Unsere Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit

In Deutschland Bahn zu fahren ist ein Abenteuer: Kommt man an, kommt man nicht an? Aber wenn das Bordbistro geöffnet hat, kann eigentlich eh nichts mehr schief gehen.

Foto: Erli Grünzweil

Herzlich willkommen im Getränkemarkt des SZ-Magazins, wir reisen heute mit dem ICE der Deutschen Bahn von Karlsruhe nach Hamburg mit Halt in Hanau, Kassel, und der Rest ist egal, denn alle planmäßigen Anschlüsse werden nicht erreicht. Zugestiegenen Leserinnen und Lesern empfehle ich daher, auf stressfreie Transportmittel umzu­steigen, Kutschen zum Beispiel. Auch der Verzehr von alkoholischen Getränken wird wärmstens empfohlen. Mein Name ist Marvin Ku, und ich bin heute Ihr leidtragender Kolumnist.

10 Uhr. Aufgrund einer Störung im Betriebsablauf (ich hab verpennt) verspätet sich meine geplante Ankunft am Bahnhof um wenige Minuten. Aber ich komme gerade noch rechtzeitig, steige in den Zug und freue mich auf Hamburg wie ein frischgebackener Pendler auf seine erste Bahncard. Wir ­zuckeln weiter durch Ba-Wü, durch Hessen, durch … Moment, wieso stehen wir?

12 Uhr. Unsere Weiterfahrt verzögert sich auf unbestimmte Zeit. Grund dafür ist ein Brückenschaden. Wir bedanken uns bei allen krakeelenden Reisenden (Drecksladen! Immer die gleiche Scheiße! Wär ich mal geflogen!) für den Diskussionsanstoß. Fahrgäste mit dem Wunsch, den Bahnvorstand auf der Stelle zu steinigen, müssen wir leider vertrösten, dieser Service wird im Moment nicht angeboten. Wir bitten um Entschuldigung.

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13 Uhr. Gern weisen wir Sie auf unser kulinarisches Angebot hin. Vor dem Bordbistro kann es derzeit zu längeren Warte­zeiten kommen. Das Bier kostet ein Vermögen, aber dafür knallt es mehr mit erhöhtem Blutdruck.

13.30 Uhr. Die Hälfte trinke ich, bevor ich wieder auf dem Platz bin. Kinder rennen an mir vorbei. Wenn sie schnell genug rennen, etwa in Lichtgeschwindigkeit, müssten sie laut Einsteins Relativitätstheorie langsamer altern als ich, der nur angetrunken rumsitzt. Je schneller man sich bewegt, ­desto langsamer vergeht die Zeit. Diese Regel der Physik scheint in ICEs ausgesetzt.

15 Uhr. Im Abteil herrscht die Stimmung einer Querdenkerdemonstration. Stiernackige Männer verteilen Formulare mit Fahrgastrechten wie mancher Politiker Flugblätter. Ein braun gebrannter MacGyver steigt aus und klopft an den ICE, toi, toi, toi! Unklar, ob er aufgibt oder die restliche Strecke laufen will.

16 Uhr. Im Gang begrüßen sich Leute mit »Na, du auch hier!« und lachen verzweifelt. Das Bordbistro – wie auch einige Fahrgäste (ich) – ist mittlerweile völlig überfüllt. Die Nachfrage macht sich bemerkbar. Pils ist ausverkauft, es gibt nur noch Weißbier und Wein, der gefühlt so viel kostet wie die saftige Gutschrift, die wir uns noch erhoffen. Die Bedienung reicht einem älteren, bärtigen Herrn ein Weißbier und ruft: »So, junger Mann!« Kurz bekomme ich Panik. Wie lange sind wir schon hier? Was, wenn der Alte als Junge eingestiegen ist!? Ist das Einsteins Zeitdilalala ... Ach, egal.

17 Uhr. Chrchrchr. »Meine ­Damen und Herren, eine erfreuliche Nachricht. Es soll in Kürze weitergehen! Ich habe Sie die letzten Stunden betreut, und nun gehe ich …« – »VON BORD«, brüllt das Abteil und prostet.

17.15 Uhr. Unfassbar. Der Zug fährt an. Die Leute fallen sich lachweinend in die Arme, als ­wären erste und zweite Klasse nur ein Gedankenkonstrukt. Ein Mann, der aussieht, als hätte er den Pilsvorrat allein getrunken, dreht Ballermann-Hits auf: Der Zug, der Zug, der Zug hat keine Bremse! Die Stimmung ist mit­reißend. Ich bin ein Zug! Ich bin bremslos! Ich hole mir meine Fahrgastrechte! Uuuaah!

19.30 Uhr. Sehr geehrte Fahrgäste, der Rest der Reise liegt in einem pochenden Dunkeln, aber in Kürze erreichen wir unser Ziel. Sänk ju vor träwelling, Sie wissen schon.