Gerührt ist nicht geschüttelt

Vor lauter Ergriffenheit über Katzenvideos im Internet scheinen Menschen das Mitgefühl für die Opfer von Kriegen und Katastrophen zu verlernen. Ein Plädoyer für den Mut, sich wieder auf die Welt einzulassen.

Erinnert sich eigentlich noch wer an all die Jesiden, die fliehen mussten, als … Oooh, ein Häschen, wie süß!

Wahnsinn, wie glücklich der Panda mit seinem Gummiball ist. Er will ihn einfach nicht hergeben, und in seinen Augen sehe ich leuchten, was so flüchtig, ja unerreichbar ist: Der Panda ist glücklich. Und ich bin gerührt.

Ich musste den Film nicht einmal anklicken, die Bilder haben sich selbst in Bewegung gesetzt, als ich durch meine Timeline bei Facebook scrollte. Genau wie die Bilder von der 102-Jährigen im Altersheim, die sich zum ersten Mal auf Filmaufnahmen aus den Vierzigerjahren als junge Tänzerin sieht. Eine amerikanische Freundin hat den Film passend gleich mit dem Hinweis versehen: »This made me cry!« Das ist keine Warnung, es ist ein Versprechen: Lass dich kurz rühren, verdrück ein Tränchen zwischendurch. Und tatsächlich habe ich, zwischen dummen Witzen von alten Freunden, Wortspielen von der Kollegin und politischen Nachrichten, die bei mir über den Facebook-Schirm laufen, hin und wieder feuchte Augen. Schwer zu sagen, wann und wie es mich trifft. Der Panda war so was, dabei nähere ich mich Tieren im Allgemeinen mit wohlwollendem Desinteresse. Ich bin auch nicht immun gegen den sogenannten »Cat content«, diese Millionen von Filmen, Gifs und Memes niedlicher, cooler oder eben rührender Katzen und Kätzchen. Ich suche solche Inhalte nicht, aber ich habe vier oder fünf enge Facebook-Freunde, die Katzenzeug teilen, und selbst wenn ich nur jedes zehnte Mal hinschaue, habe ich Hunderte von Katzenvideos gesehen. Meistens sind sie witzig, weil die Katzen in diesen Videos immer nonchalant oder arrogant bleiben, während ihnen etwas misslingt oder während sie sich scheinbar ein bisschen wie Menschen benehmen. Das macht die Internetkatzen aber in schwachen Momenten auch rührend: dass man sich und die eigenen Niederlagen in ihnen spiegelt, nur halt in niedlich.

Meistgelesen diese Woche:

Einen richtigen Tränenfilm hatte ich zuletzt bei diesem Onkel im Prinzessinnenkostüm vor den Augen. An sich ist die viel geteilte Geschichte nicht bemerkenswert: Ein ziemlich männlicher und stark tätowierter Onkel zieht sich ein glitzerndes Prinzessinnenkleid an, weil seine vierjährige Nichte sich nicht traut, als Prinzessin verkleidet mit ihm in eine Kinovorstellung von »Cinderella« zu gehen, wo alle im Kostüm erscheinen sollen. Der Onkel sieht auf dem Foto selbstbewusst und selbstvergessen, souverän lächerlich aus – und neben ihm strahlt seine Nichte, die sich durch sein Beispiel doch überwunden hat, ihrerseits die Prinzessinnen-Nummer durchzuziehen. Und ich schlucke mit einem ordentlichen Kloß im Hals.

Das hat eine geringe Fallhöhe, denn nichts steht auf dem Spiel als ein nicht ganz so schöner Kinonachmittag für eine Vierjährige, aber: Genau von Rührstücken dieser Betriebstemperatur wimmeln die sozialen Medien. Und weil sich das alles gleichzeitig mit ernsten Themen abspielt, parallel zu tatsächlich existenziellen Krisen, zu Elend, Tod und systemischer Ungerechtigkeit, stellt sich die Frage: Kann es sein, dass das eine auf Kosten des anderen geht? Ist es möglich, dass wir uns zur Unterhaltung, besser noch zur Erbauung rühren lassen und darüber verdrängen, für wen und wo unser Mitgefühl wirklich angebracht wäre? Sind wir zu gerührt von den Pandas und den Katzen und den Onkels in Prinzessinnenkleidern, um mitzufühlen mit den Flüchtlingen im Mittelmeer, den Erdbebenopfern in Nepal, den seltsam vergessenen Syrern, den Jesiden von neulich und den von Boko Haram Verschleppten von vor einem Jahr?

Rührung hat seit jeher einen schlechten Ruf. Klar, dass ein cooler Surrealist wie Jean Cocteau keine Zeit für Pipi in den Augen hatte (»Rührung trübt den Geist«), ebenso wie der dem Realismus zugerechnete Dichter und Dramatiker Friedrich Hebbel (»Ich sehe in der Rührung immer nur eine Versuchung zur Untreue an mir selbst und unterdrücke sie«). Und wenn man die sozialen Medien von heute als »Rührungsmaschine« bezeichnen möchte, dann benutzt man einen zweihundert Jahre alten Begriff, mit dem einst Pfarrer kritisiert wurden, die allzu klischeehaft und ohne geistige Tiefe bei ihren Zuhörern Emotionen zu wecken suchten.

Besonders differenziert hat es der Philosoph Walter Benjamin am Beispiel von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften erläutert. Benjamin beschreibt Rührung als Gegenteil von Klarheit: weil die Tränen in den Augen den Blick trüben. Benjamin analysiert eine Szene im Roman, in der die Protagonisten durch ein musikalisches Vorspiel gerührt sind, und durch diese Rührung scheinen ihnen eine Versöhnung und Liebe und andere große, tiefe Emotionen möglich. Laut Benjamin ist, was einem die Rührung verspricht, aber immer nur Schein, eben durch den unscharfen, verwässerten Blick: Für einen Moment sehe ich im Panda mit dem Gummiball eine Vision des Glücks, aber sie ist folgenlos für mich, auf mein Leben nicht anwendbar. Für einen Moment sehe ich im Prinzessinnen-Onkel einen Umsturz der Konventionen, aber er kostet mich keine Anstrengung, weil ich nicht handeln muss, ich schaue nur und lächle gerührt, und das bleibt wirkungslos.

Besonders schön und auf unsere feuchten Augen im Zeitalter des Internets anwendbar ist aber vielleicht Benjamins Formulierung über die »kleine Rührung, die sich selbst genießt«. Wenn ich ehrlich bin, kenne ich dieses Gefühl genau: das der Kleinheit ebenso wie diesen leicht schuldigen Genuss, den einem eine gute Rührung beschert. Je älter ich werde, desto mehr Rührstücke gibt es, die die Macht haben, mich anzugreifen. Ich weiß, dass ich große Teile von Astrid Lindgrens Madita-Romanen nicht vorlesen kann, ohne dass sich meine Kinder über meine bröckelnde Stimme wundern oder amüsieren (wenn sie sich dann doch anfreundet mit der verlausten Mia!), ganz zu schweigen von Michel aus Lönneberga (wenn er im tiefsten Schnee den Knecht Alfred rettet!) und Wir Kinder aus Bullerbü (die ganze unschuldige Ikeahaftigkeit von allem, wie »Billy« in schön). Eine Freundin gestand neulich, bei ihr würden mitunter schon Conni-Bücher für Leseanfänger genügen. Oder, erwachsener, wenn Paris, einfach so nur zum Spaß von Udo Jürgens im Radio kommt – oder ich es extra spiele, um die süße Rührung zu spüren. Über die Zeile »Dass du gerne im Gras schläfst, hast du mir nie gesagt«, in der so viele Missverständnisse zwischen zwei Menschen schimmern, die dann gerade noch rechtzeitig aufgelöst werden. Davon habe ich nichts, aber durch den metaphorischen Tränenschleier entsteht eine Unschärfe, in der es für einen Moment möglich scheint, dass irgendwie doch alles gut ist oder wird.

»Empathischer Ansteckung«: Wenn ein Baby auf der Säuglingsstation schreit, fangen die anderen auch damit an.

Die Erdbebenkatastrophe von Nepal hat keine Kulleraugen und auch sonst nichts Niedliches - das ist vor allem im Internet ein Wettbewerbsnachteil.

Wenn nun aber Bullerbü, Udo Jürgens und Facebook-Tiere reichen, um mich zu rühren, müsste ich dann nicht bei jeder Nachricht aus einem Krisengebiet erst recht in Tränen ausbrechen, bei jeder Titelseite der Tageszeitung, bei jeder Tagesschau? Der Unterschied ist vielleicht, dass Rührung immer auf mich selbst und mein Leben zurückverweist, es ist eine sehr private, oft auch nostalgische Regung. Und diese Art von Rührung ist, wie gesagt, kein unangenehmes, sondern eher ein Tiefe vortäuschendes, geradezu unterhaltsames Gefühl.

Das reale Leid anderer hingegen löst in unserem Gehirn komplexe Vorgänge aus, die unter Umständen dazu führen, dass wir uns überwältigt, hilflos und verzweifelt fühlen. Neurowissenschaftler nennen das »empathischen Stress«, es ist sozusagen die schlechteste, am wenigsten hilfreiche Variante des Mitleidens. Die Neurologin und Psychologin Tania Singer ist geschäftsführende Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, sie forscht über Empathie und Mitgefühl. Sehen wir das Leid eines anderen Menschen, haben wir ihr zufolge zuerst eine empathische Reaktion: »Wenn es einem anderen Menschen schlecht geht, trete ich, wie wir sagen, in emotionale Resonanz mit ihm«, sagt Tania Singer. »Das heißt, wenn ich zum Beispiel jemand anderen Schmerzen erleiden sehe, dann aktiviere ich Teile eines Netzwerkes im Gehirn, das auch dafür zuständig ist, meine eigenen Schmerzen zu verarbeiten. Dadurch kann ich fühlen, wie es einem anderen geht: Ich denke es nicht nur, sondern ich spüre es direkt in meinem Körper.« Die empathische Reaktion passiert innerhalb von Millisekunden und kann auch unbewusst ablaufen, dann spricht man von »empathischer Ansteckung«: Wenn ein Baby auf der Säuglingsstation schreit, fangen die anderen auch damit an.

Ein zentrales Thema in der Forschung der Neurowissenschaftlerin Singer ist jedoch der Übergang von der Empathie zum Mitgefühl. Wer nämlich das Leid anderer nur empathisch nachempfindet, gerät womöglich in den oben erwähnten »empathischen Stress«, also in Überforderung, Abwehr, Verdrängung. Den Unterschied erklärt sie am Beispiel einer Mutter, deren Kind sich verletzt: »Zuerst zuckt die Mutter zusammen, weil sie den Schmerz des Kindes empathisch spürt. Aber wenn sie nun in empathischen Stress gerät, fängt sie auch an zu weinen, dann schaukelt sich das hoch, und damit ist dann niemandem geholfen. Eine mitfühlende Reaktion ist hingegen, ruhig zu bleiben, das Kind in die Arme zu nehmen, es zu trösten und sich darum zu kümmern, diesem zu helfen. Nach einem Mitgefühlstraining wird im Gehirn ein anderes Netzwerk aktiviert als bei der empathischen Reaktion. Mitgefühl entspringt dem Fürsorgesystem, das eher mit positiven Gefühlen wie Ruhe und Stärke einhergeht statt mit negativen Gefühlen und Stress.« Der Schlüssel ist also, Empathie in Mitgefühl zu »überführen«, wie Tania Singer sagt: »Wer in empathischen Stress gerät, ist sich selbst am nächsten, unter diesem Stress ist kein soziales Verhalten für die Gemeinschaft möglich, sondern man kümmert sich darum, dass es einem selbst besser geht.«

Und wenn man das Beispiel der Mutter durch etwa Nepal ersetzt? »Erst mal rühren Sie die Fernsehbilder der Erdbebenfolgen, wenn Sie sie sehen«, sagt Tania Singer, »dessen sind Sie sich gar nicht bewusst, Sie haben eine empathische Reaktion. Das motiviert Sie, überhaupt interessiert zu sein. Wenn Sie sich jetzt überschwemmen lassen von diesem Gefühl, dann geraten Sie in die empathische Stressreaktion und sagen: Ach komm, schalt um, ich kann’s nicht mehr sehen. Wenn Sie das aber in Mitgefühl umwandeln, was bei vielen Menschen ganz normal passiert, dann werden Sie einen Stift holen und die Nummer des Spendenkontos aufschreiben.«

Wovon es abhängt und ob es möglicherweise Veranlagung ist, dass ein Mensch Empathie in Mitgefühl umwandelt, ist noch nicht geklärt: Singer und ihre Kolleginnen und Kollegen widmen unter anderem dieser Frage ein mehrjähriges Forschungsprojekt mit Hunderten von Probanden. Nachgewiesen haben sie bereits, dass man Mitgefühl lernen kann, genauer gesagt: die Fähigkeit, Empathie in Mitgefühl zu verwandeln, also in positive, aktive, altruistische Gefühle. Dafür eignen sich verschiedene Meditationstechniken, über die Tania Singer und ihr Kollege Matthias Bolz in einem umfangreichen, anregenden, multimedialen E-Book einen Überblick geben (das man unter www.compassion-training.org kostenlos herunterladen kann).

Tja, das klingt jetzt wie die aktuelle Standardantwort auf jedes Problem, das einen im 21. Jahrhundert plagt: Das Beste, das du tun kannst, ist zu meditieren. Aber das ist nicht alles. Vielleicht hilft ja schon die Erkenntnis, dass wir uns, wenn wir uns dem Leid der Welt nicht gewachsen fühlen, in einem normalen Prozess befinden, der nicht damit enden muss, dass wir unter diesem Leid zusammenbrechen.

Zwar ist die Spendenbereitschaft in Deutschland groß und die Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen, viel größer als vor zwanzig Jahren. Aber das Gefühl, dass die schlechten Nachrichten immer mehr werden und dass sie nicht länger zu ertragen sind, ja dass insgesamt die Zeiten immer schlimmer werden – dieses Gefühl zieht sich durch viele Gespräche und Threads. Manchmal scheint es, als wären wir alle im »empathischen Stress« gefangen, in einer Schleife aus Schreckensnachrichten, der wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Vielleicht kommt daher unsere große Rührungssehnsucht, unsere Bereitschaft, auf Links zu klicken, die uns ein bisschen unverbindliche Tränendrüsenstimulation versprechen: Je mehr Leid in der Welt, desto mehr Rührstücke brauchen wir als Überlaufventil, denn im Grunde sind wir so randvoll mit Tränen, dass wir platzen müssten.

Vielleicht sollten wir die reflexhafte, gleichförmige und auch hilflose Weise, in der wir oft auf Katastrophen reagieren, als »empathische Ansteckung« begreifen: das Austauschen von Profilbildern zu »Je suis Charlie«-Bannern oder geschwärzten »Germanwings«-Logos, eine fast automatische Handlung, die uns wenige Tage später schon übertrieben und sinnlos erscheinen mag, wie kollektives Geschrei auf der Säuglingsstation.

Doch dabei wäre es gut zu erkennen, dass wir immer, wenn wir etwas nicht mehr sehen oder ertragen können, irgendwo auf dem Weg zum Mitgefühl steckengeblieben sind. Und dass der Ausweg nicht Umschalten oder Ablenkung ist, sondern: etwas zu tun. Aus diesem Impuls entsteht dann vielleicht eine Betriebsamkeit, die wir im nächsten Schritt schnell wieder kritisieren, weil sie symbolisch und bequem wirkt – und an eine Spendenüberweisung nicht heranreicht: Was hat diese Schweigeminute jetzt gebracht, wer hat was davon, wenn ich diesen Spendenaufruf auf Facebook teile, und selbst wenn ich ausmiste und meine alten Klamotten ungeordnet vor der Kirche ablege für die Flüchtlinge – tue ich das dann nicht einfach, um mich selbst besser zu fühlen?

Mag sein. Aber je länger man darüber nachdenkt, desto weniger klingt das wie ein Vorwurf: sich selbst besser fühlen zu wollen. Weil Mitgefühl eine angenehmere Emotion ist als empathischer Stress und eine produktivere als einfach Rührung. Nein, der Wunsch, sich selbst besser zu fühlen, kann kein Vorwurf sein, sondern im besten Fall ein Anfang.

Illustrationen: Dennis Busch