SZ-Magazin: Mohamad Kteish, nach Ihrer Flucht aus Aleppo lebten Sie drei Jahre in der Türkei, seit kurzem sind Sie in Deutschland. Wie erleben Sie die aktuelle Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze?
Mohamad Kteish: Es macht mich ratlos und tieftraurig. Als wir 2016 in die Türkei nach Kahramanmaraş kamen, haben uns die Leute mit offenen Armen empfangen. Die türkische Bevölkerung sah es als selbstverständlich an, andere Menschen in Not bei sich aufzunehmen. Sie behandelten uns wie ein Nachbar, dessen Haus abgebrannt ist und der nun Hilfe sucht.
Ist die Stimmung inzwischen gekippt?
Viele Bekannte von damals, die wie ich vor dem syrischen Krieg geflüchtet sind, leben in Angst. Sie haben sich in der Türkei ein neues Leben aufgebaut, sich in die Gesellschaft integriert, und sind jetzt auf einmal das Feindbild der Bürger.
Wieso?
Seit die Flüchtlingszahl wieder gestiegen ist, will die türkische Regierung Druck auf die EU ausüben. Also hetzt sie mit Lügen und Propaganda ganz gezielt gegen Syrer, um so das öffentliche Stimmungsbild gegen Geflüchtete zu lenken. Und das funktioniert.
Inwiefern?
Ein Freund meiner Eltern hat damals einen Gemüseladen eröffnet, letzte Woche wurde sein Stand umgetreten. Die Autos vieler Syrer werden beschädigt. Und erst vor ein paar Tagen ist ein Mann aus Aleppo zusammengeschlagen worden. Die Botschaft ist klar: Syrische Flüchtlinge sollen aus dem Land getrieben werden.
Deshalb versuchen zurzeit Tausende Geflüchtete nach Griechenland zu gelangen. Die Regierung …
… will das mit aller Macht verhindern, aber wie soll das funktionieren? Die Flüchtlinge haben sich den Weg nach Griechenland ja nicht ausgesucht, er ist ihre einzige Chance. Trotzdem werden sie an der Grenze von Soldaten bekämpft. Ein Freund aus meiner Schulzeit ist unter ihnen, ich bete für jeden Tag für ihn.
Haben Sie Kontakt?
Wir schreiben über Whatsapp – zwar nicht lange, damit sein Akku nicht leer geht – aber er erzählt, wie es seiner Familie und den anderen geht. Viele Geflüchtete müssen hungern, werden krank. Nachts droht ihnen der Kältetod. Und sogar Kinder werden mit Pfefferspray von der Grenze abgehalten. Das ist menschenunwürdig. Die Menschen haben Angst um ihr Leben – und niemand will ihnen helfen.
Inzwischen gab es erste Todesfälle.
Und es werden jeden Tag mehr. Die Situation eskaliert. Aber was bleibt den Geflüchteten für eine Alternative? Wo sollen Sie sonst hin? Sie einfach zu isolieren und ihrem Schicksal zu überlassen, darf keine Lösung sein.
»In der Türkei hatten wir keine Perspektive. Weder auf Bildung, noch auf Arbeit«
Sie selbst flüchteten 2016 aus Aleppo in die Türkei. Wie ging es weiter?
Die Flucht kam gerade rechtzeitig. Kurz danach ist in der Straße meines Elternhauses eine Bombe hochgegangen. In Kahramanmaraş war der Krieg dann weit weg und unsere Familie sicher. Das war das Wichtigste. Aber dauerhaft konnten wir nicht bleiben. Irgendwann muss es ja ein Ziel geben, das über das reine Überleben hinaus geht. In der Türkei hatten wir keine Perspektive. Weder auf Bildung, noch auf Arbeit.
Also gingen Sie nach Deutschland.
Genau. Wir haben früh ein Visum beantragt und konnten schließlich nach drei Jahren ganz legal einreisen. Dieses Glück hatten schon damals viele Geflüchtete nicht.
Ging es mit der Bürokratie in Deutschland denn so reibungslos weiter?
Auf dem Weg hierher war ich voller Hoffnung. Ich träumte davon, Architektur zu studieren, Freunde zu finden und endlich einen normalen Alltag zu führen. Aber so leicht ist das nicht. Vom BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Anm. d. Red.) sind wir in die hessische Provinz eingeteilt worden, nach Romrot. Hier leben wir als Familie zu siebt in einer kleinen Wohnung. Schulen und Deutschkurse gibt es nur im Nachbardorf.
Kommt es beim Zusammenleben auf engem Raum zu Konflikten?
Wir sind es inzwischen gewohnt, als Familie mit wenig Platz auszukommen. Aber mit den Mitbewohnern gibt es manchmal Stress. Ein Mann aus dem Iran wollte sich partout nicht damit abfinden, dass er sich hier auch mit Frauen die Wohnung teilen muss. Der hat uns teilweise richtig zusammengeschrien, wegen allem gab es Streit.
Zum Beispiel?
Ganz banale Sachen. Wenn wir in die Küche kamen, wollte er den Raum nicht betreten. Einmal ist durch den Wind die Küchentür zugeschlagen. Als Reaktion hat er uns minutenlang zusammengeschrien. Meine kleine Schwester ist so einen Umgang nicht gewohnt. Wenn jemand sie dermaßen anherrscht und bedroht, bekommt sie Angst. Irgendwann hat der Typ Ärger mit der Polizei bekommen, zum Glück ist er jetzt weggezogen. Das schafft ein bisschen Alltag.
Wie sieht dieser Alltag aus?
Morgens um 6 geht es ins Nachbardorf, wir haben kein Auto und laufen deshalb zu Fuß. Halbe Stunde zum Bahnhof, halbe Stunde Fahrt, danach nochmal 20 Minuten von der Bahnstation zur Schule. Ich gehe in eine »Sonderklasse« für Geflüchtete, meine kleinen Geschwister in eine ganz normale Grundschulklasse. Danach üben wir Deutsch und fragen uns gegenseitig ab. Und Nachmittags geht es auf den Fußballplatz.
Sie spielen zusammen Fußball?
Nicht im Verein, sondern bloß mit meinen Geschwistern auf dem Bolzplatz im Ort. Hochhalten, zwei gegen zwei, oder einfach ein bisschen kicken – die Bewegung an der frischen Luft hilft immer.
»Hier kann ich rumrennen, springen und fühle mich nicht eingezwängt. Fußball bedeutet Freiheit«
Wobei?
Um für ein paar Stunden das Drumherum zu verdrängen. Nicht an Gewalt zu denken. Unsere Wohnung ist so eng, dass die Weitläufigkeit des Platzes wie eine Bewegungstherapie wirkt. Hier kann ich rumrennen, springen und fühle mich nicht eingezwängt. Fußball bedeutet Freiheit. Wenn wir alle platt sind, geht’s in den nächsten Supermarkt. Wir haben sogar eine spezielle Einkaufsliste.
Erzählen Sie.
Eigentlich kaufen wir nur ganz normale Sachen. Reis, Brot, nichts Teures. Aber wenn zum Ende des Monats ein bisschen Geld überbleibt, tun wir uns was Gutes: Dann gibt es Wurst, Käse und Nussbrot. Wir nennen das den »Deutschen Einkauf«, weil wir das Brot vorher noch nie gesehen haben. Aber es schmeckt so gut. Und dabei fühlen wir uns wie »richtige« Deutsche.
Vielen »richtigen« Deutschen sind Geflüchtete ein Dorn im Auge. Waren Sie schon Anfeindungen ausgesetzt?
Nein, und das möchte ich ganz deutlich betonen. Die Menschen, auf die wir hier gestoßen sind, waren alle sehr hilfsbereit und freundlich. Rassismus aus der Bevölkerung betrifft uns kaum. Bei einigen Beamten ist das anders.
Inwiefern?
Beim Amt gibt es einen Angestellten, der uns jedes Mal von oben herab behandelt. Wenn etwas bei unseren Anträgen schief läuft, dann sind wir Schuld, die Syrer. Wenn ein Antrag aber richtig abgegeben wurde, dann obwohl wir ihn ausgefüllt haben. Für ihn sind wir Menschen zweiter Klasse.
»Wenn man auf den falschen Sachbearbeiter trifft, ist man dem Rassismus schutzlos ausgeliefert«
Woran macht sich das bemerkbar?
Einmal, als wir als Familie zu siebt bei ihm ankamen, durften wir uns nicht hinsetzen. Nicht meine Eltern, nicht ich, noch nicht einmal meine kleinen Geschwister. Es hätte genug Stühle gegeben, aber wir sollten stehen. Wenn man auf den falschen Sachbearbeiter trifft, ist man dem Rassismus schutzlos ausgeliefert.
Könnten Sie sich nicht an den Vorgesetzten wenden?
Wenn wir uns zu viel beklagen, glaubt uns niemand. Und dieser Beamte ist zu jedem anderen sehr nett, er gilt als höflich und hilfsbereit. Nur wir passen nicht in sein Weltbild. Dabei ist es doch so: Niemand kann etwas für seine Herkunft. Er genauso wenig wie wir.
Ein großer Teil ihrer Herkunft ist inzwischen zerstört. Also haben Sie schon als Jugendlicher angefangen, das Aleppo ihrer Kindheit in Modellform nachzubauen.
Früher sind wir im Park nebenan Fahrrad gefahren, haben Fangen oder den Nachbarskindern Streiche gespielt. Inzwischen ist vom Park nichts mehr übrig, das ganze Stadtviertel ist zerbombt. Als die Einschläge begannen und jeden Tag andere Straßenabschnitte zerfielen, wollte ich dem etwas entgegensetzen. Ich fing an, das Aleppo nachzubauen, das ich aus meiner Kindheit kannte: Das lebendige, lebensfrohe und herzliche Aleppo.
Konnten Sie sich alles merken?
Ein paar Fehler sind sicher dabei, aber im Großen und Ganzen kommt es schon hin. Außerdem konnte ich ja schlecht rausgehen und nachschauen, wenn ich mir an manchen Stellen unsicher war. Vielmehr saß ich bei bei uns im Keller und hab’ versucht, mir die Straßen aus dem Gedächtnis zusammenzureimen. Dann habe ich einfach losgelegt – mit den simpelsten Mitteln.
Zum Beispiel?
Den größten Teil habe ich mit Papier, Karton und Wasserfarbe erledigt. Leider ist die erste Nachbildung von der Druckwelle einer Bombe zerstört worden, immerhin konnte der New Yorker Kurator Alex Kalman meine zweite Anfertigung retten. Die Heißklebepistole, die mir mein Vater nach dem ersten Modell geschenkt hat, habe ich immer noch. Auch wenn sie längst nicht mehr funktioniert.
Wieso?
Sie erinnert mich an früher. Auf der Flucht konnten wir nur das Nötigste mitnehmen, wir hatten kaum Platz für unsere Kleidung. Aber meine Heißklebepistole wollte ich nicht zurücklassen. Weder in Aleppo, noch später in der Türkei. Heute liegt sie bei mir im Nachttisch. Ich kann sie zwar nicht benutzen, aber manchmal hole ich sie einfach so hervor und halte sie in der Hand. Das ist ein Teil der Verarbeitung. Von schönen, aber auch von traumatischen Dingen.
Holen Sie die Erinnerungen oft ein?
Sie kommen immer wieder hoch, aber anders, als viele sich das vorstellen. Es ist nicht so, dass ich jede Nacht zu einer bestimmten Uhrzeit aufwache und den immer gleichen Albtraum durchlebe. Es sind eher kleine Dinge, die einen manchmal völlig umhauen.
Welche sind das?
Das ist ganz unterschiedlich. Beim Autofahren achte ich zum Beispiel immer sehr genau aufs Navi. Völlig irrational, schließlich ist ein kleiner Umweg ja keine große Sache. Aber in Aleppo sind wir mal genau deshalb in eine Schießerei gekommen. Mein Vater ist falsch abgebogen und wir fuhren in einen vom Regime besetzten Stadtteil. Als uns die Soldaten von Assad bemerkten, haben sie sofort geschossen. Mein Vater hat einen Streifschuss abbekommen. Ein Freund, der mit uns im Auto saß, ist an den Kugeln gestorben.
Also meiden Sie das Autofahren seitdem?
Nein, denn für Erinnerungen gibt es kein regelmäßiges Muster. An manchen Tagen vergisst man sie komplett, an anderen gehen sie überhaupt nicht mehr aus dem Kopf. Ich gehe hier zum Beispiel sehr gerne in die Schule und freue mich, mein Deutsch weiter zu verbessern. An manchen Tagen aber graut mich allein die Vorstellung daran.
»Während mein Vater in den Trümmern nach ihr suchte, kroch meine Mutter an einer anderen Stelle aus den zerbombten Schulüberresten zurück auf die Straße«
Wieso?
Meine Mutter arbeitete in Syrien als Kunstlehrerin. An einem Vormittag – sie unterrichtete gerade in der Schule nahe unserer Wohnung – gingen plötzlich Raketenabschüsse los. Wir liefen alle in den Bunker, aber meine Mutter schaffte es nicht zu uns. Als wir erfuhren, dass ihre Schule unter Beschuss stand, hielt mein Vater das Warten nicht aus und ging sie suchen. Wir Kinder mussten unten bleiben.
Wie lange mussten Sie warten?
Wahrscheinlich gar nicht so lange, vielleicht eine halbe Stunde. Es fühlte sich aber wie eine Ewigkeit an. Was wir damals nämlich nicht wussten: Meine Mutter befand sich zum Zeitpunkt des Angriffs nicht im Klassenzimmer. Ein Großteil ihrer Schüler starb, sie selbst überlebte den Angriff aber. Während mein Vater also in den Trümmern nach ihr suchte, kroch meine Mutter an einer anderen Stelle aus den zerbombten Schulüberresten zurück auf die Straße. Schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt. Plötzlich stand sie im Bunker vor uns, voller Staub und Dreck. Solche Bilder brennen sich in den Kopf.
Aleppo in Modellform
Auch diese Erlebnisse sind in ihren Modellen verarbeitet. Ab April stellt das Victoria & Albert Museum in Hamburg Ihre Nachbildungen aus…
…und darüber freue ich mich sehr. Ich weiß aber nicht, ob ich die Ausstellung überhaupt besuchen kann. Ein Ticket nach Hamburg ist teuer und ich habe hier viel zu tun. Außerdem will ich bald auch andere Städte nachbauen.
Welche denn?
Als nächstes ist Frankfurt geplant. Wegen der Hochhäuser eignet sich die Stadt super dafür. Mein Traum ist es, dort irgendwann Architektur zu studieren.
Und danach?
Würde ich mich gern selbstständig machen und Leuten helfen, ihre Häuser zu bauen. Nach Aleppo will ich jedenfalls nicht zurückkehren.
Wieso?
Ich will der Gesellschaft hier etwas zurückgeben. Außerdem habe ich über WhatsApp und Facebook noch Kontakt zu manchen Kumpels von früher. Die erzählen, wie gefährlich es dort immer noch ist. Der Rest meiner alten Freunde ist inzwischen auch geflohen – oder gestorben.
Übersetzung: Johannes von Stieglitz