Oft sind bahnbrechende Ideen so einfach, dass man sich fragt, warum niemand früher darauf gekommen ist. Beispiele aus der Kunst: schwarzes Quadrat auf weißem Grund. Ein handelsübliches Urinal zum fertigen Kunstobjekt erklären. Das Manifest: »Jeder Mensch ist ein Künstler.« Im Fall von Joe Ramirez, der eine neue Dimension des Sehens erfunden hat, lautet die Idee: auf Gold projizierter Film.
Um das Wunder zu begreifen, muss man es mit eigenen Augen sehen. Aber erst wenigen Dutzend Menschen hat Ramirez sein Werk gezeigt, aus Furcht, ein bekannterer Künstler als er könnte ihm seine Idee klauen. Bitte nicht die Adresse seines Studios verraten, mailt er nach dem Treffen: Das Stichwort Gold könnte Einbrecher anlocken.
Nur so viel: Wir befinden uns in einem der unattraktivsten Viertel Berlins. Eine renovierte Turnhalle. Andächtige Stille. Das Licht ist aus. In der Mitte des Raumes hängt an einer schwarzen Wand eine schimmernde, mit Blattgold überzogene Holzscheibe von zweieinhalb Metern Durchmesser, die an einen überdimensionalen Gong erinnert. Ramirez schaltet den Projektor an. Filmsequenzen flackern über die Scheibe. Das Gold erstrahlt.
Es ist kein Strahlen, wie man es zu kennen meint, kein Bling-Bling und kein Gefunkel. Gold ist seit jeher der Stoff der Götter und Kaiser, Symbol für ewiges Leben und Reichtum. Es gibt kein Material der Welt, das mit mehr Bedeutung aufgeladen ist. Und nichts, was spektakulärer Licht reflektiert. Werden Bilder auf Gold projiziert, leuchten sie nicht nur heller als auf einer weißen Leinwand. Sie scheinen von innen zu strahlen, wie aus einer unbekannten Tiefe. Sie sind hyperreal und entrückt zugleich. Ramirez zeigt Szenen aus Somnium, einem von ihm gedrehten Film: Eine Frau im weißen Kleid steht an einem Fluss. Ein Junge stapft durch einen dunklen Wald. Ein Strauch raschelt im Wind. Szenen verschwimmen, Farben werden behutsam aufgefächert und verschmelzen mit dem Gold. Das erzeugt einen mystischen Sog, so stark, dass der Betrachter glaubt, das Kino neu zu entdecken. Es ist, als würde der Künstler den Blick auf eine innere Traumwelt freilegen. Als könnte man in einen Spiegel des Unbewussten schauen. Ramirez »zeichnet mit Licht«, so beschrieb es eine Kritikerin in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. In Zeiten, in denen Bilder inflationär geworden sind, jederzeit verfügbar auf Instagram, Youtube und Netflix, erfüllt er das Sehen wieder mit Magie.
The Gold Projections heißt Ramirez’ Meisterwerk, ein Zusammenspiel der goldenen Scheibe und seines Films Somnium, der auf der gleichnamigen Novelle von Johannes Kepler aus dem Jahr 1608 basiert. Man könnte jeden Film auf Gold projizieren. Ramirez wollte jedoch auch eine neue »Bildsprache des Traums« erfinden und schuf elegische, surreale Szenen, die auf der Scheibe wirken wie ein bewegtes Gemälde. Betrachter glauben nach der Vorführung, den Stein der Weisen gesehen zu haben. Jim Rakete und Wim Wenders versprachen Ramirez sofort ihre Hilfe. Patti Smith war von den ersten Goldbildern so begeistert, dass sie eine Rolle in Somnium übernahm. Sie sagte: »Das ist wie der Monolith in 2001«, der bewusstseinsverändernde schwarze Stein in Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker.
Ramirez ist 58 Jahre alt, hagere Statur, Cordhemd, Hände in den Hosentaschen, sanfte Stimme. Wenn Jeff Koons, der kaum älter ist, den Künstlertypus der Gegenwart verkörpert, ist Joe Ramirez das Gegenteil. Man kann ihn sich schwerlich beim Händeschütteln und Champagnertrinken auf der Art Basel Miami vorstellen. Ramirez hat etwas Verletzlich-Verschrobenes, Aus-der-Zeit-Gefallenes. Das Studio verlässt der US-Amerikaner kaum. Zuletzt wurde das Geld so knapp, dass er Wohnung und Auto aufgab. Seither schläft er in einer Kammer über der Halle, in einer zweiten wohnt ein kauziger norwegischer Philosoph namens Klaus gelegentlich zur Untermiete. Wenn Ramirez eine Verabredung im Restaurant hat, sagt er, er habe schon gegessen. Auf Facebook, Twitter oder Instagram sei er nie gewesen.
Die Gold Projections werden nun Anfang Februar erstmals öffentlich gezeigt, im Rahmen der Berlinale. Sie sind Ramirez’ Lebenswerk – und sein Debüt in der Kunstwelt. Das ist spät, erst recht wenn man bedenkt, dass er seit dreißig Jahren darauf hinarbeitet. »Es kam eben nie der richtige Moment«, sagt er.
Wie entstehen große Kunstwerke? Marcel Duchamp genügten für sein erstes Readymade ein provokanter Einfall und ein Gang ins Sanitärgeschäft. Pablo Picasso schuf im Lauf seines Lebens mehr als 50 000 Werke, nur wenige davon gelten jedoch als meisterhaft. Der Weg von Joe Ramirez gleicht einer langen, mäandernden Reise durch die Kunst- und Kinogeschichte, zu der er aufbrach wie ein Lehrling auf eine Wanderschaft.
Er wurde 1958 als Sohn eines Klempners in Kalifornien geboren, der Jüngste von fünf Brüdern. Eine Kindheit inmitten riesiger Eichen und weitläufiger Working-Class-Siedlungen, lange Sommertage und sehr viel Sonne. Die Familie lebte in Menlo Park, 15 Autominuten entfernt von der Garage, in der Steve Jobs seinen ersten Apple-Computer bastelte und wo heute junge Facebook-Millionäre auf 2000-Dollar-Fahrrädern zur Arbeit kommen. Seine Brüder interessierten sich für Motorräder und Mädchen, Ramirez malte Comicbuch-Cover und zimmerte Kajaks. Mit 15 fand er ein schrottreifes MGA-Coupé und restaurierte es drei Jahre lang, bis es in einem Topzustand war. Seine Klassenkameraden gingen nach der Schule nach Stanford und Berkeley. Ramirez flog mit dem Geld, das er durch den Verkauf des Coupés eingenommen hatte, nach Europa. »Ich bin aufgewachsen mit Shoppingmalls und hässlichen Gebäuden. Als ich in Florenz unter der Kuppel von Brunelleschi stand, begriff ich zum ersten Mal, was Geschichte bedeutet«, sagt er. Ramirez wollte Künstler werden und mit der Hand arbeiten, Dinge von höchster technischer Raffinesse herstellen. Um der Beste zu werden, spürte er, musste er in die Vergangenheit reisen.
In London schrieb er sich an einer Handwerksschule für viktorianische Möbel ein. Er suchte renommierte Kunsthistoriker auf und verbrachte jede freie Minute in Museen, um Gemälde zu studieren. Das Ashmolean Museum, das älteste in England, besuchte er etwa vierzig Mal. »Ich sah mir jeden Pinselstrich an und versuchte das Verfahren zu begreifen«, sagt er. Geld verdiente er mit Möbeln. Ramirez war nie in China, aber er lernte, perfekte Repliken von Stühlen aus der Ming-Dynastie zu bauen.
Mit 31 konnte er sich ein Studium leisten. An der Kunsthochschule in Chicago, wo er neben Malerei auch Film studierte, entdeckte Ramirez die Welt großer Kinopoeten wie Terrence Malick, Andrej Tarkowskij und Wim Wenders. Ramirez selbst hätte eine Figur in einem Drehbuch seiner Lieblingsregisseure sein können: ein Träumer und Eigenbrötler, der Seelenverwandtschaft in Kunstwerken sucht und sich nach Stille sehnt. In einem Benediktinerkloster restaurierte er nach dem Studium zehn Jahre lang die Fresken der Kapelle.
Dort wurde er ein Meister der Goldmalerei, eines Handwerks, das außerhalb der Welt der Museen und Kirchen so gut wie ausgestorben ist. Blattgold ist hundert Mal dünner als Zigarettenpapier. Bis man es mit einem Pinsel aus hauchzartem Eichhörnchenhaar so auftragen kann, wie Künstler in der Renaissance es taten, dauert es mehrere Jahre. Ramirez, besessen in jedem Detail des künstlerischen Schaffensprozesses, reiste um die Welt, um den Spuren seiner Helden zu folgen: Im Vatikan überredete er die Museumsleitung der Sixtinischen Kapelle, ihn mit einem Lastenaufzug bis unter die Decke fahren zu lassen, um Michelangelos Freskentechnik zu studieren. In Washington redete er so lange auf den besten Goldmaler des Landes ein, bis dieser ihm Privatunterricht gab. 1989, noch vor dem Mauerfall, flog er nach Moskau, um den Kameramann seines Regie-Idols Andrej Tarkowskij zu treffen.
»Ich brauchte dreißig Jahre, um der Künstler zu werden, der ich sein wollte«, sagt Ramirez. Nach einem zweiten Studium, das er mit Anfang vierzig am Royal College of Arts in London absolvierte, fing er an, mit Filmprojektion auf Goldgrund zu experimentieren. 2008 zog er nach Berlin. Zwei Jahre dauerte es, bis er die verfallene Turnhalle zu einem Studio hergerichtet hatte. Weitere zwei Jahre vergingen, bis Wim Wenders ein Treffen zusagte. Er kam eines Abends im September 2013, auf dem Rad. Wenders ließ sich zwei Szenen zeigen und sagte: »Stopp. Wer hat das schon gesehen? Warten Sie, bevor Sie es noch mehr Menschen zeigen. Wir müssen das richtig angehen. Haben Sie ein Patent?«
Ramirez’ Angst vor Ideenklau ist nicht unbegründet. »Gute Künstler kopieren, große Künstler stehlen«, sagte Pablo Picasso. Dass Starkünstler die unveröffentlichten Werke weniger bekannter Kollegen plagiieren, kommt häufiger vor, als es die Kunstgeschichte erwähnt. Yves Klein ließ sich als Erster eine Farbe patentieren – das weltberühmte »International Klein Blue«. Als der britisch-indische Bildhauer Anish Kapoor sich kürzlich die Exklusivrechte an »Vantablack« sicherte, dem schwarzesten Schwarz der Welt, löste er Proteste unter anderen Künstlern aus, die ebenfalls mit der Farbe arbeiten wollten.
Seit September vergangenen Jahres kann Ramirez etwas besser schlafen: Er ist nun Inhaber des Patents mit der Nummer US 9448465 B2. »Ich bin bereit«, sagt er. In wenigen Tagen wird Ramirez Somnium im Kulturforum auf die Goldscheibe werfen. In einer Szene leuchtet Patti Smith wie eine göttliche Ikone. Smith und Ramirez haben sich dreimal getroffen, auf Empfehlung von Wenders. Sie wurden sofort Freunde. »Ich wollte nie ein Studio mit hundert Angestellten. Ich will Poesie schaffen, das ist alles. Patti hat das ohne Worte verstanden. Auch sie ist ihren Vorbildern oft bis ans Grab gefolgt. Sie kennt meine Reise.«
Es ist kaum zu sagen, welches Potenzial in seinem Patent steckt. In Zeiten, in denen Kinos weltweit unter Publikumsschwund leiden, versucht die Filmindustrie, das physische Seherlebnis immer exklusiver zu machen: 3-D, 4-D oder, wie kürzlich in Ang Lees Experimentalblockbuster Billy Lynn’s Long Halftime Walk, 120 Bilder pro Sekunde statt der üblichen 24. Also Goldbilder im Kinosaal? »Das würde ich nie machen«, sagt Ramirez, die Frage scheint ihn zu entrüsten. »Ich bin Künstler.« Es gibt auch praktische Einwände. Die Herstellung einer solchen Leinwand wäre äußerst aufwendig und teuer. Ramirez überlegt. »Vielleicht würden sie es in Abu Dhabi machen«, sagt er schließlich. Seinem Blick nach zu urteilen, ist der Gedanke doch nicht ohne Reiz. Aber alles zu seiner Zeit.
Fotos: Urban Zintel