SZ Magazin: Herr Raue, Sie haben eine wilde Vergangenheit für einen Koch und wissen sicher, was mehr weh tut: ein Tritt in den Unterleib oder ein Schlag in die Nieren?
Tim Raue: Das nimmt sich nicht viel, in beiden Fällen geht man k. o. Am meisten schmerzt die Demütigung, verloren zu haben.
In Ihrer Biografie bezeichnen Sie den Low Kick als Ihre Spezialität in der Zeit bei der Kreuzberger Straßengang 36Boys. Was ist ein Low Kick?
Ein Begriff aus dem Kickboxen. Man tritt mit dem Schienbein auf den Oberschenkel. Wenn man gut darin ist, fällt der Gegner um. Wenn man jemanden im Kniegelenk trifft, kann man ihm das ganze Knie zerschmettern. Am Unterschenkel kann es leicht zum offenen Bruch führen. Ich habe einen kräftigen Tritt gehabt. Beim Fußball konnte ich Abstöße bis in den gegnerischen Strafraum schießen.
Haben Sie gezählt, an wie vielen Schlägereien Sie in Ihrem Leben beteiligt waren?
Nein. Die Niederlagen vergisst man ganz schnell.
Erinnern Sie sich, wie oft Sie krankenhausreif geschlagen wurden?
Zweimal. Das erste Mal Mitte der Achtzigerjahre nach meiner Aufnahmeprüfung bei den 36Boys, das war eine Gang mit vielen türkischstämmigen Jungen, ich habe mich mit zwei von ihnen geschlagen und musste danach eine Platzwunde über dem Auge nähen lassen. Da war ich 15. Das zweite Mal haben mich vier Jungs in der U-Bahn zusammengetreten, wobei das wirklich atypisch war, denn normalerweise besitzen auch Straßengangs einen Ehrenkodex. Man tritt nicht zu viert auf jemanden ein, der schon am Boden liegt. Bei unseren Prügeleien mit der Gang ging es eher darum, jemanden umzuhauen, nicht ihn zu vernichten.
In der Erinnerung soll jede Prügelei immer viel länger dauern als in Wirklichkeit.
So eine Schlägerei dauert eine halbe Minute, wenn’s hochkommt, aber man erlebt sie wie in Zeitlupe. Danach ist man dennoch völlig ausgelaugt, weil man so viel Energie reingesteckt hat und mit Adrenalin aufgeputscht ist.
Wie viele Narben haben Sie?
Ein paar am Schienbein. Die im Gesicht ist verheilt.
Was haben Sie gesucht bei der Straßengang?
Anerkennung und Aufmerksamkeit. Ich bin als Scheidungskind zwischen Mutter und Vater hin- und hergereicht worden. Die Gang war in der Pubertät meine Ersatzfamilie, gab mir Identität.
Prügeln wirkt identitätsstiftend?
Die Zugehörigkeit zu einer Gang tut es, ja. Ich habe sicher viel Mist gebaut damals, aber ich habe nie einen Wehrlosen verprügelt. Ich bin nie die Straße langgegangen und habe gedacht: Der sieht aus wie ein Arschloch, dem haue ich jetzt auf die Fresse. Ich habe mir Gegner gesucht, die sich auch schlagen wollten. Die Prügeleien damals waren eher eine Art Duell, mit dem man sich Anerkennung verschafft hat, mit dem man sich gegen verschiedenste Demütigungen wehren wollte. Ich bin ja auch nur beigetreten, um nicht derjenige zu sein, der auf die Fresse kriegt und unterdrückt wird. Und die türkische Gang hat mich auch nicht aufgenommen, weil ich so ein netter deutscher Kerl war, sondern weil ich so aggressiv war und ohne groß nachzudenken zuschlagen konnte. Das habe ich von meinem Vater gelernt. Der hat mich mit dem Kochlöffel verdroschen, seit ich neun war und bis ich mich mit 14 endlich wehren konnte. Ich hatte am ganzen Körper blaue Calamariringe. Deswegen habe ich eine Zeit lang immer gleich zugeschlagen, sobald ich mich bedroht fühlte.
Wie haben Sie den Absprung geschafft?
Mit 17 habe ich eine Kochlehre begonnen, die hat mich in gewisser Weise gerettet. Da musste ich lernen, bei einem Streit nicht immer gleich loszuprügeln.
Hat Ihnen Ihre Vergangenheit vielleicht auch geholfen, sich in der Küche durchzusetzen?
Eindeutig. Die Konflikte auf der Straße und in der Küche ähneln sich: Ich wusste, wie das als Lehrling in der ersten Woche ist, allein gegen alle, wenn alle dich hassen. Durchhalten hatte ich auf der Straße gelernt, ich war ständige Extremsituationen gewohnt. Mittags und abends herrscht in jeder Küche Notstand. Um mit erst 23 Jahren
schließlich Küchenchef zu werden, muss man auch eine Portion Aggressivität mitbringen. Ich hatte gelernt, dass man manchmal auch mit schmutzigen Tricks kämpfen muss.
Welche zum Beispiel?
Ein Vorgesetzter ließ uns öfter stundenlang exakte Gemüsewürfel schneiden, ging gemütlich Kaffee trinken und schmiss unser Gemüse danach in einen Fond – es war also die reinste Schikane. Er brachte uns nie etwas bei. Als er einmal krank war, vertrat ich ihn so gut, dass der Küchenchef ihm nach der Rückkehr sagte: Pass auf, du musst dich anstrengen, der Tim sitzt dir im Nacken! Als der Ausbilder uns wieder schikanierte, habe ich seinen Sud unbemerkt versalzen, der Küchenchef hat ihn probiert und den Typ kurz darauf gefeuert. Ich habe den Job dann bekommen.
»Es gibt keinen Grund, aggressiv zu werden«
Jede Küche ist ein Löwenkäfig?
Jeder will weiterkommen, du bist Jungkoch, Commis heißt das, und willst zum Demi-Chef aufsteigen, und dann willst du Chef de Partie werden, Abteilungsleiter.
Wird deswegen in großen Küchen so viel geschrieen?
In einer normalen Küche werden Kommandos nur gebrüllt, und wenn man nichts verstanden hat, schreit man zurück, so schaukelt sich der Lärm hoch.
Schreien Sie auch?
Ja, ich habe meine Mitarbeiter eine Zeit lang wirklich nicht gut behandelt. Im »Swissôtel« hier in Berlin hatte ich eine Küchenbrigade mit mehr als 40 Leuten, ein Restaurant mit 100 Sitzplätzen, war außerdem für Catering und Bankette sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr verantwortlich. Wir arbeiteten alle die ganze Zeit am Anschlag, der Druck war immens. Ich habe nicht von morgens bis abends gebrüllt, aber ich war jeden Tag schnell überfordert. Wenn dann etwas aus den Fugen gerät, hört dir keiner zu, wenn du sagst: Du, Peter, jetzt bleib mal einen Moment stehen, wir müssen reden! Wo sind die Hamachis, die ich für Tisch 27 brauche? Warum hat niemand an die Muschelallergiker an Tisch drei gedacht? Sondern du sagst schnell: Du blöder Fatzke, wo bleibt das Amuse-Gueule für Tisch 18? Und wenn das nicht hilft, haust du auf den Tisch, damit du dir Gehör verschaffst. Für den Zweck hatte ich sogar ein Stück Gartenschlauch. Und irgendwann reicht das auch nicht mehr, und du rennst mit dem Schlauch hinter jemandem her. Ab diesem Augenblick wusste ich: So geht es nicht weiter, ich will nicht so werden wie mein Vater.
Haben Sie in der Küche auch geschlagen?
Früher habe ich mal meinen Chefkoch k. o. geschlagen, der hat mich in ein Regal geschubst, ich hatte eine Kelle in der Hand, das war ein Reflex, ein unglücklicher Unfall, es tat mir nachher sehr leid. Diese Reflexe habe ich mir auf der Straße antrainiert, die gehen nicht mehr weg. Du funktionierst, ohne nachzudenken. Und das brauchst du eigentlich auch in der Küche. Jeder Handgriff muss sitzen. Wenn du anfängst zu überlegen, in welcher Schublade das Lammfleisch liegt, bist du nicht schnell genug.
Sie schreien nie mehr?
Selten. Das muss schon ein ganz mieser Tag sein. Schreien bringt mir nichts und meinen Leuten auch nicht. Jemanden zu demütigen, finde ich aber viel schlimmer. Etwa Schimpftiraden über seine Familie und welche Berechtigung sie hat, sich zu vermehren, die spare ich mir heute wirklich. Früher habe ich geschrieen: Was machst du für einen Mist, Alter? Da draußen sind Leute, die sind 2000 Kilometer für das Essen hergeflogen, und du lieferst so einen Mist, bist unkonzentriert, weil du gestern saufen warst. Heute sage ich nach dem dritten Fehler: Komm, mein Freund, geh nach Hause, ich übernehme deinen Posten. Macht für alle mehr Sinn als jeder Anschiss.
Was ist das schlimmste Schimpfwort, das Sie noch verwenden?
Was ich meinen Köchen Derbes an den Kopf werfe, wenn ich sauer bin, überhören sie ohnehin. Am meisten jage ich ihnen heute mit meinem Killerblick Angst ein. Ich habe mein Gesicht mal mit dem Handy fotografiert, als ich wütend war. Sieht wirklich furchterregend aus.
Zieht Ihr Beruf eher grobschlächtige Menschen an?
Nein, Nils Henkel, der Drei-Sterne-Koch aus Bergisch Gladbach, ist ein feingeistiger Intellektueller. Ich glaube, Küchenchefs von Sterneküchen sind sogar besonders sensibel und kreativ, aber wir haben natürlich alle einen an der Waffel: durch die Machtfülle, die strenge Hierarchie glauben Sterneköche leicht, sie seien allmächtig und könnten daher jede Grenze verschieben. Man muss aufpassen, auf dem Teppich zu bleiben.
Der Engländer Gordon Ramsay, Drei-Sterne-Koch in London, gilt als der größte Schreihals.
Er hat zumindest dieses Image kultiviert, ich habe ihn allerdings sehr charmant erlebt. Arbeiten wegen des rauen Tons so wenig Frauen in der Küche? Meine Frau sagt: Frauen sind intelligenter, deswegen werden sie nicht Koch, 14 Stunden Arbeit für so wenig Geld, das ist ja der reinste Masochismus. Ein, zwei Frauen in der Brigade zu haben, sorgt schon für ein etwas angenehmeres Klima, obwohl auch Köchinnen anständig fluchen können.
Haben Sie heute weniger Aggressionen oder haben Sie nur gelernt, besser damit umzugehen?
Ich habe mich, und da bin ich sehr stolz drauf, in gewisser Weise zu dem netten, offenen Jungen zurückentwickelt, der ich mit neun Jahren einmal war. Viele Dinge, die ich früher als demütigend empfand – Fehler einzugestehen, Druck auszuhalten – ertrage ich heute leichter. Aber ich gerate auch immer wieder schnell in brenzlige Situationen, in denen ich mich nur schwer beherrschen kann: Letzten Sonntag etwa war ich nachts mit Shirley, unserem Hund, unten auf der Straße. Sie pinkelte an einen Baum, als eine Gruppe von 14, 15 angetrunkenen Leuten kam, einer fand es lustig, den Hund zu imitieren und kam ihm dabei zu nahe. Ich habe ihn am Kehlkopf gepackt. Da habe ich mich wieder über mich geärgert, denn ich hätte eigentlich meiner Intuition folgen und vorher die Straßenseite wechseln sollen.
Trainieren Sie noch Karate oder einen anderen Kampfsport?
Ich mache Yoga und arbeite mich an dem Motto meines Yoga-Gurus ab: Es gibt eigentlich keinen Grund, aggressiv zu werden. Auch nicht in der Küche.
Fotos: Jo Jankowski