Auf einmal waren sie keine Bauern mehr. Nach 40 Jahren harter Arbeit war Schluss für die Holzers, acht Jahre ist das jetzt her. Wenn Hans Holzer heute am Fenster sitzt, kann er ungefähr die Hälfte von dem sehen, was einmal sein Reich war: das Haus, in dem er all die Jahre gelebt hat, und ein Stück vom Stall, in dem früher die Kühe standen. Dahinter einen Teil der Wiesen, auf die er im Sommer mit dem Traktor gefahren ist, Tag für Tag. Hans Holzer sieht von seinem Austragshaus aus eine Welt, die sich in nur wenigen Jahren völlig verändert hat.
Aufhofen, Gemeinde Egling, eine halbe Stunde Fahrt südlich von München. Hier, ein paar hundert Meter vor dem Ortseingang, liegt der Brunthaler Hof, 1913 erbaut, benannt nach einer kleinen Senke direkt hinterm Haus, dem Brunthal. Überschaubar: vorn ein Wohnhaus, grüne Fensterläden, Geranien am Balkon, an der Fassade zwei Heiligenfiguren. Hintendran ein kleiner Stall, im rechten Winkel eine Scheune samt Geräteschuppen. Daneben das Austragshaus, 55 Quadratmeter auf zwei Stockwerken, die gleichen grünen Fensterläden, der erste Stock mit Holz verkleidet. Dazu zwölf Hektar Wiesen und drei Hektar Wald. Kein Prachthof, aber auch kein ärmlicher Hof, seit 1960 in dritter Generation bewirtschaftet von Hans und Rosina Holzer. 2001 übergeben an die Tochter Helene. Seitdem leben die Holzers im Austragshaus. Das Austragshaus, oft auch Zuhaus genannt, ist eigentlich eine schöne Idee: Im Ruhestand leben die Altbauern weiter auf ihrem Hof, Kinder und Enkel gleich nebenan; die Eltern helfen den Jungen, und wenn sie nicht mehr können, helfen die Jungen den Eltern. Aber das Austragshaus ist mehr. Es ist ein Symbol, eine Erinnerung an eine Zeit, in der Bauern noch nicht gegen die Regierung und gegen die EU demonstrierten, weil die Milchpreise im Keller sind, weil sie von ihren Einnahmen nicht mehr leben können, weil die Viehhaltung sich nicht mehr rentiert.
Bald nachdem die Holzers ins Austragshaus gezogen waren, mussten ihre Tochter Helene und deren Mann Sebastian Grimm eine harte Entscheidung treffen: Sie schafften die Kühe ab. »Es ist mir nicht leicht gefallen«, sagt Helene Grimm, 37, halblange Locken, Brille, eine freundliche, ernste Frau, sie strahlt eine Ruhe aus, die der stillen Umgebung des Hofs entspricht. Ihre Eltern hatten damals den Hof an sie übergeben, die Zweitjüngste von sechs Kindern, eher ungewöhnlich, aber der älteste Bruder war Schreiner geworden, die Schwestern arbeiteten als Sekretärinnen. Helene heiratete kurz vor der Übergabe des Hofes, ihr Mann Sebastian, heute 41, ein gelernter Maurer mit stoischem Blick und breiten Schultern, kam von einem Hof bei Rosenheim, er kannte sich mit der Landwirtschaft aus. Das passte. Zwei Winter lang zögerten die beiden, rechneten hin und her – dann war es vorbei mit den Kühen. Es lag am Stall.
Bis dahin hatte es auf dem Hof 19 Milchkühe gegeben, dazu noch mal so viel Jungvieh, zur Nachzucht. Den Stall hatten die Holzers nie auf den neuesten technischen Stand gebracht, immer fehlte das Geld, es gab keine Förderbänder, keine automatische Entsorgung, also: Futter mit der Schubkarre rein, Mist mit der Schubkarre raus, jeden Morgen, jeden Abend, auch am Wochenende, auch an Feiertagen. Die Tiere gaben den Takt des Lebens vor, den Rhythmus des Alltags.
Warum sich die Arbeit nicht mehr rentierte, kann Helenes Vater erklären. Hans Holzer, 78, schüttere weiße Haare, der Rücken gebeugt vom Alter, sitzt im Austragshaus am Tisch und sagt, das Problem sei, dass jetzt alle so viel Milch verkaufen dürfen. Früher waren niedrige Obergrenzen vorgegeben, jetzt aber gelten die Gesetze des Wettbewerbs, und in dem drücken die Großbetriebe die Preise, weil sie es sich leisten können. Holzer ist ein Mann, der ruhig spricht, ab und zu legt er die Hand ans Ohr, weil er seinem Hörgerät nicht traut. Nur beim Thema Milch wird er lauter, er haut auf den Tisch, und man kann sehen, was für aufgearbeitete, ledrige Hände er hat. Er schimpft: »Es war die größte Dummheit, dass sie das Milchkontingent erhöht haben. Die Milch muss knapper sein! Dann steigt auch der Preis. Wenn man alles dem freien Markt ausliefert, dann geht es mit der Landwirtschaft dahin.«
Die Frage ist natürlich, wie lang sich ein Wirtschaftszweig dem freien Markt verweigern kann. Aber wenn man Holzer reden hört, wenn man sieht, wie er mit seinen Fingern in die Luft sticht, als wolle er seinen Sätzen zusätzlichen Schwung verleihen, merkt man schnell: Natürlich geht es hier auch ums Geld, vor allem aber geht es um Selbstverständnis. Da hat einer sein Leben lang eine Arbeit gemacht, hat dieses Leben von ihr bestimmen lassen, und auf einmal soll das alles nichts mehr wert sein?
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Man kann es sich ausrechnen: In den letzten zwölf Monaten ist der Milchpreis, den die Bauern in Bayern kriegen, von knapp 40 Cent auf unter 25 Cent gefallen. 25 Cent pro Liter. Die 19 Kühe auf dem Brunthaler Hof gaben am Tag gut 200 Liter Milch. Würde heute 50 Euro am Tag machen, im Monat gut 1500 Euro. Davon ist noch nichts gezahlt, kein Traktor, kein Diesel, keine Reparatur am Haus. Was bliebe nach Abzug der laufenden Kosten? Die Hälfte vielleicht, 700 Euro, 800 Euro. Und dann kommt die Steuer.
Rosina Holzer, 75, Dutt, Brille, Mutter von sechs Kindern, Großmutter von acht Enkeln, eine stille Frau, sitzt neben ihrem Mann, die Hände auf den Knien gefaltet wie zum Gebet, sie schüttelt sachte den Kopf und sagt: »Heute kann man nicht mehr leben von 20 Kühen, nein.«
Gleich hinter dem Haus beginnt reinstes Voralpenidyll: endlose Wiesen, ein paar Hügel, zwischen denen der Zwiebelturm einer Kirche hervorragt, dahinter, wie aquarelliert, die Berge. Am Stall drüben hängen vergilbte Plaketten aus den Sieb-ziger- und Achtzigerjahren, Trophäen einer anderen Zeit: »Zuchtverband für oberbayerisches Alpenfleckvieh Miesbach – über 50 000 kg Lebensleistung«. Viermal das Prädikat »Sternkuh – Arbeitsgemeinschaft Süddeutscher Rinderzuchtverein«. Im Stall aber stehen nur ein paar leere Eimer, in der Ecke verstaubt eine Schubkarre. Ein Ort ohne Funktion. Man sieht die Spuren der Landwirtschaft, wie sie die Holzers vier Jahrzehnte lang betrieben haben, aber es gibt keine Gegenwart mehr. Hans Holzer sagt: »1960 hatten wir hier in Aufhofen 19 landwirtschaftliche Betriebe, jeder hat Kühe gehabt. Heute nur noch einer.«
Das Dorf wirkt wie ein Anzug, der seinem Träger zu groß geworden ist. 190 Einwohner, eine Kirche, eine Wirtschaft, ein Weiher, außenrum Höfe ohne Tiere, merkwürdig aufgeräumt, eine Siedlung aus zu großen Einfamilienhäusern. Früher war Aufhofen ein Bauerndorf. Jetzt ist es nur noch ein Dorf.
Rosina Holzer zuckt mit den Schultern und schweigt. Es ist, wie es ist. Da verschwindet etwas, aber was genau das ist, kann keiner sagen. Sind jetzt nur die Kühe weg? Oder mehr? Hans Holzer sieht seine Frau an und sagt: »Es wird alles weniger.« Die Erinnerungen an früher sind mit den beiden ins Austragshaus gewandert. Wie die Gegenwart aussieht, das können sie von ihrem Wohnzimmer aus beobachten: Frühmorgens verlässt Sebastian Grimm, ihr Schwiegersohn, das Wohnhaus, er verdient das Geld für sich, seine Frau und die drei Kinder, Sebastian, 8, Katharina, 6, und Marlene, 4, als selbstständiger Maurer auf Baustellen zwischen Wolfratshausen und Rosenheim.
Ein Maurer verdient im Schnitt zwischen 2000 und 2500 Euro, das ist mehr, als die Viehhaltung einbringt. Immerhin, die Grimms versuchen es als Nebenerwerbslandwirte. Im Sommer vermieten sie ihre Wiesen an Bauern, die ihre Kühe zum Weiden herbringen. Pensionsvieh nennt man das. Und die viel diskutierten Subventionen? 2000 Euro im Jahr. Dafür, dass sie keinen Kunstdünger verwenden. Abends, nach der Arbeit, hat Sebastian Grimm noch zwei Stunden gut zu tun: Reparaturen auf dem Hof, Zäune ausbessern auf den Wiesen. Oder mit dem Traktor raus. Mähen. Heu einfahren. Das kann auch sein Schwiegervater noch, er hilft ab und zu, und wenn Hans Holzer auf dem Traktor sitzt, dann sieht er aus, als würde er auch innerlich zwei Gänge hochschalten. Dann ist er wieder Bauer.
Die Frage ist: Sind die Grimms überhaupt noch Bauern? Bei den Holzers war das früher ganz klar. Eine Frage des Stolzes. Hans Holzer erzählt: »Ab 1976 hat es nicht mehr gelangt, also habe ich die halbe Woche beim Sägewerk in Egling drüben gearbeitet. Aber ich war Landwirt – und nur im Nebenerwerb Sägewerkarbeiter. Bei den Jungen ist es heute genau umgekehrt.«
Früher sah ein Tag bei den Holzers so aus: Um fünf aufstehen, Kühe melken, Frühstück, mit dem Traktor raus, nebenher auch sechs Kinder großziehen, mittags alle zusammen am Esstisch, Arbeit auf dem Hof, in der Scheune, wieder Kühe melken, Abendessen, Licht aus um neun. Jeden Tag. Nie Urlaub. Im Ausland waren die Holzers zum ersten Mal nach der Hofübergabe: vier Tage Tirol, mit dem Waldbauernverband.
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Die Grimms heute: halb sieben aufstehen, der Vater fährt zur Arbeit, die Mutter bringt die Kinder in den Kindergarten und kümmert sich um den Haushalt, mittags kommen die Kinder heim, Essen ohne Vater, danach Hausaufgaben, zum Abendessen kommt der Vater, der dann meistens noch etwas auf dem Hof tun muss. Ab und zu bleibt Zeit, Freunde für ein Wochenende zu besuchen oder Ausflüge zu machen.
Das Leben der Grimms könnte auch das einer Familie in der Stadt sein. Manchmal hat Helene Grimm das Gefühl, dass etwas nicht ganz stimmt. Sie sagt: »Wir sind die Familie eines Maurers. Auch recht. Aber es ist schade, dass die Landwirtschaft nur noch eine Nebengeschäft ist.«
Für die Altbauern ist es nicht leicht, das alles mit anzusehen. Gleich nach der Hof-übergabe hat sich Hans Holzer noch um den Stall gekümmert, morgens eine Stun-de, abends eine Stunde. Dann wurden die Kühe verkauft. Heute steht er um sechs auf, dann wartet nur das Frühstück. »Früher habe ich Hunger gehabt nach der Stallarbeit«, sagt er, »jetzt schmeckt’s mir da noch gar nicht richtig.« Rosina Holzer hilft ihrer Tochter bei der Wäsche, Hans Holzer fährt seinen Enkel zum Fußballtraining oder zum Trachtenverein.
Den Generationenvertrag beschreibt He-lene Grimm so: »Die Kinder kümmern sich um die Eltern, dafür kriegen sie einen sicheren Arbeitsplatz.« Aber immer häufiger ist der Arbeitsplatz nur noch ein halber, wenn überhaupt. Heute arbeiten gerade mal zwei Prozent der Berufstätigen in Deutschland in der Landwirtschaft, in den Fünfzigerjahren waren es noch 24 Prozent. Die Zahl der Bauernhöfe in Deutschland hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten fast halbiert. Noch sind es rund 375 000 Höfe, ein Drittel davon in Bayern.
Nach einer Schätzung des Bauernverbands leben höchstens noch in einem Drittel der Austragshäuser tatsächlich die Altbauern, der Rest: Wochenendhäuser für Menschen aus der Stadt, Schuppen, Garagen – oder einfach Ruinen. Manche von ihnen stehen so trist in der Gegend wie einst, als alles angefangen hat: Im 19. Jahrhundert begannen Landwirte, für die Altbauern kleine Häuser zu bauen, den Austrag, damit die aus dem Weg waren und sich vom Betrieb fernhielten. Die Alten wussten alles besser, die Jungen hatten ihre eigenen Pläne, und spätestens wenn es um Geld ging, um verkauften Grund und teures Zuchtvieh, dann war es mit dem Frieden zwischen den Generationen oft vorbei.
Deshalb werden bis heute Hofübergaben und Austragsbedingungen bis ins letzte Detail per Vertrag geregelt. Die Holzers und ihre Tochter fuhren damals zum Notar nach Wolfratshausen. »In unserem Vertrag steht sogar, dass meine Eltern die Geräte mitbenützen dürfen, also den gleichen Hofbesen«, sagt Helene Grimm. Die Entscheidungen auf dem Hof überlassen die Holzers ihrer Tochter, »aber ab und zu sagt mein Vater schon, das haben wir früher anders gemacht«.
Und dann ist da noch das Austragsgeld festgelegt, ein paar hundert Euro monatlich. Die Versorgung der Altbauern im Austragshaus sieht so aus: kostenloses Wohnen plus Austragsgeld plus Rente aus der Alterskasse der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, gesetzlich geregelt seit 1957, sie liegt zurzeit im Schnitt etwas über 400 Euro.
Helene Grimm nennt das Austragsgeld eine »Direktrente«. Schöner Gedanke. Aber am Alterskassensystem der Bauern lässt sich ablesen, wie es mit der Landwirtschaft dahingeht: 2007 kamen auf rund 630 000 Rentenempfänger nur noch gut 280 000 Beitragszahler.
Nichts muss bleiben, wie es ist, nur weil es so ist. Die Frage ist, was danach kommt. Helene Grimm sitzt in der niedrigen Küche des Wohnhauses am Tisch mit dem blümchengemusterten Wachstuch, in der Ecke eine Holzbank, an der Wand Zeichnungen der Kinder. Sie sagt: »Auch wenn es finanziell eng ist, es kam für uns nie in Frage, alles zu verkaufen. So ein Hof gehört einem und gehört einem irgendwie doch nicht. Man muss ihn ja wieder an die nächste Generation weitergeben.« Ob ihn aber eins ihrer Kinder eines Tages übernehmen wird, ob sie selber mal im Austragshaus wohnt – wer weiß das schon? Sie zuckt mit den Schultern.
Vielleicht würde es sich ja doch lohnen, das Land zu verkaufen. Zwölf Hektar Grund, da käme was zusammen, die Nebenerwerbsarbeit fiele auch weg. Helene Grimm sagt: »Nein. Wir überlegen sogar, ob wir einen Kredit aufnehmen und einen neuen Stall bauen, für zehn bis 15 Rinder. Wir wollen wieder Viecher. Obwohl es sich nicht rentiert.«
Sie sieht zum Fenster hinaus und schweigt lange. Im Haus ist es ganz still, auch von draußen kommt kein Laut. Man könnte jetzt fragen, warum der Aufwand, warum das Risiko, warum das alles nötig sein sollte. Und mitten in die Stille hinein, als hätte sie sich das selbst gefragt, sagt Helene Grimm leise: »Weil es halt einfach so gehört.«
Robert Voit (Fotos)