die Untersuchung der Nackenfalte in der Früh-Schwangerschaft war nicht gemacht worden – aber das war nicht ungewöhnlich, die Frau war schließlich erst 30.
Wir gingen zurück ins Zimmer und begannen mit der U1. Die Ärztin sah sich das Baby nochmal an, dann nickte sie in meine Richtung. »Ist eindeutig« sagte dieses Nicken. Ich wurde panisch. Was, wenn jetzt die Eltern fragen: Ist alles fein, passt alles? Was sagen wir dann?
»Wir würden gern noch dem Kinderarzt bescheid sagen«, sagte die Ärztin um einen neutralen Ton bemüht. Die Eltern fanden das nicht ungewöhnlich. Ein Arzt guckt drauf, ist doch super. Sie liebkosten ihr Baby, der Mann besonders innig.
Ich ging zu Dr. P., dem Kinderarzt und erzählte von unserem Verdacht. »Wenn ich da jetzt reingehe und es mir auch so geht, bin ich verpflichtet, sofort zu sagen, dass der Verdacht besteht«, erklärte er mir. »In welcher Verfassung sind die Eltern gerade?« – »Mega-verliebt in ihr Kind«, sagte ich. »Dann geben wir ihnen noch ein bisschen Zeit. Was wir ihnen sagen werden, wird eine Zäsur sein.«
Als er eine Stunde später ins Zimmer der A.s kam, sah er sich Samuel an und sprach es dann aus: »Es gibt den Verdacht, dass Ihr Sohn das Down-Syndrom hat, Trisomie 21.« – »Ist unser Kind ist krank?«, unterbrach ihn der Mann sofort. »Es ist keine Krankheit, sondern eine Genommutation, die unterschiedlich starke Folgen haben kann.« Mit jedem Wort, das Dr. P. sagte, schien die Frau ihr Kind jetzt Zentimeter für Zentimeter weiter von ihrem Körper wegzuhalten. Dieser Moment, dieses Reden-in-dritter-Person über ihr Kind. Mit dem sollte was nicht stimmen, wie bitte?
Nachdem der Arzt gegangen war, nahm ich Samuel und zeigte dem Vater, wie man dem Kleinen die erste Windel anlegt und ihn anzog. Normalität kann eine Brücke sein und den Abstand, den eine solche Nachricht erzeugen kann, wieder verringern.
Drei Tage später, als ich gerade zur Spätschicht eingetroffen war, kam mir die Frau entgegen, sie war auf dem Weg nach Hause. Samuel lag im Maxi Cosi. »Wie geht's euch?«, fragte ich. »Du hast es doch gehört.« Sie begann zu weinen und fiel mir in die Arme. Ihre Tränen tränkten meinen rosa Kasak. »Ich habe nichts dagegen, dass er behindert ist. Wirklich! Es ist nur: Wir sind alleine hier in Deutschland, haben keine Verwandten und nicht viel Geld. Wie soll das alles werden? Auch wenn wir alt sind?«
Dr. P. sah mich mit der Frau stehen und kam hinzu. »Man sieht nur seine Schwächen am Anfang«, sagte er, »dabei können Kinder mit Down-Syndrom viel, was wir nicht können. Sie können oft Gefühle besser lesen, haben eine immense Lebensfreude. Ihr Samuel hat keinen Herzfehler, keine Probleme mit dem Darm. Alles in allem ist er ein starker Junge.«
Die Mutter nickte tapfer. Ich hatte einen großen Kloß im Hals, weil ich spürte: Hier war niemand unglücklich, weil das Wunschkind nicht so hübsch geworden ist wie geplant, sondern weil die beiden gehofft hatten, ihr Sohn könne in diesem Land ein eigenständiges Leben führen.
Samuel war das erste von drei Kindern mit einer unerkannten Trisomie 21 in meinen ersten Monaten in der Klinik. Eine Häufung, wie sie extrem selten vorkommt.