New York, Upper East Side, beim Guggenheim Museum. Lillian Bassman hat in ihrem Leben nur wenige Interviews gegeben, sie langweile sich immer schrecklich dabei, sagt die 92-Jährige. Dann aber erzählt sie aus ihrem Leben, das sie mit dem Mann verbrachte, den sie mit 17 heiratete, dem Fotografen Paul Himmel. Vor einem halben Jahr ist er gestorben, darüber will sie nicht sprechen. »Er ist der einzige Mann, der mich nie gelangweilt hat«, sagt sie nur. Derzeit erlebt Bassman den zweiten Höhepunkt ihrer Karriere: In Galerien in New York und Los Angeles sind ihre Bilder in Einzelausstellungen zu sehen, ihre und Paul Himmels Werke stehen mit fünfstelligen Preisen zum Verkauf. Ab 27. November wird in den Hamburger Deichtorhallen eine Retrospektive der beiden Künstler gezeigt.
SZ-Magazin: Frau Bassman, in den Vierzigerjahren haben Sie sich für einen damals reinen Männerberuf entschieden. Warum wollten Sie Fotografin werden?
Lillian Bassman: Wegen Hans Memling. Anfang der Vierziger bin ich mit meinem Mann in alle möglichen New Yorker Ausstellungen gegangen. Unsere Lieblinge waren die alten Meister, und in der Sammlung Frick erlebte ich dann diesen magischen Moment: Ich habe gesehen, wie Hans Memling, der große Maler des 15. Jahrhunderts, in seinen Bildern die Frauen inszenierte. Da ist mir klar geworden, dass man Kleider anders drapieren muss, als die Fotografen es in den Magazinen machen. Ich ging immer wieder hin und studierte jedes Detail. Den zweiten entscheidenden Moment verdanke ich den lang gestreckten Figuren El Grecos – diese Eleganz! Ich habe fast meinen Verstand verloren, so hat mich die Schönheit überwältigt. Diese Ideen wollte ich in eigenen Bildern umsetzen.
Während Sie sich mit der Ästhetik beschäftigten, wurde New York von der Rezession gebeutelt.
Aber das hat uns nicht weiter interessiert. Wir haben uns ausschließlich in der progressiven Kunstszene bewegt, haben getanzt und flaschenweise Rotwein getrunken. Wir haben über Kommunismus diskutiert, als jeder sonst versuchte, sein Geld zu retten. Ich habe Zigarre geraucht und gepokert wie ein Kerl. Meine Freundin Roz Roose, eine exzentrische Trotzkistin, und ich waren die Stars der New Yorker Intellektuellenszene: hübsch, kreativ, hemmungslos. Das war damals sehr ungewöhnlich für Frauen. Sie studierten mit den Pionieren der Modefotografie, Irving Penn, Richard Avedon, Sir Cecil Beaton und beim langjährigen Art Director der Zeitschrift Harper’s Bazaar, Alexey Brodovitch. Wie haben Sie es in diese Männerrunde geschafft?
Ganz einfach: Ich habe Brodovitch meine Mappe mit Mode-Illustrationen geschickt. Daraufhin hat er mir ein Stipendium gegeben.
Und wie war die Arbeit mit ihm?
Wir haben zwar nichts verdient, aber verdammt viel gelernt! Die Fotografie war zu dieser Zeit immer noch sehr statisch; Brodovitch hat gepredigt, dass wir unsere Wahrnehmung strapazieren sollen, dass wir alle Dinge, unsere Arbeiten und uns selbst immer wieder anders und neu betrachten sollen. In den Mittagspausen habe ich dann mit den Negativen der Bazaar-Fotografen experimentiert, habe mit Säure die Härte aus den Fotos genommen und die Fotografien so weit verfremdet, bis sich El Greco mit Hans Memling zu meiner Idee von Ästhetik vereinte.
Können Sie diese Idee beschreiben?
Ja, am besten anhand eines Fotos, das ich 1996 für das New York Times Magazine gemacht habe. (Siehe Seite 30, Anm. d. Red.) Das Model Anneliese Seubert trägt Haute Couture, ihr Hals ist lang und grazil, die Farben sind Schwarz und Braun-Beige, es gibt keine überflüssigen Details. Es ist mehr der Schatten der Frau, der über das Bild schreitet. Das macht es erhaben und geheimnisvoll, verleiht ihm eine besondere Romantik.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Romantik ist unser letztes Stück Freiheit.")
Ist Romantik wichtig für die Kunst?
Romantik bedeutet für mich, sich nicht von Konventionen einsperren zu lassen; sie ist unser letztes Stück Freiheit. Ich habe in meinem Leben viel gearbeitet und zwei Kinder groß gezogen, mir blieb nicht viel Zeit zum Träumen. Aber nachts konnte ich mich in meine Dunkelkammer zurückziehen und frei experimentieren.
1942 wurden Sie Brodovitchs Assistentin, dann Art Director von Junior Bazaar. Und Sie haben sich mit dem Fotografen Richard Avedon angefreundet. War Ihr Mann eifersüchtig?
Aber nein! Wir waren gute Freunde, haben uns jeden Sommer ein Haus auf Fire Island an der Küste von New York geteilt. Wir haben das Leben geliebt, waren wild, rissen uns die Kleider vom Leib und rannten ins Meer. Wir waren Hippies, bevor es Hippies gab.
Mit welchem Auftrag verdienten Sie Ihr erstes Geld?
Richard Avedon ging 1947 für sechs Wochen nach Paris und bot mir an, sein Studio zu benutzen. Da habe ich meinen ersten Werbeauftrag für Dessous bekommen: Die Frau, belichtet wie ein Gemälde von Vermeer, ist ganz natürlich aus der Bewegung heraus fotografiert. Das war neu – neben der Tatsache, dass sie sich den Slip vor die Augen hält und ihre nackte Brust zu sehen ist. Das hat damals für hochgezogene Augenbrauen gesorgt.
Was machte Ihr Mann Paul Himmel zu der Zeit?
Auch Paul hat unter Brodovitch studiert und von 1947 bis 1969 für die Vogue und Harper’s Bazaar gearbeitet. Nebenbei fotografierte er eigene Projekte, darunter die Serien über Boxer, Balletttänzer, Zirkusakrobaten. Er experimentierte mit der körnigen Struktur der Negative, arbeitete mit Silhouetten und abstrakten Formen.
Sie beide haben mit so viel Leidenschaft fotografiert, dennoch heißt es, dass Sie in den Siebzigern beschlossen haben, nie wieder zu arbeiten.
In dieser Zeit veränderte sich alles: die Kunst, die Fotografie, die Rolle der Frau – bis in die Vierzigerjahre waren Frauen nur Schmuckstücke des Mannes, sie unterhielten und kochten. Dagegen habe ich mich leidenschaftlich aufgelehnt. Als sich ab den Sechzigern die Geschlechterverhältnisse entspannten, gab es nichts mehr, wogegen ich kämpfen musste. Es kam die Zeit liberaler Freizügigkeit für die Massen, plötzlich wollte jeder gegen bürgerliche Konventionen sein. Aber ich war nicht mehr jung, hatte meine Kinder, Lizzy und Eric, um die ich mich kümmern musste. Die Models wurden jünger und damit nahm auch ihr Ausdruck ab: Ich habe mich gelangweilt und gekündigt. Auch Paul fasste nach 1969 keine Kamera mehr an.
So ging Ihr Lebenstraum zu Ende?
Ich wollte sogar alles wegwerfen: Ich habe die Negative in einen Müllsack geschnürt und vier Jahrzehnte Arbeit in den Hinterhof gestellt. 15 Jahre später klingelte die Nachbarin und brachte den Beutel zurück. Einige Negative waren zerstört, andere noch zu gebrauchen. Ich fing an, damit zu experimentieren, und bekam wieder Lust zu fotografieren. Als mein Londoner Galerist Martin Harrison zu Besuch war, entschied er, die Bilder auszustellen.
Und aus diesem Material entstand die große Bassman-Himmel-Retrospektive, die in Hamburg zu sehen sein wird. Freuen Sie sich?
Ich bin in erster Linie stolz, vor allem Paul zu Ehren. Endlich wird er gebührend gewürdigt. Er war der viel bessere Fotograf von uns beiden.
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Nach dem Gespräch erwähnte Lillian Bassman noch eine weitere Inspiration: Hollywood-Filme der 30er-Jahre. Die Autorin Imke Lohse sah sich daraufhin etliche an - und fand zwei Filme mit Greta Garbo, die Bassmans Bildsprache tatsächlich erkennbar beeinflusst haben: Mata Hari von 1931 und Camille von 1936.
Fotos: Lillian Bassman und Paul Himmel