Mamma Mia

Früher verstand unsere Autorin nie, dass ihre Mutter sich immer Sorgen um sie machte. Dann bekam sie selbst einen Sohn - und wurde zu einer anderen Tochter.

Illustration: Serge Bloch

Mein Sohn ist 21. Er lebt nicht mehr bei mir, sondern in einer anderen Stadt, dort studiert er. Ich weiß nicht, wann er nachts nach Hause kommt und in welchem Zustand. Nach dem Abitur reiste er mit dem Rucksack durch Asien und Mittelamerika, ab und zu schickte er eine kurze Mail: Es geht mir gut, hab Leute kennengelernt, wir wollen auf eine Insel, kann sein, dass ich ein paar Tage nicht erreichbar bin.

Ich bin froh, dass er mich auf dem Laufenden hält. Eigentlich habe ich keinen Grund zur Sorge. Und doch hat mich, seit er auf der Welt ist, eine latente Unruhe nicht mehr verlassen.

In der ersten Nacht seines Lebens konnte ich kaum schlafen. Vor Liebe und vor Angst. Da lag er in diesem durchsichtigen Krankenhaus-Babybett, winzig, hilflos, beglückend. Alle zwei Minuten beugte ich mich über ihn, um zu hören, ob er noch atmet.

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Eine so existenzielle Angst hatte ich noch nie empfunden. Hatte nicht geahnt, wie schnell ein Mensch so wichtig werden kann, dass das Leben sich in eine Katastrophe verwandeln würde, wenn er nicht mehr da wäre.

In jener Nacht kam mir zum ersten Mal in den Sinn, dass meine Mutter auch mal so jung war und ein Baby im Arm hielt, das gerade geboren war. Ich fragte mich, ob das Wunder Kind sie auch so überwältigt hatte, wie es mich jetzt überwältigte. Ob sie mich auch so schnell und bedingungslos geliebt hatte ich wie ich jetzt meinen Sohn. Ob sie auch solche Angst hatte um mich, vom ersten Moment meines Lebens an.

So hatte ich meine Mutter noch nie gesehen. Als Teenager fühlte ich mich schikaniert, weil sie mir vorschrieb, wann ich abends zu Hause zu sein hatte, und warf ihr vor, niemand müsse so früh nach Hause kommen wie ich. Auch später noch war ich genervt, dass ich in Spanien ewig nach einer Telefonzelle suchen musste, um ihr zu sagen, ich sei gut angekommen. Sie verteidigte sich: »Ich mach mir Sorgen um dich!« Aber das bedeutete mir nichts. Weil ich nicht wusste, was das sein sollte: sich Sorgen um jemanden zu machen.

Als ich Mutter wurde, verstand ich. Nach 14 Monaten schlief mein Sohn zum ersten Mal durch. Als ich wach wurde, raste ich in sein Zimmer, vor meinem inneren Auge das tote Kind. Ein andermal, auf einer Fähre, verlor ich ihn kurz aus den Augen, irrte panisch umher und sagte mir selbst, dass ein kleines Kind nicht über die Reling stürzen könne. Er saß auf einer Bank und fütterte eine Möwe. Als er zwölf war, wanderte er mit den Pfadfindern drei Wochen durch Griechenland. Ich hörte zehn Tage lang nichts von ihm, so war es auch abgemacht, trotzdem war mir nach einer Woche übel vor Sorge. Als er 15 war, ging er für ein halbes Jahr nach Kanada. Die Stunden, bis er sich von dort meldete, die Stunden also, in denen er um die halbe Welt flog, in Toronto umstieg, in Saskatoon von fremden Menschen abgeholt und auf eine Farm in der Prärie mitgenommen wurde, waren für mich eine Tortur.

Mein Sohn kann nicht ermessen, wie groß meine Angst um ihn ist. Ich sage ihm das auch nicht. Aber ich bitte ihn, mir eine SMS zu schicken, wenn er bei mir zu Besuch ist und nachts nicht nach Hause kommt. Auch wenn ich natürlich nicht weiß, was er in all den Nächten macht, in denen er woanders ist.

Da bin ich wie meine Mutter. Seit ich ausgezogen bin, weiß sie fast nie, wann ich wo bin und wohin ich gerade fahre. Mir könnte immer was passieren, sie denkt nicht darüber nach. Aber wenn ich bei ihr war und nach Hause fahre, möchte sie, dass ich ihr eine SMS schicke, sobald ich angekommen bin. Seit ich meinen Sohn habe, mache ich das gern. Er hat mich zu einer besseren Tochter gemacht.