Medaillenspiegel

Der Sport hat sich in unserer Gesellschaft konkurrenzlos breitgemacht in jenem Vakuum, wo vorher Gott war oder Marx oder der Dollar.

Wenn es eine friedliche, weltumspannende, metaphysikfreie Ideologie des 21. Jahrhunderts gibt, dann ist es der Sport. Der Sport erfindet eine Welt, die anders ist und nach der wir streben können, wenn uns öde und fad ist.

Und weil wir in einer Zeit leben, in der die Menschen sich nicht ganz entscheiden können, ob sie nun froh sind, dass sie den Ideologien entronnen sind, oder ob ihnen nicht doch ein wenig sanfter Terror fehlt, um die Welt in ihrem Gewimmel besser zu organisieren, hat sich der Sport konkurrenzlos breitgemacht in jenem Vakuum, wo vorher Gott war oder Marx oder der Dollar. Der Vorteil ist, dass der Sport nicht ganz so menschenverschlingend ist wie andere Ideologien; der Nachteil ist, dass er genauso die Sinne vernebelt.

Der Sport gliedert das Leben, den Alltag, die Zeit, er teilt die Gesellschaft auf in vertikale Systeme von Aufmerksamkeit und Aufstieg, er beruht im Gegensatz zur Religion oder zum Marxismus wesentlich auf Klassen und ist daher eher dem Kapitalismus verwandt.

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Der Sport lebt vom Versprechen von Partizipation und sogar Freiheit, er dient in armen Ländern als Ersatz für gesellschaftliche Emanzipation oder Gleichheit, er schafft in der Gleichgültigkeit der reichen Länder Momente der Erregung.

Der Sport gliedert den Rhythmus der Jahre, er lebt von Regelmäßigkeit und Verknappung der Zeit, und die Behauptung, dass ein Olympiasieg mehr wert sei als irgendein anderer Sieg, beruht auf diesem Glauben, der allein in der magischen Zahl »Vier« steckt. Was im Grunde nur metaphysikfreie Metaphysik ist.

Wie jede Ideologie braucht auch der Sport innerhalb des festen Systems so etwas wie Botschaften, Hinweise darauf, was richtig ist und was falsch – und so ist es kein Zufall, dass sich die einzelnen Geschichten und Triumphe etwa der Olympischen Spiele am Ende auf einen Medaillenspiegel verdichten, der in der Form jenen Gesetzestafeln ähnelt, die von eins bis zehn die Grundsätze der Gemeinschaft durchbuchstabieren.

Der Medaillenspiegel ist die reine Gestalt des Sports, er ist bloße Performance, vergeblich sucht man hier nach Verbindungen zur wirklichen Welt. Die Zahlen wirken wie Hinweise auf die geheimen Rituale einer Priesterkaste. Interessante Fragestellung: Was werden die Menschen in Zukunft einmal über uns sagen, wenn sie feststellen, dass unsere Götter zwei wabbelige Männer in Glitsch-anzügen waren, die sich aufeinanderschnallten, um in einem vereisten Rohr ins Tal zu schießen.

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Die Rubrik 50 Zeilen wird von drei Autoren abwechselnd geschrieben. Auf Georg Diez folgt nächste Woche Andreas Bernard, danach Tobias Kniebe.