Komm, gib mir deine Hand

Die Berührung ihrer Sitznachbarin im Flugzeug katapultiert unsere Autorin 15 Jahre in die Vergangenheit zurück. Eine Geschichte über die Zärtlichkeit von Zufallsbekanntschaften.

Gegenüber ­Menschen, die man nie zuvor ­gesehen hat, lässt man manchmal besonders viel Nähe zu.

Foto: Philotheus Nisch

Es hätte eine Dienstreise wie jede andere werden können, kurz vor fünf aufstehen, kleiner Kaffee, kein Frühstück, bisschen spät dran, S-Bahn zum Flughafen – und dann fiel mir auf, dass ich Reisepass und Personalausweis vergessen hatte.­ Panik: Ich malte mir aus, an der Kontrolle abgewiesen, nach Hause geschickt und wegen Unachtsamkeit gekündigt zu werden. Ich musste nach Zürich zu einem Interviewtermin, der nicht platzen durfte, rannte zur Bundespolizei, wo der Beamte sagte: »Können wir nix machen, die Schweiz akzeptiert keine vorläufigen Dokumente«, mir wurde sehr warm, er sah das und schob nach: »Aber versuchen Sie doch, einfach zu boarden!«

Ich versuchte, es klappte. Die erste Hürde war genommen. Ob ich in die Schweiz würde einreisen können, keine Ahnung. Kurzatmig ließ ich mich auf meinen Platz fallen. Ich fantasierte immer noch über ­meinen gesellschaftlichen Abstieg, als ein blondes Mädchen umständlich einen kleinen­ rot karierten Felix-Koffer in das Fach über mir räumte. Ich ließ sie vorbei, sie plumpste auf den Fensterplatz und schaute angestrengt hinaus. Sie versuchte, sich zu sammeln, ihr Oberkörper bebte, sie drehte sich zu mir, und ich sah in zwei weinende Augen. Sie verdrückte nicht nur ein paar Tränen. Sie weinte wie das Kind, das sie noch war, aber nach dieser Reise nicht mehr sein würde.

»Alles okay? Kann ich dir helfen?« »Ich habe mich gerade von meinen Eltern verabschiedet, die ich jetzt ein Jahr lang nicht wiedersehen werde.«

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Hannah, 15, aus einer bayerischen Kleinstadt, war auf dem Weg in die USA zu ihrer Gastfamilie, und dieser Flug war der erste Flug ihres Lebens. Es ging von München nach Zürich, wo ich aussteigen und sie umsteigen würde. Sie schluchzte. Ich bot ihr meine Hand an. Sie nahm sie und drückte fest zu. Hannah, das war ich vor gut 15 Jahren. Mein erster Flug ging damals von Bremen nach Frankfurt und von da aus nach Ohio. Sie brauchte mich, so wie ich damals jemanden gebraucht hätte, ohne mir das eingestanden zu haben. Ihre Berührung rührte mich.

Hannahs Hand war wie ein Portschlüssel in meine Vergangenheit, in dieses Flugzeug 2003, als ich meine große Reise in Richtung Leben antrat

Haben Sie Harry Potter gelesen? Dort gibt es die sogenannten Portschlüssel – verzauberte Gegenstände, die einen bei Berührung an einen vorher festgelegten Ort bringen. Hannahs Hand war wie ein Portschlüssel in meine Vergangenheit, in dieses Flugzeug 2003, als ich meine große Reise in Richtung Leben antrat. An genau dieser Schwelle stand Hannah nun. Und ich war diejenige, die sie mit ihr passieren würde.

Also fing ich an zu fragen. So wie man fragt, wenn man weiß, dass man sich nie wiedersieht: engagiert. Und sie erzählte so, wie man erzählt, wenn man weiß, dass man den anderen nie wiedersehen wird: persönlich. Erst von ihren Eltern, dann von ihrem kleinen Bruder, der gar nicht richtig traurig gewesen war, weil er sich so gefreut hatte, nun für ein Jahr ihr Zimmer benutzen zu können. Schließlich von ihrer besten Freundin, die gestern bei ihr übernachten sollte, es dann aber doch nicht tat, weil sie beide Angst vor dem Abschied hatten. Sie gab ihr stattdessen einen dicken Brief, den Hannah jetzt aber auf keinen Fall öffnen konnte, weil sie, wie sie sagte, dann ja noch mehr heulen müsste.

»Kommt sie dich denn besuchen?« »Nein, wir haben uns dagegen entschieden, weil wir glauben, dass es zu hart wäre, sich danach wieder zu trennen.«

Das Flugzeug setzte sich in Bewegung, Hannah drückte meine Hand noch fester. Hannah hatte Angst, vom Himmel zu fallen. Der Pilot beschleunigte, Hannah kniff die Augen zusammen, ihre Wangen waren noch nass, wir hoben ab – und sie strahlte, wie ich lange niemanden hatte strahlen sehen. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und genau in diesem Moment ließ sie meine Hand los und rief: »Das ist ja wie Busfahren im Himmel!« So ansteckend wie ihr Abschiedsschmerz war ihre Aufbruchseupho­rie. Auf einmal schien sie es nicht mehr abwarten zu können. Nun stellte sie die Fragen, und ich gab die Antworten. Wir sprachen darüber, wie meine ersten Schultage damals waren, meine Gastschwestern, was sie beachten müsse, ob es Streit gegeben habe, wie das mit den Schlafzimmertüren sei, ob es stimme, dass die immer offen stehen müssen, wenn Besuch kommt, ob sie wohl mit ihren Gasteltern über Politik reden dürfe. Mit jedem Meter Distanz zu München wuchs die Nähe zwischen uns. Im geschützten Raum des Unterwegsseins ließen wir uns aufeinander ein. Wohl wissend, dass unsere Zeit gleich vorbei sein würde.

Als wir in Zürich aufsetzten, riss das unsichtbare Band zwischen uns. Hand in Hand waren wir abgehoben, weiter musste jede allein. »Viel Glück«, sagte sie. »Leb wohl! Pass auf dich auf«, sagte ich.  Und denke seitdem: Danke, dass du meine Hand genommen hast.