Was ist falsch an diesem Video? Richtig. Der Torero flieht.
Ein Mann mit einem viel zu großen Sombrero auf dem Kopf geht durch die Zuschauerreihen und verkauft geschnetzelten Stierpenis an Tabascosauce. Unten im Ring stirbt gerade ein Bulle. Er heißt Montañes, ein Berg von einem Tier, fast 500 Kilo schwer. Ein meterlanges Schwert steckt bis zum Griff in seinem Nacken, rot glänzt sein blutüberströmter Rücken, die geschwollene Zunge hängt aus dem Maul, Urin rinnt unkontrolliert aus seinem Geschlecht in den Sand. Das Tier steht still, es weiß noch nicht, dass es tot ist.
»Viril« nennt man die Nascherei, wie sonst, der Mann mit dem Sombrero bietet sie in kleinen Plastikbechern aus seinem Bauchladen an, zu 20 mexikanischen Pesos die Dosis, etwa ein Euro. Soll potent machen. Sieht aus wie Litschi, fühlt sich im Mund an wie Tintenfisch, nur glibbriger. Schmeckt nach: Tabasco. Cristian Hernández, zum Zuschauen verbannt, Held und Verräter, lässt sich eine Portion geben, spießt ein Stück ums andere mit einem Zahnstocher auf und hat schwer zu kauen. An seinem Imbiss und an allem anderen auch. Torero sin huevos, nennen sie ihn, seit dem 13. Juni 2010. Torero ohne Eier.
Doch hier, in San Luis de la Paz, einer staubigen Kleinstadt sechs Autostunden nördlich von Mexico City, gibt es etwas zu feiern an diesem 25. August, dem Todestag des heiligen Ludwig, zu dessen Ehren heute sechs Stiere verenden werden. Die spanischen Eroberer hatten im 16. Jahrhundert nicht nur Mord, Totschlag und Windpocken mitgebracht, sondern auch Kampfspiele mit Stieren. Mexiko ist nach Spanien das Land mit der zweitgrößten Anzahl von Stierkampfarenen. Mehr als dreihundert sind es, und in der Hauptstadt steht mit der 50 000 Zuschauer fassenden Plaza de Toros México die weltgrößte Anlage ihrer Art. Corrida heißt der Stierkampf in Spanien, Fiesta Brava in Mexiko.
Eine mobile Arena ist aufgebaut worden in San Luis de la Paz, ein Paso-Doble-Orchester trötet seine Weisen, die gekrönte Miss San Luis ist winkend in einem VW Käfer Cabrio durch den Ring gefahren worden. 3000 Leute sind gekommen, sechs Matadores werden ihren Todesmut beweisen, keine großen Namen, wir sind in der Provinz. »Matador« kommt von »matar«, töten: der, der tötet. »Was soll ich tun?«, fragt Cristian Hernández, erschöpft und verzagt, am 13. Juni in der Plaza de Toros México, seinen Assistenten, der hinter der Barrera steht, der schützenden Holzwand, die den Ring umgibt. Es regnet in Strömen. Der Stier schnaubt. »¡Mátalo!«, sagt der Assistent. Töte ihn. Dann rennt Cristian davon. Vor dem Stier und vor seinem ganzen bisherigen Leben.
Der junge Mann, 22, verfügt über die Traummaße eines Toreros, schlank und kaum länger als einssiebzig, wohingegen großen, muskulösen Männern die Wendigkeit vor dem Bullen fehlt, sie sehen grobschlächtig aus in der prachtvoll glitzernden Berufsmontur, der Traje de Luces, Anzug der Lichter. Seine breiten Schultern verhelfen Cristian dennoch zu einer unmissverständlichen Männlichkeit und einer imposanten Statur vor dem Feind. Schließlich – nicht unwichtig für die Karriere, die er sich erhoffte – hat er ein ausgesprochen hübsches Gesicht.
Cristian konnte kaum gehen, da nahm ihn sein Vater Román schon mit zur allsonntäglichen Fiesta Brava in der Arena seiner Heimatstadt Santiago de Querétaro. Mit zwölf war er ein Becerrista, Kälberkämpfer, und übte sich gegen Jungbullen, denen kein erwachsener Mann, des Stierkampfs unkundig, jemals nahe zu kommen wagen würde. Mit 17 ernannte man ihn zum Novillero, Novizen, und er tötete seinen ersten ausgewachsenen Stier vor Publikum. 115 Kampfbullen hat er in seiner bisherigen Laufbahn den Todesstoß versetzt, ein Dutzend Mal ist er verwundet worden dabei, dreimal schwer.
Der Kampf in Mexico City am 13. Juni sollte sein letzter sein vor seiner Weihe zum Matador, ein Titel, den erst gereifte und erfahrene Stierkämpfer tragen dürfen. Alles, was bisher geschehen war im Leben des Cristian Hernández, lief auf diesen Tag zu, auf die Erfüllung seines Traums. Doch am 13. Juni geht der Videobeweis seiner Flucht vor dem Stier via YouTube um die Welt. Mehr als hunderttausend Menschen haben diesen siebzig Sekunden kurzen Film angeklickt, auf dem man einen jungen Torero sehen kann, der mit kurzen Schritten, zu denen ihn sein enges Kostüm zwingt, über den Sand wieselt, sein Schwert und sein rotes Kampftuch fallen lässt und sich dann Kopf voran über die rettende Schutzwand stürzt. Man sieht auch den Stier, der zurückbleibt auf dem Feld, ratlos und nicht wissend, dass der Kampf vorbei ist. Sofort halten Reporter dem Torero Mikrofone ins Gesicht, und er sagt diesen Satz, den er später bereut: »Me faltaron huevos, esto no es lo mio.« »Mir haben einfach die Eier gefehlt, das hier ist schlicht nicht mein Ding.«
Dann geht er zurück in den leeren Ring und schneidet sich die Coleta ab, den künstlichen Haarzopf im Nacken, den jeder Torero trägt als Zeichen seines Berufsstandes, eine Geste, die ein Stierkämpfer normalerweise erst beim Übertritt in den Ruhestand vollführt. Cristian zeigt dem Publikum das geflochtene Büschel Haar, reckt es kurz in die Luft, so wie er früher unter Akklamationen der Aficionados die abgeschnittenen Ohren besiegter Bullen präsentierte, die ihm verliehen worden waren als Auszeichnung für einen besonders gelungenen Kampf. An diesem Tag aber wird er ausgebuht für seine Feigheit vor dem Stier.
»Stierkämpfer in Panik«, titelt Semana News. »Horror vor den Hörnern«, behauptet Sky News. »Ein Torero kommt zu Sinnen«, glaubt der Guardian zu wissen. »Geflüchteter Matador muss Strafe zahlen«, schreibt die Times of India. Denn die Schmach ist noch lang nicht zu Ende für Cristian Hernández. Er wird noch in der Arena verhaftet wegen Vertragsbruchs, da er sich verpflichtet hatte, den Stier zu töten. Als er in einem Dienstwagen zur nächsten Polizeiwache gefahren werden soll, hält der Mob das Auto auf, hämmert auf das Dach, manche gießen Bier darüber, sie schreien »¡Pendejo!«, Feigling, »¡Huevón!«, Schlappschwanz, »¡Maricon!«, schwule Sau, mühsam bahnt sich der Wagen einen Weg. Auf der Wache wird er verhört, dann sperrt man ihn drei Stunden in eine Zelle, lässt ihn warten, denn die Beamten müssen erst einmal herausfinden, wie mit einem solchen Delinquenten zu verfahren sei. Schließlich wird ihm beschieden, dass das Gesetz eine Buße von dreihundert Tagessätzen Mindestlohn vorsehe, 16 000 Pesos, 950 Euro. Dann lassen sie ihn laufen.
Anderntags verkündet die mexikanische Stierkämpfervereinigung, dass Cristian Hernández mit sofortiger Wirkung aus dem Verband ausgeschlossen sei. Drei Tage darauf erhält Cristian eine E-Mail einer gewissen Ingrid Newkirk, der Präsidentin der zwei Millionen Mitglieder umfassenden amerikanischen Tierschutzorganisation PETA, die ihm zu seiner Entscheidung gratuliert, den Stier nicht zu töten. Sie hat eine Ehrenurkunde mit dem Titel Echte Männer quälen keine Tiere beigefügt und bietet an, das Bußgeld zu bezahlen. Die Nachrichten der Stierkampfgegner treffen im Dutzend bei ihm ein, eine Sina Merete aus Norwegen schreibt: »Du hast der Welt gezeigt, dass du nicht mehr mitmachen willst bei dieser Schlachterei! Thank you so much!!« Sein
Facebook-Account quillt über von Freundschaftsanfragen, vor allem von Frauen, er hat inzwischen 4041 Online-Freunde rund um den Globus. »Das Leben geht weiter«, hat Daniela gepostet, »du hast mehr Eier als alle anderen«, schreibt Zarii, »wir brauchen mehr Männer wie dich!«, sagt Margerita, zu ihm, dem Torero, dieser reinsten Verkörperung des Latino-Machos. Sie lieben ihn für seinen Mut zur Schwäche, für seine zur Schau gestellte Angst, ihn, den Stierkämpfer, den Killer.
Auge in Auge mit dem Stier
Schon Cristians Großvater, José Hernández Espinoza, wollte Matador werden, ebenso sein Vater, doch beide, sagt Cristian, konnten es sich nicht leisten, also investierten sie in den Sohn und Enkel. Torero zu werden kostet viel Zeit und viel Geld, und die meisten Stierkämpfer stammen aus der Unterschicht. Jeden Tag der letzten Jahre trainierte Cristian von sieben Uhr morgens bis mittags, vor allem Fitness und Pilates, zur Körperbeherrschung. Wöchentlich traf er seinen Meister, den Matador José María Luevano, und sie mimten füreinander abwechselnd den Bullen, jeweils ein Paar Hörner vor sich hertragend. Eine 20-minütige Trainingseinheit mit einem echten Stier kommt auf 6000 Pesos zu stehen, rund 350 Euro. Auch die Ausrüstung – Uniform, Schwerter, rote Tücher – ist nicht billig. Fast jedes Wochenende während der Saison hat Cristians Vater seinen Sohn in den letzten Jahren zu einem Kampf gefahren, in Aguascalientes, Veracruz oder Monterrey, mehr als eine Million Pesos, knapp 60 000 Euro, hat die Sippe aufgebracht für sein Noviziat.
Das Architekturstudium hatte er bald wieder aufgegeben, keine Zeit. Gagen für ihre lebensgefährlichen Darbietungen erhalten Novilleros nie, manchmal müssen sie sogar mitbezahlen für den Bullen. Sie tun es, weil sie Auftritte brauchen und in der Hoffnung, dass sich alles irgendwann lohnen wird, später, wenn sie so berühmt sein werden wie José Tomás oder El Juli, die großen Spanier, deren Poster in Cristians Zimmer hängen, die pro Kampf bis zu 100 000 Dollar verdienen, deren Affären in den Klatschspalten stehen, die mit Königen dinieren.
Aber die meisten Stierkampfstadien in Mexiko wie in Spanien sind seit langer Zeit halb leer. Nur noch in Touristenorten wie Cancún floriert das Geschäft, ein Publikum von Gringos, die nicht wissen, wann sie klatschen müssen, und die zu höflich sind zum Buhen. 84 Prozent von 120 000 befragten Mexikanern haben bei einer Untersuchung angegeben, die Brutalität im Stierkampf sei ihnen zuwider. Und im Mutterland Spanien haben die Katalanen im Juli dieses Jahres die Corrida verboten.
Sicher ist der Tod eines Kampfbullen grausam. Doch er leidet in seinem Leben nur 15 Minuten. Davor genießt er fünf bis sechs Jahre ein Leben, von dem jedes Schlachtvieh und jede Milchkuh, die ihre Existenz zu Abermillionen in den mehr oder minder artgerechten Strukturen der Nutztierindustrie verbringen, nur träumen kann: in kleinen Herden, auf abgelegenen Weiden, umsorgt von ihrem Züchter, ohne jeden Stress. Wer Stierkampf barbarisch findet und ihn abschaffen möchte, sollte besser Vegetarier sein, denn in jedem Schnitzel auf dem Teller, in jedem Hamburger bei McDonalds steckt mehr tierisches Leid als in einem toten Toro Bravo.
Was, Cristian, fasziniert dich so sehr an diesem Spiel, das nicht mehr in die Gegenwart passt? Er lächelt und schlägt sich mit der Handfläche rhythmisch auf sein Herz. »Adrenalin«, sagt er. Dieses rasend schnelle Pumpen des Herzens. Nichts sei vergleichbar mit diesem Moment, Auge in Auge mit einer halben Tonne Stier, einer der kraftvollsten Kreaturen, die auf der Erde laufen.
In San Luis de la Paz ist bereits der vierte Matador an der Reihe, ein Mann namens Víctor Santos. Der Stier ist von den berittenen Picadores mit ihren Lanzen übel zugerichtet worden, dann haben ihm die drei Banderilleros je zwei mit buntem Tand verzierte Stöcke, Banderillas, in den Rücken getrieben. Diese Verletzungen, erklärt Cristian auf der Tribüne, geschehen nach dem immer selben Muster und verfolgen einen genauen Plan. Zum einen wird der Stier durch den Blutverlust geschwächt, zum andern wird der hochausgebildete Muskelstrang in seinem Nacken derart verstümmelt, dass das Tier den mächtigen Schädel mit den scharfen Hörnern kaum mehr heben kann. Beim Todesstoß muss das Schwert einen handtellergroßen Punkt treffen, nur dort kann die Klinge zwischen den mächtigen Schulterblättern hindurch und hoffentlich an der Wirbelsäule vorbei in die Eingeweide vordringen, wo sie im Idealfall eine Hohlvene zerschneidet. Sehr oft springt das Schwert jedoch an einem Knochen ab oder dringt nur zur Hälfte ein und muss vom Matador vor dem nächsten Versuch unter Schmährufen der unbarmherzigen Zuschauer wieder herausgezogen werden, während seine Helfer den Stier ablenken.
Doch so weit kommt Víctor Santos gar nicht. In einem jener seltenen Momente der Corrida, wenn der Tod, der für den Stier fast immer sicher ist, auch für den Matador von der bloßen Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit wird, erfasst der Bulle mit einem unerwarteten Schwenker seines Schädels seinen Gegner und hebt ihn mühelos in die Luft, wie ein Propeller wird der große Mann über den Hörnern herumgewirbelt, fällt dann zu Boden, und das Tier trampelt wütend über ihn hinweg. Die Menge im Kreisrund schreit auf, hingerissen von Mitgefühl und der Lust an diesem Augenblick, auf den es im Grunde nur gewartet hat. Víctor Santos sieht nicht gut aus, blutverschmiert, mit schmerzverzerrtem Gesicht, ein Unterschenkel steht in unnatürlichem Winkel vom Knie ab.
Ein paar Helfer lenken den Bullen mit wilden Schwenkern ihrer Capotes weg vom Geschehen, vier Männer tragen den Matador aus dem Ring. Hat die Menge den Torero zuvor noch ausgebuht für einen langweiligen Kampf, so skandiert sie ihm jetzt minutenlang mit »Torero!«-Rufen Mut zu, während er, für alle sichtbar, außerhalb des Rings verarztet wird. Dann geschieht das Unglaubliche. Santos kommt, auf einen Sanitäter gestützt, humpelnd in den Ring zurück, sein rechtes Bein ist an zwei Stellen mit silbernem Heimwerker-Klebeband bandagiert, er hält seinen Säbel in der Hand. Der Mann will den Job offensichtlich zu Ende bringen. Und tut es auch.
Zwar braucht er seine drei Hilfstoreros, die den Stier bis zur Apathie erschöpfen und ihn dann dem Meister, der kaum stehen kann, schlachtgerecht positionieren, sodass Santos, dessen Gesicht pure Angst ist, nur noch das Schwert dort einzuschieben braucht, wo es hingehört. Und endlich ist das Vieh erledigt. Das Publikum feiert seinen Helden, den wiederauferstandenen Torero, und es schreit »¡Oreja! ¡Oreja!«, ein Ohr vom Stier als Belohnung für Víctor Santos, der trotz eines zertrümmerten Knies nicht aufgegeben hat, der seine Ehre behalten hat, denn niemals darf ein Matador, so er nur irgend kann, den Ring verlassen, wenn der Stier noch lebt. Niemals.
Daran erinnert Cristian Hernández sich genau: Die Leuchtanzeige auf dem Hotelwecker im »Holiday Inn« zeigt 5:18 Uhr an, als er am Morgen des 13. Juni erwacht. Viel zu früh, der Kampf ist nachmittags um vier. Er geht duschen, dreht den Fernseher an, es läuft Fußball, Weltmeisterschaft in Südafrika, Serbien gegen Ghana, er schaut das ganze Spiel, er ist nervös. Um neun trifft sein Assistent ein, Pedro Escamilla, um die Schwerter zu schleifen. Um elf kommt sein Vater von der Stierverlosung in der Arena zurück, Toreros gehen niemals selbst zur Verlosung, Aberglaube. Und der Vater hat schlechte Nachrichten. Es ist schon schlimm genug, dass Cristian und die andern beiden Novilleros an diesem Tag gegen Stiere aus der De-Haro-Zucht kämpfen sollen, berüchtigte Viecher, bekannt für ihre besondere Aggressivität und Schlauheit. »Einen De Haro kannst du einmal reinlegen, vielleicht auch zweimal«, sagt Cristian, »aber beim dritten Mal hat er’s durchschaut.«
Töten, was man kriegt
Matadore von Rang kämpfen niemals gegen De-Haro-Stiere, zu gefährlich, aber Novilleros haben keine Wahl, sie müssen töten, was sie kriegen. Einer der beiden Stiere, die das Los ihm zugewiesen hat, ist der grösste und schwerste von allen, vier Jahre alt, 472 Kilo schwer, Augurio mit Namen, spanisch für Zeichen oder Omen. Kein gutes Omen, kein guter Tag.
Dann packt sein Assistent den Anzug aus, poliert die Schuhe, hilft Cristian in die Jacke, knotet die schmale Krawatte, das Anziehen dauert fast eine Stunde. Vor dem kleinen, selbst aufgebauten Altar mit Figuren der Jungfrau von Guadalupe und des heiligen Charbel, Schutzpatron der Toreros, den er vor jedem Kampf aufstellt, spricht er im Hotelzimmer still das Gebet, das er von seinem Idol gelernt hat, dem großen mexikanischen Matador David Silveti, der sich im Jahr 2003 eine Kugel durch den Kopf jagte, weil ihn eine Verletzung zum Rücktritt gezwungen hatte. »O Herr aller Macht und Güte, der du alle Kräfte verleihst und allen Mut, ich bitte dich um Vergebung für meine Schwächen und lege mein Schicksal in deine Hände.« Danach brechen die Männer auf zur Arena.
Gut zwei Monate später kandiert Cristians Mutter, Monserrat Galván Rangel, in der Küche der Familie Hernández ein paar Nüsse zum Nachtisch. Mit dem Jesuskind, das im Flur in einem Schrein auf eine Wiege gebettet liegt, hat sie einen Vertrag geschlossen: Immer wenn der Sohn vom Kampf heil nach Hause kommt, kriegt es ein neues Kleidchen. Beim letzten Mal half es nichts. Wie kann man auch an einem 13. kämpfen! Monserrat hat die bösen Zahlen durchschaut, die gegen Cristian sprachen. Nachdem ihr Sohn am 23. April im Jahr 2005 seinen ersten Kampf als Novillero focht, erlitt er exakt fünf Jahre später, am 23. April 2010, in der Heimarena Santa María de Querétaro seine dritte und schwerste Cornada, wie man die Verletzungen durch Hornstöße nennt, eine 18 Zentimeter lange Wunde am Unterschenkel. Der Stier verbog dabei die Metallplatte, die die Ärzte Cristian nach seiner ersten Cornada zwei Jahre davor in den Knochen geschraubt hatten. Er hat ein Foto vom Unfall auf seinem iPhone, er zoomt an die klaffende Wunde heran. »Das«, sagt die Mutter und tippt auf das Telefon, »hat seinen Mut gebrochen.« Der Sohn widerspricht nicht. Nur sechs Wochen danach kehrt Cristian Hernández für seinen wichtigsten Kampf zurück in den Ring.
»Im Stierkampf wiederholt sich rituell der Sieg des Menschen über ein Tier, das ihm, menschheitsgeschichtlich betrachtet, noch bis vor Kurzem überlegen war, ein Sieg über die Natur.« Das sagt Julio Téllez García, mexikanische Stierkampf-Koryphäe, der seit 38 Jahren immer montagabends die Fernsehsendung Toros y Toreros moderiert. Matadores, sagt Téllez, seien zeitlose Wesen aus einer anderen Welt, außerhalb jeder gesellschaftlichen Ordnung stehend, lebende Mythen, »und die besten von ihnen waren echte Bohemiens, Betrunkene, Wahnsinnige, Verliebte, Frauenhelden«, Künstler eben. Téllez hat Cristian Hernández als Novillero ein paarmal kämpfen sehen, »ein riesiges Talent, ein wunderbarer Junge«, aus dem, wie er glaubt, einmal ein ganz Großer hätte werden können. Julio Téllez García kann sich nicht erklären, »wie dieser Junge von einem Tag auf den andern zum Feigling werden konnte«.
Ein paar Wochen nach dem 13. Juni erreicht Cristian Hernández die Anfrage eines Stierkampfveranstalters, ob er sich eine Rückkehr in den Ring vorstellen könne, er biete 65 000 Pesos für einen Auftritt, 3700 Euro. Es ist das erste Mal, das Cristian Geld angeboten wird für einen Kampf. Er versteht, dass man ihn jetzt als »Torero sin huevos« vermarkten kann. Er lehnt ab. Doch für immer ausschließen will er es nicht, sein Comeback. Mal spricht er von ein paar Jahren, mal nur von ein paar Monaten Pause, um Gras wachsen zu lassen über die Schande. Zwar hat er soeben ein Studium begonnen, Industriekaufmann, er könnte, denkt er, in ein paar Jahren Geschäftsführer werden in einem lokalen Betrieb, Santiago de Querétaro ist die Hauptstadt der mexikanischen Kühlindustrie: Kühlschränke, Kühltruhen, Klimaanlagen, das würde ihn schon interessieren. Aber manchmal hört er dann wieder diese Stimme, seine Berufung, die ihm sagt, du kannst etwas Außergewöhnliches sein. Du kannst ein Stiertöter sein.
Der Himmel ist tiefgrau, als der Novillero Cristian Hernández am 13. Juni 2010 in der Plaza de Toros in Mexico City ankommt, bald wird es regnen. Es sitzen kaum tausend Leute auf den Rängen, das riesige Stadion wirkt ausgestorben. Um halb vier kämpft er gegen seinen ersten Stier, er heißt Alucinado. Das Tier gehorcht ihm nicht, erlaubt ihm nicht zu zeigen, was er kann. Er will die Sache schnell hinter sich bringen, doch das Schwert dringt kaum zur Hälfte ein. Auch herausziehen geht nicht, der Stier ist unberechenbar, unnahbar. Das Volk pfeift, ruft die üblichen Beleidigungen. Erst nach Ablauf der erlaubten Frist haucht der Bulle schließlich sein Leben aus, technisch gilt der Kampf für Cristian als verloren. Dann hat er zwei Stiere lang Pause und sieht, dass es den Kollegen auch nicht viel besser ergeht. Verdammte Toros. Verdammter Tag.
Dann, direkt vor seinem zweiten Auftritt, setzt eine Sturzflut ein, wie Mexico City sie in der Regenzeit öfter erlebt. Der Sand wird zu Schlamm. Augurio stürmt aus dem Tor, ein prächtiges Tier, doch ohne die geringste Lust zum Paartanz mit dem Tod. Der Kerl macht, was er will. Dass der Picador ihm mit seiner Lanze schon heftiger zugesetzt hat als üblich, scheint ihn nicht weiter zu stören. Nur ein einziger Banderillero setzt seine Stöcke in den Stierrücken, den andern beiden ist das Terrain zu rutschig, sie bleiben in Deckung. Bereits verlassen die ersten Zuschauer unter Pfiffen das Stadion, wegen des Regens und der miesen Show. Cristian tauscht den Capote, das große rote Tuch, gegen die handlichere Muleta ein, die nur in der Schlussphase zum Einsatz kommt, und ergreift sein Schwert. Jetzt steht er im Ring, durchnässt, die Schuhe im Dreck, dumpf hört er die Schimpftiraden von den Rängen, weit weg steht das Tier. Er ist müde. Er sieht keinen Sinn. Er hat Angst.
»Was soll ich tun?«, fragt Cristian seinen Freund und Assistenten, Pedro Escamilla, der hinter der Holzwand steht. »Töte ihn«, sagt dieser. »Töte ihn einfach irgendwie.«
Cristian Hernández blickt auf den Stier, sieht, wie er mit den Hufen scharrt, hört, wie er schnaubt. Dann rennt er davon.
Fotos: dpa