Wer ist diese Frau? Eine typische Latte-macchiato-Mutter, die es sich gut gehen lässt? Eine Zugezogene, die die einst fairen Mieten im Viertel hochgetrieben hat? Wer einen Latte macchiato trinkt, muss immer auch etwas anderes verkörpern als eine bloßen Kaffeehausbesucher.
Das Datum lässt sich nicht mit letzter historischer Genauigkeit bestimmen. Aber eine Reihe von Indizien spricht dafür, dass jenes Getränk, das wie kein zweites zu einem allgemeinen Feindbild geworden ist, in diesen Wochen ein Jubiläum feiert: Der Latte macchiato in Deutschland wird 15! Bis Mitte der Neunzigerjahre gab es in München – der Stadt, in der die deutsche Erfolgsgeschichte des Getränks begann – nur eine Handvoll italienischer Espressobars: das »Segafredo« in der Residenzstraße, 1991 als erstes Lokal dieser Art eröffnet, später dann zwei kleine, schlauchartige Bars in einer Passage der Fußgängerzone und an der Münchner Freiheit. Dort wurden aber nur Espresso und Cappuccino serviert, und es galt schon als Ereignis, dass der Cappuccino mit einer Haube aus Milchschaum kam und nicht aus Schlagsahne, wie es in den Tchibo-Filialen und Konditoreien oft noch üblich war. Im Jahr 1996 dann machten in München fast zeitgleich zwei neue Espressobars auf, eine »Segafredo«-Filiale am Rindermarkt im Sommer und das winzige »Café Bussone« an der Großmarkthalle im November. Dort bot man, wie sich die damaligen Geschäftsführer erinnern, von Anfang an auch ein Getränk namens Latte macchiato an, das in den ersten Monaten keiner bestellen wollte, danach aber wurde es rasch zum Verkaufsschlager.
Ein hohes, schmales Glas, gefüllt mit drei Schichten aus Milch, Espresso und Milchschaum, die sich wegen ihres unterschiedlichen Gewichts nicht vermischen: Wie konnte es geschehen, dass auf dieses zunächst völlig unschuldige Heißgetränk, in Italien vorwiegend für Kinder gedacht, im Lauf der Jahre eine solche Masse an Zuschreibungen eingeprasselt ist? Heute gilt der Latte macchiato unter anderem als Metapher für die Gentrifizierung von Stadtteilen, für den Lebensstil freiberuflicher Akademiker, für die Struktur moderner Familien und für einen grundsätzlichen Hang zu Phlegma und Substanzlosigkeit. Als gäbe es eine natürliche Verbindung zwischen einem Kaffee-Milch-Gemisch und komplexen städtebaulichen und soziologischen Theorien, wird sein Name in Essays, Theaterstücken oder Songtexten inzwischen fast reflexhaft eingesetzt. So erklärt sich auch die Fülle neuer Wortkompositionen, die gerade im Umlauf sind: Die Latte-macchiato-Mütter. Die Latte-macchiato-Familien. Das Latte-macchiato-Milieu. Die Latte-macchiato-Generation. Die Latte-macchiato-Bourgeoisie. Die Latte-macchiato-Linke. Die Latte-macchiato-Kultur. Die Latte-macchiato-Moderne. Mehr muss man nicht sagen, die Assoziationen sind jedem vertraut.
Wie genau ist es zu dieser Stigmatisierung gekommen? Der Cappuccino etwa, der lange Zeit die italienische Lebensart in Deutschland verkörperte, war immer nur ein Cappuccino: allenfalls ein Sehnsuchtsbild, ein Vehikel mediterraner Verführungskunst, wie es vor zwanzig Jahren der berühmte Werbespot für den Cappuccino von Nescafé mit Herrn Angelo nahelegte (»Isch abe gar kein Auto«). Aber die Bedeutungen und Images des Cappuccinos haben seinen Status als bloßes Getränk nie überlagert. Ähnliches gilt für den »Milchkaffee« in großen Tassen und Schalen, der seit Anfang der Achtzigerjahre in den Cafés der Großstädte und in den WG-Küchen getrunken wurde. Natürlich war er häufig Gegenstand des Spottes, über die ewig frühstückenden Langzeitstudenten etwa, aber dieser Spott hat es nie von der Ebene des rein Privaten zu einer politischen Diagnose gebracht.
Ganz anders dann das Schicksal des Latte macchiato – obwohl die öffentliche Resonanz auf die neue Kaffeevariante im Rückblick erstaunlich lang auf sich warten ließ. Es bedurfte erheblicher Anlaufzeit, bevor das Getränk überhaupt zu einer gängigen Option in den Cafés wurde; noch im Jahr 1999 ist in den Gastro-Rubriken der Stadtzeitungen von »modischem Firlefanz wie Latte macchiato« die Rede oder von »neuartigem Schnickschnack«. Judith Hermanns Erzählband Sommerhaus, später von 1998, der heute als paradigmatisches Buch über die Desorientierung junger Berlin-Bewohner um die Jahrtausendwende gilt, spielt noch in einer völlig Latte-macchiato-losen Zeit, auch wenn die Leute in den Geschichten einander Espressomaschinen schenken und ständig Sätze fallen wie: »Wir sitzen einen Nachmittag lang im Café« oder »Ich saß nutzlos in Cafés herum«.
»Es ist Kaffee mit viel zu viel Milch, sonst nichts.«
Im Erscheinungsjahr dieses Buchs eröffneten die ersten deutschen Coffeeshops ihre Filialen: Balzac, Black Bean, San Francisco Coffee Company. Mit der Etablierung der Kaffeeketten in den Stadtzentren begann auch der Siegeszug des Latte macchiato; durch Starbucks wurde er ab dem Frühjahr 2002 allgegenwärtig. Und genau in diese Jahre fällt auch der Beginn seiner Verdoppelung: Von nun an ist die »gefleckte Milch« – wie die wörtliche Übersetzung lautet – nicht mehr ein bloßes Getränk, sondern wird zum Emblem kultureller und sozialer Veränderungen. In den Zeitungen erscheinen erste Artikel über die neue Kombination von Arbeits- und Freizeitwelt in Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg; es sind Berichte über gerade eröffnete Bürokomplexe für Freiberufler oder die inflationäre Zunahme von Menschen mit Laptops in Cafés. In einem der Artikel, vom Januar 2002, heißt es, diese Räume würden von »Menschen um die 30 bevölkert, die versuchen, durch Turnschuh-Tragen und unstete Arbeitsverhältnisse ihre Jugend zu verlängern. Es ist Latte-macchiato-Land«. Alle Komponenten der Kritik sind in dieser Passage bereits versammelt: die freiberufliche Tätigkeit, die hinausgezögerte Adoleszenz, die prekäre wirtschaftliche Lage – und, als eine Art Wappenzeichen der neuen Gemeinschaft, die Vorliebe für Milchkaffee in Gläsern. Seitdem ist dieser Zusammenhang in Dutzenden von Büchern und Hunderten von Artikeln wiederholt worden, übertragen auf die Stadtviertel anderer deutscher Großstädte, aus hämischer und manchmal auch aus wohlwollender Perspektive.
Allen Latte-macchiato-Beschimpfungen gemeinsam ist, dass sie ihm in symbolischer Hinsicht das zum Vorwurf machen, was die Komposition des Getränks gerade vermeiden will: das Verwischen von Grenzen. So akkurat die Milch-Espresso-Milchschaum-Schichten im Glas auch getrennt bleiben mögen: Aggressionen zieht das Getränk vor allem deshalb auf sich, weil es Bereiche vermengt, die bislang fein säuberlich getrennt waren. Das betrifft die Sphären von Müßiggang und Arbeit, von sorgloser Jugend und verantwortungsvoller Erwachsenenexistenz, aber auch die von Nacht und Tag. Denn wenn man sich fragt, warum ausgerechnet der Latte macchiato zum kollektiven Sündenbock geworden ist und nicht etwa der seinem Mischverhältnis nach identische »Milchkaffee«, dann muss man gerade seine Präsentationsform in Erinnerung behalten. Der Latte macchiato ist das erste Kaffeegetränk, das mit den Mitteln der Cocktailkultur gestaltet wurde. Das hohe Glas, der langstielige Löffel, die Verzierung der Oberfläche (als Muster auf dem Milchschaum), die Verfeinerung durch Sirup: alles Elemente des Longdrinks, der in den helllichten Tag hineinverlegt worden ist.
Damit verbunden ist ein neues Verhältnis von Kaffeekonsum und Zeit. In den vergangenen Jahrzehnten war das Kaffeetrinken eine Tätigkeit, die entweder nebenbei stattfand (die Thermoskanne auf dem Bürotisch) oder zwischendurch, bei einem Abstecher in die Espressobar. Auch der Cappuccino galt Mitte der Neunzigerjahre noch ausdrücklich als flüchtiges Vergnügen, als eine Sache von fünf Minuten. Der Latte macchiato dagegen, ein Amalgam der Lebenswelten und Tageszeiten, hat die dazwischengeschobene Tätigkeit des Kaffeetrinkens in eigentliche Zeit verwandelt. Selten sieht man Leute, die ihn im Stehen trinken.
Die Verachtung des Latte macchiato, jene Rutschpartie »auf der großen Milchkaffee-Rampe ins Nichts«, wie Jan Delay singt, ist jedenfalls längst zum festen Ritual der Gegenwartsbeschreibung geworden. Vor allem das Genre des autobiografischen Sachbuchs kommt nicht ohne dieses Element aus. Florian Illies bemerkte schon 2003 in Generation Golf 2: »Ich versuche das Latte-macchiato-Glas so zu halten, als meinte ich das nur ironisch.« Und Echtleben, Katja Kullmanns kürzlich erschienener Erfahrungsbericht von den Rändern der Medienwelt, endet mit einer Szene im Lieblingscafé der Autorin: »Die geeiste ist die einzige Macchiato-Variante, die ich vertrage, und ich werde das peinliche Gefühl einfach eines Tages überwinden, das mir bei der Bestellung und dem Verzehr noch immer im Nacken sitzt.«
Es bleibt allerdings die Frage, was heute, 15 Jahre nach den ersten schmalen, hohen Gläsern auf den Cafétischen, unangenehmer ist: der Latte macchiato oder seine Kritiker. Zweifellos ist es verständlich, dass ein Getränk Unbehagen auslöst, das sich als Kaffee ausgibt, aber in Wahrheit nur ein halber Liter warmer Milch ist; der Latte macchiato ist Repräsentant jener hygienisierten Lebenskultur, die in den letzten Jahren auch das Rauchverbot, die zuckerfreie Limonade, den Fahrradhelm oder den Gummihandschuh in Bäckereien hervorgebracht hat. Gleichzeitig hat der so vehement formulierte Überdruss auch etwas Fragwürdiges und Reaktionäres. In ihm äußert sich die Angst vor einer Auflösung des geregelten Lebens, vor dem zweckfreien Genuss. Doch wie immer man zum Latte macchiato auch steht – am wenigsten trifft auf das Getränk eine Diagnose aus dem Buch Echtleben zu: »Es ist Kaffee mit viel zu viel Milch, sonst nichts.«
Foto: Fabian Zapatka