Wie hat man sich die jungen deutschen Konservativen heute vorzustellen? Junge Menschen, die in großen, blühenden Villengärten auf Decken sitzen, Spargel essen und Weißwein trinken, dabei Furtwänglers Einspielung von Beethovens Egmont-Ouvertüre lauschend, wie ein Kollege von mir vermutet? Die Mädchen könnten enge Stüssy-T-Shirts und Evisu-Kleider tragen, dazu Turnschuhe oder Loafer, die Jungs helle Beach Pants, alte Rolex-Uhren und Flip-Flops. Und alle sind sie in den jüngsten Verästelungen der Popkultur ebenso zu Hause wie in den Schinkel-Gemälden der alten Nationalgalerie. Dort sitzen sie dann bei einem Wasser und überlegen sich, eine Gipsstatue für das Arbeitszimmer zu kaufen. Vielleicht kommt Deutschlands jungen Konservativen die Zeit für solch idyllischen Müßiggang schneller abhanden als gedacht. Denn mit ihrem Rückzug ins politische Abseits ist es erst einmal vorbei. Die Zeichen stehen auf Sturm, seitdem die rot-grüne Regierung sich und der Welt ihr Scheitern eingestanden hat. Mit einem Schlag steht die Union im Rampenlicht. Es wird einen Wahlkampf geben, der auch ein Krieg der Ideen ist – nicht nur Wachstumszahlen und Steuern stehen zur Debatte, sondern Weltanschauungen. Wie gut ist der Konservatismus in Deutschland für diese Auseinandersetzung gewappnet? Lebt er überhaupt noch? »Der Konservatismus ist nicht tot. Er war nur noch nie so konfus«, stellt der Kolumnist Andrew Sullivan fest. Sullivan sieht ein tödliches Ringen am Werk zwischen den »Konservativen des Glaubens«, die mit Hilfe des Staates moralische Werte durchsetzen wollen, und den »Konservativen des Zweifels«, die so wenig Staat wie möglich wollen, schon gar keinen, der den Leuten in ihr Privatleben hineinregiert. Der deutsche Konservatismus muss noch ganz andere Zerreißproben aushalten: Marktliberale und Sozialstaatsbewahrer, Transatlantiker und Europa-Fixierte, untergehende Nationalkonservative versus Kosmopoliten, Lebensschützer und Forschungsbegeisterte, kleines c gegen großes C, Dorfschänken gegen Internetcafés. Sogar eine stattliche Anzahl Neocons, Anhänger amerikanischer konservativer Strömungen also, haben wir inzwischen, allerdings meist ohne Parteibindung. Die alle verbindende Klammer des Antikommunismus fiel mit 1989 weg. Ist nun der Kampf gegen 1968 der Kitt? Oder verleiht das Diffuse gerade die Geschmeidigkeit, die es braucht, um in einer weit gehend sozialdemokratisierten Gesellschaft am Ball zu bleiben? Ein gutes Beispiel für die Widersprüchlichkeiten des deutschen Konservatismus ist Eckart von Klaeden, parlamentarischer Geschäftsführer der Union und Mitglied der »Boy Group« der Parteivorsitzenden Angela Merkel. Wenn er, bekannt als Unionsvertreter im Visa-Untersuchungsausschuss, einem so gegenübersitzt, zwischen den Bergen von Akten, die den Schwung der Affäre längst erstickt haben, ist vom Furor eines Linkenhassers allerdings nichts zu spüren. Von Klaeden, Sohn aus engagiertem, großbürgerlichem Haus, norddeutscher Protestantismus, Bob-Dylan-Verehrer, war drauf und dran, in die SPD einzutreten, nachdem er damals, 1977, eine Rede von Helmut Schmidt zur Befreiung der Landshut aus den Händen der Terroristen gehört hatte, die bei ihm »eine Gänsehaut« auslöste. Er hat dann die Ortsverbände der Jusos abgeklappert und stieß befremdet auf diesen Schmidt-Hass, der in der Nachrüstungsdebatte geradezu eskalierte. »Ich galt schon bei meinen Freunden in der evangelischen Jugendarbeit als der Eckart, der für die Raketen ist. Da habe ich dann darüber hinweggesehen, dass es mir eigentlich gegen den Strich geht, wenn man, wie die JU-Leute damals, mit dem Golf Cabrio zum Grillfest fährt und dabei Sekt trinkt, und bin eben in die Union eingetreten.« Von Klaeden versteht sich zwar ohne Wenn und Aber als Konservativer mit skeptischem Menschenbild, Wertschätzung von Familie und klassischer Bildung. Die Achtundsechziger hält er für deutlich überschätzt.
Er gesteht ihnen eine gewisse kulturelle Belebung zu; aber mit ihrer Schwäche für Diktatoren wie Mao und Ho Chi Minh könnten sie die Demokratisierung der Bundesrepublik nicht für sich verbuchen, am allerwenigsten Joschka Fischer: »Wer nach Brandts Kniefall in Warschau 1970 immer noch glaubte, man habe es in Deutschland mit einer Phalanx von Ewiggestrigen zu tun, und Anlass für Gewalt auf der Straße sah, der konnte dafür keine Ideale reklamieren.« Von Klaeden hat keine Angst, bei der Konfrontation mit Fischer uncool auszusehen. Er braucht auch keine mehr zu haben. Und gerade das ist neu. Ganz so entspannt wird das nicht überall gesehen. 1968 ist nicht nur für viele in der Union die Trutzburg, die es nun ein für alle Mal zu schleifen gilt. Es vermag auch die Gemüter junger, als konservativ gehandelter Literaten noch immer zu erhitzen. Die gefühlte Präsenz der Achtundsechziger in Medien, Verlagen und Politik mag ihre tatsächliche weit übertreffen, aber das spielt keine Rolle. Sophie Dannenberg, Jahrgang 1971 und Autorin des umstrittenen Romans Das bleiche Herz der Revolution, beschreibt die Generation ihrer Eltern als rücksichtslos selbstbezogen, verwahrlost, machtgeil und auf ganzer Linie gescheitert. »Die 68er, denen ich persönlich begegnet bin, waren meist keine guten Menschen«, erklärte sie in einem Gespräch mit der Zeitschrift eigentümlich frei. Die Opferung der Kinder auf dem Altar der eigenen Emanzipation, die Ermordung Gottes, der mangelnde Respekt für die kriegstraumatisierte Elterngeneration, Zynismus – die Liste der Vorwürfe an die Apo ist lang und widersprüchlich. Was man selbst mit der Welt anstellen möchte, bleibt, abgesehen von einer gewissen Demutsfreude und Papstbegeisterung, ziemlich dunkel. Und auch wenn sich die Autorin durch Ausflüge in den Slapstick etwas Distanz zu schaffen versucht, letztlich bleibt sie in der Klagepose gegen die Eltern gefangen, die bei Leuten jenseits der dreißig nicht immer ein schöner Anblick ist. 1968 ist die Stromzufuhr, von der man nicht loskommt. »Den Müll dieser gigantischen Polit-Fete muss meine Generation jetzt wegräumen. Dass uns die Alt-68er dabei auch noch behindern, ist besonders empörend.« Nun, mit dem Müll will der junge Mauritz in Uwe Tellkamps Roman Der Eisvogel kurzen Prozess machen. Eine Untergrundgruppe »W« (wie Wiedergeburt) schlägt ein wenig Terror vor gegen diese »altlinken Brunnenvergifter«, gegen »Leute an der Macht, die nicht an die Macht gehören, die die Staatsmacht aufgeweicht, in ihrer Jugend Polizisten angegriffen, Gesetze gebrochen und versucht haben, den Staat unter kommunistischen Einfluss geraten zu lassen«. Selbst Goethe und Humboldt werden in Anschlag gebracht für den Aufbau eines kräftigen Insektenstaates, in dem Schluss ist mit der »Anmaßung der Demokratie«, aber auch mit dem Tingeltangel der Massenkultur, mit den »Q-10-Pflegecremes, Küchenarmaturen, Balkonpflanzen« und anderem mehr, was die Leute so beschäftigt. Tellkamp wurde 1968 in Dresden geboren; die Wende war das prägende Erlebnis seines Lebens. Vor dem Untergang der DDR war er Panzerkommandant bei der NVA, wurde dann aber inhaftiert und verlor seinen Medizinstudienplatz, weil er sich geweigert hatte, gegen Demonstranten vorzugehen, unter denen auch sein Bruder war. Der Habitus des Bildungsbürgers konnte einen in der DDR teuer zu stehen kommen; vielleicht daher die Ungeduld mit der Konsumgesellschaft. Der Konservatismus der »Generation Golf« war dagegen eher ästhetisch motiviert. Der Autor Alexander von Schönburg beispielsweise kann in seinem Ratgeber Die Kunst des stilvollen Verarmens trotz aller heroischen Selbstbelustigung des gefallenen Adligen nicht verhehlen, dass ihm die ganze Richtung des Politikbetriebes nicht passt. Für ihn ist die Sozialdemokratisierung der Bundesrepublik ein Geschmacksproblem; fehle es den Massen an konsequenter Führung, dann kauften sie haufenweise hässliche Plasmasessel und Entsafter ohne Sinn und Verstand.
Lesungen seines Buches finden mitunter im Kreise seiner Familie statt: Und wenn dann seine Schwester Gloria Fürstin von Thurn und Taxis Passagen über hässliche Handtaschen vorträgt oder sein Onkel, Graf Henckel von Donnersmarck, die Gäste des Berliner Kulturlebens begrüßt, dann fällt einem auf, dass die konservativen deutschen Eliten schon immer herzlich wenig Lust hatten, sich des Geschmacks der Massen einmal tatkräftig anzunehmen. Große amerikanische Konservative machen sich einen Namen, indem sie Bibliotheken, Opernhäuser oder Museen stiften. Auf diese Weise stilvoll zu verarmen käme hierzulande wohl den wenigsten Angehörigen gehobener Kreise in den Sinn. Abfälliges über die Demokratie wird man im politisch organisierten deutschen Konservatismus naturgemäß vergeblich suchen. Aus der Verstrickung mit dem Nationalsozialismus rettete er sich in der Nachkriegszeit in einen geruchsneutralen Pragmatismus. Christliches, europäisches Abendland gegen totalitäre nationalistische Versuchung: Das musste als Leitkultur genügen. Wären da nicht die Impulse der siebziger Jahre gewesen, durch die Thatcher- und Reagan-Regierungen und deren Thinktanks in Großbritannien und den USA – wer weiß, ob man heute überhaupt noch ernsthaft von einem deutschen Konservatismus sprechen könnte. Die Ideenarmut, zu der dieser Pragmatismus führte, macht sich jedenfalls noch heute bemerkbar. Wer ein beliebiges Heft der Zeitschrift Cicero zur Hand nimmt, dem schlägt der säuerliche Geruch von intellektueller Stagnation geradezu entgegen. Titelgeschichte: Fischer und die Frauen, dazu »rechnet Bettina Röhl mit den Sex-Mythen der 68er ab«, dann beklagen in einem seitenlangen Gespräch die Urgesteine Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler das Verschwinden des Bürgertums (»auf dem Kurfürstendamm ist kein Mann mehr anzutreffen mit Krawatte«) oder die Initiatorinnen einer Aktion des Stern aus den siebziger Jahren (»Auch ich habe abgetrieben« zum Thema Paragraf 218) werden aufgesucht und bekennen sich reuig. Speziell am rechten Rand hat der deutsche Konservatismus seine beiden alten Leiden, das Selbstmitleid und den Verfolgungswahn, nie so ganz ablegen können. »Den Konservatismus gibt es eigentlich nicht mehr«, sagt Alexander Gauland, Herausgeber der Märkischen Allgemeinen und einer der wenigen konservativen Intellektuellen, melancholisch, »schon weil es die Schichten nicht mehr gibt, die ihn einmal getragen haben.« Konservatismus – ein Adelsprivileg? Beim Blick über Berlin, dorthin, wo die Reste der großen preußischen Architektur von grimmigen Zweckbauten der Nachkriegszeit umstellt sind, fällt ihm ein, dass »konservativ sein heißt zu akzeptieren, dass bestimmte Dinge unwiederbringlich verloren sind«. Gauland, der als ehemaliger Leiter der hessischen Staatskanzlei unter Ministerpräsident Wallmann zum bösen Antihelden von Martin Walsers Roman Finks Krieg avancierte, gehört zu den Konservativen, die sich aus paternalistischen Gründen für den Erhalt des Sozialstaats stark machen, wie auf einem Gutshof eben: »Die Menschen sind nicht gleich, auch nicht gleich begabt. Aber denen gegenüber, deren Möglichkeiten begrenzt sind, haben wir eine Fürsorgepflicht.« Was Deutschlands Rolle in der Welt betrifft, könne man aus dem Konservatismus »nicht viel Honig saugen«; nur eins steht für Gauland fest: »Die nahtlose Übereinstimmung zwischen Europa und Amerika ist eher unwahrscheinlich und schon gar nicht durch ideologische Anleihen bei der geteilten Welt von gestern zu erzwingen. Mit einer Weltgemeinschaft der Demokraten, die dann den Irak oder sonst wen beglücken, habe ich ein Problem.« Da widerspricht ihm sein Freund und konservativer Mitstreiter Arnulf Baring allerdings energisch. Baring, der vor Jahrzehnten aus der SPD ausgeschlossen worden war und im vergangenen Jahr mit seinem »Bürger auf die Barrikaden!«-Aufruf hervortrat, sieht die Bundesrepublik innen- und außenpolitisch schwer angezählt. Als »DDR light« hatte er die Wucherungen des Sozialstaats betrachtet; die Außenpolitik der »rot-grünen Dilettanten« bekommt keine besseren Noten. »Jedes Kind weiß, dass wir weniger denn je irgendeine Aussicht haben, die Macht der USA konfrontativ zu beschränken. Aber die Macht, Deutschland zu isolieren und damit ins Unglück zu stürzen, ist uns geblieben.«
Neuerdings gibt es aber eine ganze Menge Leute, für die Konservatismus eine knackfrische, attraktive und vorwärtsweisende Angelegenheit ist, »nichts mit alten Leuten, die versuchen, etwas festzuhalten«, wie es eine Studentin in der JU formuliert. Viele von ihnen waren früher links oder grün, treffen sich jetzt in Zirkeln wie Berlins »Freunden der offenen Gesellschaft« im Café Chagall oder auf Internetseiten wie »Statler-and-Waldorf«, und könnten sich mit dem Etikett »Neocon« durchaus anfreunden. Leider kommen auch sie nicht so recht vom Bezugspunkt 68 los. »Wir sind«, heißt es bei den »Freunden der offenen Gesellschaft«, »die Lügen und intellektuellen Zumutungen der Linken leid: ihr Ressentiment gegen die moderne Gesellschaft und die individuelle Freiheit, ihr ständiges Wiederholen unbewiesener Tatsachenbehauptungen, ihre Apologie des islamischen Terrors, ihr männerfeindlicher Antisexismus, ihr Bestreben, jedem Einzelnen Verhaltensvorschriften bis weit in die Intimsphäre hinein zu machen, ihre geistige Erstarrung in Floskeln und Jargon, ihre Moralisierung jedweder Diskussion.« Ob die Neocons im deutschen Konservatismus eine Heimat finden, wird auch davon abhängen, ob sie sich irgendwann einmal von 1968 wirklich freischwimmen und nicht dabei sind, ihrerseits eine neue »reine Lehre« zu entwickeln, bei der jedes Wort der Kritik am US-Präsidenten als Antiamerikanismus, jede Idee zur Steuerreform als Etatismus oder der Begriff »Vereinte Nationen« nur noch als Synonym für Feigheit und Korruption verstanden wird. Klingen Sätze wie »westliche Werte sind besser« wirklich anders als »die Partei hat immer Recht«? Erst bei den organischen, jüngeren, weniger ideologisch verkämpften Konservativen bekommt man eine Vorstellung davon, wie Deutschland wohl aussähe, wenn sie am Ruder wären. Für Johannes Bohnen von der Werbeagentur Scholz & Friends, von der die Imagekampagne »Deutschland – Land der Ideen« stammt, verträgt sich die Ausbildung in Oxford und Harvard und eine katholische Prägung leicht mit dem Stolz auf die »neue soziale Marktwirtschaft«, auf das Saarland, auf den MP3-Player und andere deutsche Erfindungen. Er war Praktikant bei Karl Lamers, dem außenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion, Pressemann beim CDU-Politiker Jörg Schönbohm, saß aber auch gern und regelmäßig in Gesprächsrunden mit Publizisten wie Ralf Dahrendorf oder Timothy Garton Ash zusammen. »Mehr Merz, weniger Blüm« könnte die »etwas mutlose« Union vertragen, Studiengebühren, mehr Autonomie der Hochschulen, mehr Unterstützung für unternehmerische Risikobereitschaft, Auszeichnungen für Ministerpräsidenten, die sich als »Reformer des Jahres« hervortun, Umbau – nicht Demontage – des Sozialstaats, einfach alles ein bisschen schlanker, beweglicher, selbstbewusster. Aber zieht das, in der momentanen Panikstimmung? Viele haben den Eindruck, einzig die Religion, vor allem der Katholizismus, könnte der Jungbrunnen sein, dem der Konservatismus in die Regierungsfähigkeit entsteigt. Während 1995 nur 18 Prozent der Deutschen sagten, Papst Johannes Paul II. sei für sie persönlich ein Vorbild, so sagten es 2004 schon 29 Prozent, davon immerhin ein Viertel Protestanten! Annette Schavan, baden-württembergische Kultusministerin und Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, hat auf die Frage, ob die Union das Wasser dieser Stimmung auf ihre Mühlen leiten könnte, eine entschiedene Antwort: »Sie werden in jedem Parteiprogramm der Union den Satz finden, dass sich aus dem Glauben nicht unmittelbar ein politisches Programm ableiten lässt. Die Gründer der Union hatten Hitlers Satz im Ohr, das Gewissen sei eine jüdische Erfindung. Der Glaube lässt sich nicht instrumentalisieren.« Die jüngsten Äußerungen des Kölner Erzbischofs, Joachim Kardinal Meisner, die CDU möge doch das »C« aus ihrem Namen streichen und die Deutungshoheit über das Christentum den Kirchen überlassen, geben einen Vorgeschmack auf kommende Konflikte. Annette Schavan sieht sich als Bürgerin zweier Welten. Das ist interessant und überzeugend. Aber ist es auch konservativ?