Ewig haben sie das noch nicht im Sortiment. Das verrät die Anleitung, die hinter dem Tresen in der Küche hängt: Fig Balsamic Latte. Auf Deutsch: ein Feigen-Balsamico-Latte macchiato. Wäre ich in Deutschland, würde ich einfach meinen gewohnten Cappuccino bestellen, weitergehen und mich nicht drum kümmern. Aber es ist ein kalter Morgen in New York, und diese Stadt bringt einen ja in diesen berauschend-angespannten Modus der Offenheit, in dem man sich befindet, wenn man glaubt, gleich etwas entdecken zu können: eine lustige Werbung, einen Streetlook, eine Clique von vier Freundinnen, einen politischen Sticker, ein Graffito, eine Häuserecke zum Fotografieren, zur Not einen Desserttrend.
Und in diesem fokussierten Zustand entdeckte ich den Fig Balsamic Latte. Es war schon das dritte Mal an diesem Tag, dass Speisen aus Geschmäckern bestanden, die nicht zusammengehören. Das klingt jetzt spießiger, als ich es meine. Natürlich darf Festes flüssig werden und Flüssiges in festes Essen hinein, scharf darf zu mild und süß zu sauer. Süßsauer ist sogar ein erwiesenermaßen geniales Konzept und nicht nur eine Mischung. Irgendwann musste fast jeder durch den Fleisch-mit-Schokoladen-sauce-Trend. Ich mache auch Fenchelsalat mit Orangensaft, klar. Gin mit Gurke, okay.
Aber New York hat da doch noch mal eine neue Stufe gezündet. An diesem einen Morgen waren mir schon Tahini-Muffins begegnet und Blutorangen-Donuts. Eine Bar empfahl auf der Schiefertafel für den Abend: Apfelwein-Mimosas und Zimt-und-Nelken-Margaritas. Vom breiten Kürbisgeschmack-Modul bei Starbucks gar nicht zu sprechen. Dort, wo ich mir einen Sesambagel mit Frischkäse kaufen wollte, konnte man auch einen Ricotta-Trüffel-Parmesan-Hefezopf wählen.
Ich war gleich skeptisch. Wurde da vielleicht das Selbstbild als Schmelztiegel zu wörtlich genommen? Passt das? Und falls ja, muss das sein? Oder liegt es an mir? Muss man New Yorkerin sein, um darin mehr zu sehen als eine willkürliche Mischung von vermeintlichen Trend-Zutaten mit dem Ziel, irgendwas Neues zum Verkauf anbieten zu können? Kurze Schrecksekunde: Bin ich jetzt eine kulinarische Konservative? Oder womöglich knospisch gehemmt? Gastronomisch antikapitalistisch oder schlicht fresstechnisch unterentwickelt?
Den Gedanken, dass sich etwas als unnötig herausstellen könnte, kannte ich gar nicht
Zumal ich doch als Kind jede Reglementierung beim Essen so blöd gefunden hatte. Aufgewachsen bin ich nämlich in einem rigorosen Wurst-und-Käse-nur-mit Brot-Haushalt. Mir die Fleischwurst pur auf die Hand zu erlauben war den Frauen hinter der Wursttheke vorbehalten, zu Hause galt: Sättigungsbeilage first, Kreativität second. Dabei schmeckte Wurst so gut um Gürkchen gewickelt. Käse so lecker nur mit Tomate und Pfeffer. Natürlich waren das nur Geschmackskompositionen auf Abendbrotniveau, aber das Prinzip mochte ich: mal was mischen. Und während ich meine ersten tapsigen Versuche in Richtung Tahini-Muffins so im Kopf durchgehe – Cornflakes mit O-Saft, Spekulatius im Kaffee, Gnocchi in Salbeiteesauce –, sehe ich ein, dass es tatsächlich an mir liegt.
Früher war ich offener. Früher habe ich Sachen eine Chance gegeben. Nicht nur auf dem Teller. Wer nett war, den wollte ich zur besten Freundin. Wo es schön war, da zog ich hin. Wer süß war, mit dem suchte ich eine Wohnung. Was interessant war, das studierte ich. Den Gedanken, dass sich etwas als unnötig herausstellen könnte, kannte ich gar nicht. Bereuen? Schon als Konzept undenkbar. Zeit war immer noch mehr da als weg. Vielleicht liegt es daran: Irgendwann ist mehr Zeit weg als da.
Früher habe ich immer gedacht, Reisen würde mit dem Alter langweiliger, weil man vieles schon gesehen hat. Mag sein, man entdeckt nicht ständig die Welt neu, aber immer Neues an sich.