Neulich habe ich meine Mutter gefragt, was sie einmal werden wollte. Astrophysikerin. Das ist sie definitiv nicht geworden, bis zum heutigen Tag nicht. Sie war: Zahnarzthelferin, Kosmetikerin, Friseurin, Verkäuferin, Köchin, Büroangestellte, Beamtin bei der Bahn. Und vor allem war sie Mutter. So sehr sie sich über ihre zwei Kinder gefreut hat, ein bisschen Wehmut kann sie sich nicht verkneifen, wenn Sie so über Ihr Leben nachdenkt. Was wäre aus ihr geworden? Was hätte sie wohl noch erreicht?
Ob sie eine gute Astrophysikerin geworden wäre, kann ich nicht beurteilen. Sie kann das vielleicht auch nicht, schließlich hat sie das Fach nie studiert. Vielleicht werde ich meinem Kind einmal eine ähnliche Geschichte erzählen. Dass ich gern Schriftstellerin geworden wäre, oder Journalistin, dass ich gerne Geschichten unter die Leute gebracht hätte, die sie in irgendeiner Weise zum Nachdenken bringen, die sie an ihren innersten Kern zurückführen, an die Stelle, wo alles gut, einfach und erfrischend sinnvoll ist. Und was habe ich schlussendlich getan? PR-Texte über die neuen Regulierventile einer riesigen Armaturenfirma geschrieben, die Mails vom Chef einer Investment-Bank verfasst und mich in einer U-Bahn-Zeitung über die Unvereinbarkeit von Kunst und Geld ausgekotzt. Unbezahlt natürlich. Ersteres kann ich auf dieser Liste sogar schon abhaken.
Einen wesentlichen Unterschied aber gibt es zwischen der einen und der anderen Geschichte. Meine Mutter ist zufrieden, mit dem was sie hat. Das, was sie macht, macht sie gern, und gut. Vor der Frage, ob Astrophysik ihr wahres Lebensglück bedeutet hätte, stehen bereits andere Antworten: eine schlechte Ehe, eine hässliche Scheidung und vor allem zwei Krebserkrankungen. Angesichts dessen rücken die Sterne da hin zurück, wo sie sind, in weite Ferne.
Meine Mutter und mich trennen 32 Jahre. Ich stehe vor einer völlig neuen Arbeitswelt mit anderen Möglichkeiten, anderen Bedingungen und anderen Anforderungen. Und weil jungen Leuten ja heute die ganze Welt offen steht, steigen vor allem die Anforderungen an sich selbst. Es zu versuchen. Es weiter zu bringen. Noch weiter zu gehen. Und noch länger im Büro zu hocken. Nur um sich irgendwann einmal an dem Luxus zu erfreuen, genau das zu machen, was man will. Oder wie es der Soziologe Ulrich Bröckling im Zuge der jüngsten Shell-Umfrage treffend bezeichnet hat: unter den Fittichen eines grenzenlosen Selbstoptimierungsimperativs zu stehen, bei dem man von Kopf bis Fuß zum Unternehmer in eigener Sache mutiert. Und was für Sachen! Schlemmen statt genießen, kackebraun statt anthrazit, eine Hängeleuchte aus Klopapier statt dem Sport-Coupé in Matt-Lackierung. Das ist ganz schön viel verlangt, von der Wirtschaft und von einem selbst.
Viele meiner Freunde und Bekannten arbeiten mit Farben, Linien, Formen und Bildern, 16 Stunden am Tag, selbstständig. Sie haben irgendwann gemerkt, dass sie unter dem Deppen von Chef nicht arbeiten können, dass sie zu wenig Geld verdienen, dass das, was sie da machen, letztendlich nur einem Firmenboss dient, der sich dank der gelungenen Plakatkampagne den dritten Urlaub auf Mauritius genehmigt. Nun setzen sie alle Hebel in Bewegung, um andere Menschen von ihren Formen, Farben und Linien zu überzeugen. Je erfolgreicher sie werden, desto eher scheint die eigene Handschrift zu verschwinden, die Radikalität der Ideen zu verebben und sich die Beschaffenheit des Werks zur beidseitigen Zufriedenheit von Schöpfer und Käufer einzupendeln.
Denn was schlussendlich zählt, ist eben nicht einer, es sind viele. Es sind Kunden, Leser, Renate, Dr. Dr. Hofrat, die Studentin und der Opa. Es sind alle und niemand, aber niemals nur man selbst. Und so gesehen sind alle, die glauben, nur ihre Zeilen, nur ihre Illustrationen, nur ihre Sketches, nur ihre schauspielerische Interpretationen seien das einzig Wahre, immer auf dem Holzweg. Und obendrein frustriert, wenn Ihre Mühen nicht belohnt werden. Diese Einsicht macht aua.
Denn meine Generation ist ein schmerzhaftes Paradoxon: Wir sehen uns als Inbegriff selbstbestimmter Freiheit, und sind darin doch gefangen. Wir wollen alles raus posaunen, und haben eigentlich gar nicht viel zu sagen. Es geht auch nicht darum, was wir sagen. Hauptsache wir sagen es. Unretuschiert und ungekürzt. Wir sind so schrecklich selbstverliebt und dabei so unsicher wie noch nie. Diese Wut und die verzweifelte Versteifung auf uns und unser Werk verkörpern für mich die letzten Tage der Jugend. Und einen nie enden wollenden Idealismus. Der Glaube an uns und das Misstrauen in die Welt, die uns Einzelne angesichts ihrer tausenden pulsierenden Verlockungen ohnehin im Stich zu lassen scheint, sind die letzten beiden Gewissheiten. Wir klammern uns an sie wie an einen rutschigen Rettungsring.
Ich kann zur Zeit nur auch nur staunen, wie viele Fragen gleichzeitig in meinem Kopf in der ersten Reihe tanzen wollen. "Was?" steht kurz vor "Warum?", dick und fett daneben das "Wie?". Und irgendwo im Hinterstübchen, neben dem dösenden "Weshalb eigentlich?" lauern ein paar Antworten. Eine davon könnte lauten: Mach dich nicht fertig. Lass mal langsam angehen. Denn oft ist das, was die Realität so zu bieten hat, nicht so schlimm wie erwartet. Und die Sachen, die andere machen, sind auch nicht so bescheuert. Man erledigt seine Arbeit, man bemüht sich, es gut zu machen, man versucht, mit den Kollegen, seiner Familie, mit seinen Interessen und Hobbies und vor allem mit sich selbst eine gute Zeit zu haben. Komme was wolle. Ist nicht in Wahrheit genau das der volle Luxus? Ich hoffe, ich sitze eines Tages genauso im Garten wie meine Mutter, lese meine alten Artikel und habe die Antwort darauf schon gelebt.
Foto: Markus Ofner