"Stil ist nicht wirklich wichtig"

Andy Warhol wäre am 6. August 80 geworden. Der Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser feiert seinen Achtzigsten ein halbes Jahr später. Höchste Zeit für ein Gespräch über das Leben mit der Kunst. Aber wie interviewt man jemanden, der längst tot ist? Ganz einfach: Unser Autor hat nicht nur die Fragen gestellt, sondern auch die Antworten gegeben - mit Originalzitaten von Andy Warhol.

Andy Warhol

Joachim Kaiser: Von den Soziologen heißt es, ihre Spezialität bestehe darin, das, was jeder weiß, so auszudrücken, dass es keiner mehr versteht. Ihr Genie, verehrter Andy Warhol, befähigt Sie rätselhafterweise, eigentlich wohl vertraute Objekte und Handlungen derart darzustellen, dass sie aufregend, überraschend, ja magisch erscheinen. So haben Sie den Campbell’schen Suppendosen, aber auch der Schönheit von Marilyn Monroes Gesicht eine kleine Unsterblichkeit verschafft. In Ihrer Disaster-Reihe vervielfältigen Sie, das Grauen durch serielle Wiederholung neutralisierend, Todesfälle. Sie wagten es aber auch, die Atombombe zur beinahe abstrakten Bilderfolge umzufunktionieren. Sogar aus trivialen Dollar-Noten machten Sie… Andy Warhol: Ich habe einen Traum, der sich ums Geld dreht. Ich gehe auf der Straße lang und höre jemand – im Flüsterton – sagen: »Da geht der reichste Mann der Welt.« Litten Sie denn, bevor Sie Ihr Riesenvermögen von gut 100 Millionen Dollar erarbeitet hatten, so heftige Not, dass Ihr Unterbewusstsein Sie mit solchen Träumen trösten musste?
Den ganzen Tag war ich auf der Suche nach Aufträgen… So sah mein Leben in den Fünfzigerjahren aus… Das, was mir am stärksten in Erinnerung geblieben ist, sind die Kakerlaken. In jeder Wohnung, in der ich gewohnt habe, hat es sie scharenweise gegeben. Niemals werde ich den entsetzlich peinlichen Augenblick vergessen, als ich mit meinen Entwürfen im Büro von Carmel Snow bei Harper’s Bazaar erschien und beim Aufbinden meiner Zeichenmappe eine Kakerlake herauskroch und am Tischbein abwärts lief. Ich tat Carmel so leid, dass sie mir einen Auftrag gab.

Derartige Anfangsnöte können prägen. Jetzt verstehe ich besser, warum Ihnen nachgesagt wird, dass Sie zwar von Ihren Mitarbeitern absolute Verfügbarkeit erwarteten, sie aber trotzdem schlecht bezahlten.
Einmal habe ich einem Taxifahrer 100 Dollar gegeben. In der Dunkelheit dachte ich, es sei ein Dollar. Das Fahrgeld betrug 60 Cent… und ich sagte ihm, er solle den Rest behalten. Das deprimiert mich noch heu-te… Angenommen, du hast kein Geld und du machst dir deshalb andauernd Sorgen, dann bekommst du ein Magengeschwür und hast dann ein richtiges Problem, aber immer noch kein Geld, weil die anderen es nämlich spüren, wenn du verzweifelt bist und keiner etwas mit einem verzweifelten Menschen zu tun haben will. Aber wenn es dir nichts ausmacht, dass du kein Geld hast, dann bekommst du von den anderen Geld, weil es dir dann ganz gleichgültig ist und sie auch denken, es sei gar nichts wert und es hergeben – es dir richtig aufdrängen… Wenn du das Geld einfach nimmst und ohne schlechtes Gewissen verschleuderst, als sei es nichts, dann ist es kein Problem und die andern wollen dir sogar noch mehr geben.

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Also: Nur niemandem zeigen, dass man verzweifelt, dass man kein Geld hat. Dann kommt es von selbst. Doch Ihr Erfolg kam gewiss nicht von selbst. Sie waren enorm fleißig, begriffen alles als »Arbeit«, riskierten es, sich im puritanischen Amerika des mittleren 20. Jahrhunderts als Homosexueller zu outen, silbergraue Perücken zu tragen, »Pornofilme« zu produzieren. Bei alledem machten Sie sich rückhaltlos zur Kunstfigur. Sie theoretisierten nie, wichen witzig und einsilbig den Fragen der Interviewer aus, gaben Ihr Innenleben, als hätten Sie gar keines, nie preis.
Ich hasse wehmütige Erinnerungen.

Das bedeutet aber doch, dass Psychisches, Wehmütiges, natürlich auch bei Ihnen…
Ich glaube, in den Sechzigerjahren vergaßen die Leute, was Gefühle sind… Ich glaube, wenn man Gefühle einmal von einer anderen Warte gesehen hat, kann man sie nie wieder als echt empfinden. Genau das ist mir passiert. Ich weiß nicht, ob ich je zur Liebe fähig war. Von manchen Leuten war ich allerdings stark beeindruckt, sie faszinierten mich.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ich glaube, dass ich auf irgendeiner Verrückten-Adressenliste bin.)


Andy Warhol

Hängt die von mir heftig bewunderte kompromisslose Neutralität Ihres Stils damit zusammen, dass…
Stil ist nicht wirklich wichtig.

Dabei gilt doch Ihre Kunst als entschiedene Gegenposition zum rückhaltlos emotionalen, abstrakten Expressionismus großer amerikanischer Maler wie Jackson Pollock oder Willem de Kooning. Ich verstehe selber nicht, warum ich mich nicht dem abstrakten Expressionismus verschrieben habe, denn bei meiner zittrigen Hand wäre das ganz natürlich gewesen.

Und auf welche Weise fanden Sie Ihren so ganz anderen Weg? Nachdem ich meine ersten Leinwände gemalt hatte, war De…

Ihr Freund, der Filmregisseur Emile de Antonio…
der Erste, dem ich sie zeigen wollte. Er konnte immer sofort den Wert einer Sache sehen… Eines Nachmittags um fünf Uhr schellte es und De kam herein und setzte sich. Ich goss uns Scotch ein und ging dann dorthin, wo ich zwei meiner Bilder, jedes von ihnen sechs Fuß hoch und drei Fuß breit, mit der Vorderseite zur Wand aufgestellt hatte. Ich drehte sie um, stellte sie nebeneinander vor die Wand und trat einen Schritt zurück, um selbst einen Blick auf sie zu werfen. Ein Bild zeigte eine Cola-Flasche mit Kritzeleien aus dem Abstrakten Expressionismus etwa auf halber Höhe. Das zweite zeigte nur eine nackte Cola-Flasche in Schwarz-Weiß, ich sagte nichts. Ich brauchte es nicht zu tun – De wusste, was ich wissen wollte. »Nun Andy«, sagte er, nachdem er sie einige Minuten betrachtet hatte. »Eines von ihnen ist Scheiße, einfach von jedem etwas. Das andere ist bemerkenswert – es ist unsere Gesellschaft, wer wir sind, es ist absolut schön und nackt, und du solltest das Erste vernichten und das andere ausstellen.« Dieser Nachmittag war wichtig für mich.

Bemerkenswerterweise vervielfachten sich die ohnehin schon beträchtlichen Preise für Ihre Arbeiten, nachdem am 3. Juni 1968 ein Attentat auf Sie verübt worden war. Valerie Solanas, eine Schriftstellerin, die häufig in Ihrer Factory aufgetaucht war und auch als Schauspielerin in einem Ihrer Filme mitwirkte, hatte Sie wegen eines Streits mit Schüssen aus zwei Pistolen lebensgefährlich verletzt, und Ihre beträchtliche Popularität wuchs nun ins Aberwitzige…
Mir schreiben immer verrückte Leute. Ich glaube, dass ich auf irgendeiner Verrückten-Adressenliste bin. Ich habe immer Angst, dass Verrückte genau das, was sie schon früher einmal getan haben, ein paar Jahre später wiederholen… Man hat 1968 auf mich geschossen, das war also die 68er Version. Und dann muss ich immer denken: »Ob wohl eine bestimmte Person eine 1970er Neuauflage vorhat und wieder auf mich schießt«… Verrückte Typen hatten mich bisher immer fasziniert, weil sie so kreativ waren und deshalb auch unfähig, irgendwelche Sachen auf normale Weise zu tun… Aber wie soll ich je wieder wissen, wer was ist?

Dabei scheint Sie doch eine unstillbare Neugier anzutreiben. Wonach halten Sie Ausschau?
Nach Menschen, die etwas anderes machen, die interessante Dinge machen, die einfallsreich sind, und ich glaube, es funktioniert auch in die andere Richtung, wenn jemand gar keine Fantasie hat, dann ist das auch toll, einfach das genaue Gegenteil.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ich habe kein Gedächtnis.)


Joachim Kaiser

Das klingt einleuchtender als Ihre einstige, doch recht un-gewöhnliche Handlungsweise, männliche Besucher zu bitten, die Hosen auszuziehen, damit Sie ihre Genitalien fotografieren könnten.
Es war schon erstaunlich, wer es sich tun ließ und wer nicht.

Für Ihr Mao-Porträt hat ein reicher Hongkonger Geschäftsmann mehr als 17 Millionen Dollar gezahlt, für Willy Brandt und Joseph Beuys – den Sie so schätzten, dass Sie der Hoffnung Ausdruck verliehen, er möge amerikanischer Präsident werden – war es eine Ehre, von Ihnen porträtiert zu werden… Aber es gelang auch den klügsten, professionellen Deutern nicht, das Geheimnis Ihrer Wirkung zu ergründen. So gut glückte es Ihnen, sich zu anonymisieren, sich zur Nicht-Person zu stilisieren.
Ich glaube, wenn ich in den Spiegel sehe, werde ich NICHTS sehen. Man nennt mich immer einen Spiegel, und wenn ein Spiegel in einen Spiegel sieht, was ist dann zu sehen?

Doch sagt kein Spiegel: »Das Leben tut zu weh. Wenn wir wie Maschinen werden könnten, würde es weniger wehtun«, so wie Sie es einst, freilich mit abgewandtem Blick, Letitia Kent von der Vogue gestanden.
Ich habe kein Gedächtnis. Jeder Tag ist ein neuer Tag, weil ich mich an den Tag zuvor nicht erinnern kann. Jede Minute ist wie die erste Minute meines Lebens.

Und trotzdem müssten Sie spüren, dass Alter und Tod auf uns warten. Sie sind 1928 geboren…
Manche Leute entscheiden sich fürs Altsein, und tun dann auch genau das, was alte Leute eben so tun. Mit 20 haben sie natürlich das getan, was Zwanzigjährige eben so tun.

Und der Tod?
Ich glaube nicht daran, weil man dann nicht mehr ist und gar nicht mehr mitbekommt, dass es passiert ist.

Wie steht es mit Ihrer Sexualität? Mögen Sie lieber Frauen oder Männer?
Ich denke nicht darüber nach.

Sind Sie für die Todesstrafe?
Der Kunst zuliebe, natürlich.

Wollen Sie sich als Künstler für die Verbesserung der Welt einsetzen, zum Nutzen der Menschheit?
Ich versuche es…Ich will die Leute zum Lachen bringen.

Was meinen Sie damit genau?
Nichts. Nur Unterhaltung.

Welches ist Ihre Lieblingszahl?
Null.

Geboren 1928 als Andrej Warhola, gestorben 1987, Grafiker, Maler, Musiker, Filmemacher, besessen vom Ehrgeiz, berühmt und reich zu werden, gilt als der wichtigste Künstler des 20. Jahrhunderts. Viele seiner Werke wurden zu Ikonen der Pop-Art, wie die Suppenkonserven von Campbell oder die Serie von Marilyn-Bildern.

(Fotos: SZ, Xinhua/Keystone Pressedienst)