Der Alltag ist eine anspruchsvolle Disziplin. Aufstehen, Haare kämmen, dreimal am Tag essen, atmen, lachen. Manchmal hat Naïma das Gefühl, sie habe sich für diese grundsätzlichste aller Disziplinen disqualifiziert. Das Gefühl stellt sich besonders an Katertagen ein, nach zu viel Weißwein, nach dem Exzess, der zu ihrem Leben als endzwanzigjährige Mitarbeitern einer Kunstgalerie in Paris dazugehört. Immer wieder hört sie an diesen Morgen die Stimme ihres Onkels Mo: »Was, glaubt ihr, machen eure Töchter in den großen Städten …«, schimpft er auf Familienfeiern, seine Sätze wirbeln wie Papierfetzen im Wind durch ihre Gedanken. »Sie sagen, sie gehen studieren. Aber schaut sie euch an: Sie tragen Hosen, sie rauchen, sie trinken, sie führen sich auf wie Huren.« Er schließt seine Tirade immer mit den Worten: »Sie haben vergessen, woher sie kommen.«
Naïma, die Protagonistin in Alice Zeniters Roman Die Kunst zu verlieren, weiß natürlich, was er damit meint, »vergessen, woher sie kommen«, er meint Algerien, das Land seines und auch ihres Vaters, die Gegend, aus der sie stammen, die Kabylei, eine Gebirgsregion östlich von Algier, den Bergkamm, den ihre Familie seit Jahrhunderten bewohnt und den weder Naïma noch ihr Onkel Mo je betreten haben, weil sie beide in Frankreich geboren wurden.
Kann man aus einem Land kommen, in dem man nie war? Oder andersherum: Kann man ein Land verlieren, das einem nie gehört hat?
Alice Zeniter
wurde 1986 in der Normandie geboren. Auch ihre Mutter stammt aus der Normandie, ihr Vater floh nach dem Algerienkrieg 1962 mit seinen Eltern aus Algerien nach Frankreich. Zeniter veröffentlichte ihren ersten Roman mit 15. Sie studierte Theaterwissenschaft an der École normale supérieure in Paris, einer der wichtigsten Elite-Universitäten Frankreichs, an der auch Simone Weil und Michel Foucault waren. Sie lebte mehrere Jahre in Budapest. Schreibt sie nicht, reist sie mit einer Theatertruppe im VW Bulli durch Frankreich. Ihr Buch Die Kunst zu verlieren erschien 2019 im Piper Verlag.
Alice Zeniter sitzt im Schatten einer Birke, an einem Donnerstag im Juli, im Garten ihres Steinhauses in der Bretagne. Zeniter, 32 Jahre alt, ist Autorin von fünf Romanen, Theaterregisseurin, Übersetzerin, und sie glaubt schon, dass man ein Land verlieren kann. Obwohl sie nicht denkt, dass ihre Hauptfigur Naïma darunter leidet, Algerien verloren zu haben. Naïma leide viel mehr darunter, dass zwischen ihr und dem Land ihrer Vorfahren nicht nur die Zeit, die Generationen und das Meer liegen, sondern eine große Stille, in deren Mitte das Wort Harki steht.
Im Roman zitiert Zeniter aus dem Larousse, dem französischen Duden: »Harki, Nomen, maskulin: Militärangehöriger, der in einer Harka dient.« Doch die Definition vermag kaum zu erklären, wie viele Schicksale und wie viel Unrecht an diesem verschwommenen Begriff hängt. Als Harkis wurden die algerischen Hilfstruppen der französischen Armee während des Algerienkrieges bezeichnet. 1954 erhoben sich die Algerier unter der Führung der kommunistischen Nationalen Befreiungsfront gegen ihre Kolonialherren, die Franzosen. Der Krieg dauerte acht Jahre, von 1954 bis 1962, und kostete bis zu 400 000 Algerier und rund 25 000 französische Soldaten das Leben. Die Harkis wurden nach dem Krieg von den französischen Truppen zurückgelassen, bis zu 150 000 von ihnen wurden Schätzungen zufolge nach der Unabhängigkeit von der siegreichen Nationalen Befreiungsfront massakriert. Einige Tausend flüchteten nach Frankreich.
Alice Zeniters Großvater diente in keiner Militäreinheit, er kämpfte im Algerienkrieg nicht aufseiten der Franzosen, aber er kämpfte eben auch nicht aufseiten der Nationalen Befreiungsfront gegen sie. Das reichte, um mit dem verschwommenen Begriff Harki bezeichnet zu werden. Ebenso wie Naïmas Großvater Ali im Buch, der nicht für, aber auch nicht gegen Frankreich war, das Land, für das er Jahre zuvor im Zweiten Weltkrieg am Monte Cassino sein Leben riskiert hatte und von dem er eine Kriegsversehrtenrente bezog. Ali war nicht glücklich mit der Herrschaft der Franzosen, aber er hatte sich arrangiert, einen Umgang gefunden mit der Kolonialverwaltung, ihm und seiner Familie ging es gut, er hatte Land, bewirtschaftete Olivenhaine, seine Familie wuchs, deshalb bekannte er sich während des Unabhängigkeitskriegs nicht direkt zu den Kämpfern der Nationalen Befreiungsfront. Er traute diesen fremden Männern mit ihren langen Bärten und den Jagdgewehren nicht, die eines Nachts gewaltsam in ihr Dorf eindrangen.
»Sich nicht für den Kampf zu engagieren, ist ein Verbrechen«, hieß es in der ersten Proklamation der Nationalen Befreiungsfront am 1. November 1954. Man wurde nicht nur zum Harki, zum Verräter, wenn man sich der französischen Armee anschloss, sondern auch, wenn man nichts tat, so wie Großvater Ali. Und mit dieser Schande verließ er 1962 Algerien in Richtung Frankreich und verlor seitdem kaum je wieder ein Wort über das, was passiert war. So wie Zeniters eigener Großvater, von dem sie an diesem Donnerstag, an dem wir die Gartenmöbel mit dem Lauf der Sonne von Baum zu Baum tragen, um ihr zu entkommen, nicht viel erzählt. Sie kannte ihn längst nicht so gut wie Ali, die Figur, die sie aus ihm gemacht hat. Aber im Larousse steht noch mehr über die Harki: »Harki, Nomen und Adjektiv: Familienmitglied eines Harkis oder Nachkomme eines Harkis.«
»Kein Wunder, dass ich mich verloren fühle«
Auch Alice Zeniter, die Französin, 24 Jahre nach dem Algerienkrieg geboren, die mit 25 zum ersten Mal nach Algerien reiste, ist ein Harki. Auch Naïma ist ein Harki. Die Schande wird vererbt. Alice Zeniter ist Naïma und dann auch wieder nicht, denn: »Hätte ich mich in diesem Buch darauf beschränkt, meine eigene Geschichte zu erzählen, wäre es kaum zehn Seiten lang geworden«, sagt sie. Zeniter wird in fast jedem Interview gefragt, wie viel von ihr selbst in diesem Roman steckt. Der Gedanke, dass sie den Roman mit ihrer eigenen Geschichte nicht hätte bestreiten können, scheint sie zu amüsieren. Denn ihre eigene Geschichte wurde ihr von ihrer Familie verweigert, sie sprachen nicht mit ihr darüber, nicht ihr Vater, nicht ihre Großeltern, zu Beginn der Arbeit an Die Kunst zu verlieren hatte Zeniter nicht mehr als diesen Begriff, Harki, die Eckdaten von Flucht und Ankunft sowie ein paar Anekdoten aus Algerien.
Zeniter schreibt seit mehr als zwanzig Jahren. Als Kind schrieb sie mit ihren zwei Schwestern Bücher um, deren Enden ihr nicht gefielen: Zum Beispiel erdachten sie ein Spin-off der Drei Musketiere, in dem nicht d’Artagnan, sondern Aramis der Held war, weil die drei Schwestern fanden, Aramis würde im Original als besser aussehend beschrieben. Als Zeniter neun Jahre alt war, kam eine Schriftstellerin in ihre Grundschule, um mit den Schülern über das Schreiben zu sprechen. Zeniter fragte sie, wie man ein Buch veröffentliche. Die Dame gab ihr drei Tipps:
1.Bring etwas zu Ende. Wenn du einen Text nicht beenden kannst, bringt es nichts, veröffentlicht werden zu wollen.
2.Geh in eine Buchhandlung, such ein Buch, das dir gefällt, und finde heraus, warum. Ein Buch ist ein Objekt, das gemocht werden muss.
3.Recherchiere Verlage, die Bücher herausbringen, die deiner Arbeit ähnlich sind. Liste sie auf, schick ihnen dein Manuskript.
Zeniter veröffentlichte ihren ersten Roman mit 15. Sie ist so etwas wie die Françoise Sagan der französischen Gegenwartsliteratur, mit 32 gehört sie bereits zum festen Repertoire der wichtigen Literaturpreise. Das Schreiben sei mit den Jahren zu ihrer Säule geworden, sagt sie. Sie bräche zusammen, würde sie es lassen.
Seit dem Erfolg ihres Romans Die Kunst zu verlieren, der in Frankreich Ende 2017 erschien, hat sie auch keine Geldsorgen mehr, sie kann sich an dem kleinen Holztisch im ersten Stock ihres Hauses in der Bretagne ganz auf ihre Kunst konzentrieren. Sie weiß, dass die Literatur Momente der Wahrheit stiften kann, die einem das Leben schuldig bleibt. Also entschied sie sich, die Leerstelle, das Schweigen ihrer Familie, die Scham über den Verrat ihres Großvaters und ihr eigenes Unwissen über das Land, aus dem ihre Familie stammt, zum Ausgangspunkt ihres Erzählens zu machen. So hat Alice Zeniter mit Die Kunst zu verlieren nicht nur einen großartigen Roman über das Frankreich von heute geschrieben, das ohne das Algerien ihres Großvaters nicht gedacht werden kann. Sie hat sich mit diesem Buch ihre eigene Familiengeschichte erfunden, die zufällig auch die Geschichte Frankreichs ist.
Denn das Schweigen in ihrem Buch ist nicht nur persönlich, die Grenzen des Sagbaren verlaufen nicht nur zwischen den Genera-tionen, zwischen den in Algerien Zurückgebliebenen und den in Frankreich bis heute nicht Angekommenen, den Versehrten und den »Verschonten«, wie Naïmas Vater mal ihre Mutter beschrieb, eine Französin aus der Normandie. Das Schweigen ist offiziell.
Kaum angekommen in Frankreich, wurden die Harkis in Lager am Rande der Republik gesperrt, im Buch findet Zeniter dafür drastische Worte: »Seit der Gründung dreißig Jahre zuvor ist es (das Lager, Anm. d. Red.) ein Ort, wo man Menschen wegschließt, bis – offiziell – eine Lösung gefunden ist, wobei man – nicht ganz so offiziell – hofft, sie vergessen zu können, bis sie von selbst verschwinden.« Weiter: »Algerien nennt sie (die Harki, Anm. d. Red.) Ratten. Verräter. Hunde. Terroristen. Abtrünnige. Banditen. Unreine. Frankreich nennt sie gar nicht oder nur sehr selten. Frankreich näht sich den Mund zu, indem es die Auffanglager mit Stacheldraht umgibt.«
Auch Zeniters Familie war ab 1962 in einem Lager untergebracht. Von der alten Heimat, dem neuen Algerien verstoßen, vom alten Unterdrücker, dem neuen Zuhause Frankreich nicht gewollt. Zeniter stürzt sich mit ihrem Roman mitten hinein in die Debatten der Gegenwart um Migration und Integration und um die Frage, wer eigentlich Geschichte schreiben, wer erinnern darf in einer Gesellschaft wie der französischen, die die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte als Kolonialverbrecher manchmal fast zu zerreißen droht.
Auf der einen Seite stehen die Schuld und die historisch gewachsene Verantwortung für die Millionen Menschen, die einst gegen ihren Willen ein Teil Frankreichs wurden. Auf der anderen Seite die fortwährende wirtschaftliche Ausbeutung der ehemaligen Kolonien und der strukturelle Rassismus, der den Kindern und Kindeskindern der Eingewanderten, von denen viele ja offiziell Franzosen waren, immer noch entgegenschlägt. Besonders seit dem Erstarken des Rassemblement National von Marine Le Pen.
In dieser Gemengelage nimmt Algerien eine besondere Rolle ein. So markierte der Verlust Algeriens laut dem französischen Schriftsteller Olivier Guez das Ende des französischen Traums vom Frankreich aller fünf Kontinente. Frankreich hat Algerien nicht leichtfertig gehen lassen: »Algerien, das ist Frankreich«, sagte François Mitterrand noch 1954, damals Innenminister. »Das Schicksal Frankreichs entscheidet sich in Algerien«, sagte Michel Debré 1957, der später unter Charles de Gaulle Premierminister wurde.
Algerien, das war laut Olivier Guez »ein Juwel, eine Perle, eine Modellkolonie, eine Fortsetzung des Mutterlandes auf der Südseite des Mittelmeers bis an die Grenzen der Sahara, die Frankreich zu einem riesigen, von Dünkirchen bis nach Tamanrasset reichenden Gebilde machte«. Nach dem verlorenen Krieg flohen 1962 nicht nur die Harkis aus Algerien, sondern auch rund eine Million Europäer, fast die Hälfte von ihnen weiße Franzosen, die sogenannten Pieds-noirs, also Schwarzfüße.
Alice Zeniter sagt: »Algerien ist der Name aller Fiktionen.« Und: »Fast jeder Franzose ist von der Algerien-Frage berührt.« Trotzdem war Algerien auch für sie nicht mehr als ein Artikel auf Wikipedia und die Teestunden mit ihrer Großmutter, deren Sprache sie nicht spricht und sie nicht die ihre. Die Franzosen weigerten sich lange, sich mit ihrer algerischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nachdem Emmanuel Macron 2017 während des Wahlkampfs den Algerienkrieg bei einem Besuch in Algier als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet hatte, verlor er mehrere Prozentpunkte in den Umfragen. Lange Zeit sprach man nicht von Krieg, nur von »den Ereignissen in Algerien«. Seit Macrons Rede ist das offizielle Schweigen gebrochen, zugleich ist das Thema mit einer neuen Schriftstellergeneration in die französische Literatur eingezogen. Neben Alice Zeniter haben weitere junge Autorinnen und Autoren wie Joseph Andras und Kaouther Adimi in den vergangenen Jahren wichtige Romane über Algerien geschrieben.
Sie habe manchmal das Gefühl, es sei eine Art Notstand eingetreten, sich so schnell wie möglich seinen Eltern zuzuwenden und ihre Geschichte zu erzählen, sagt Zeniter. Das gelte natürlich für die Kinder der Einwanderer, die nach zwei Generationen endlich verstanden und anerkannt hätten, dass die französische Sprache und Literatur auch ihnen gehöre. Das gelte aber auch für die Kinder der ehemaligen Soldaten und die Kinder der Pieds-noirs. Sie alle sind mittlerweile erwachsen und tragen Erinnerungen mit sich herum, die selten geteilt wurden. Und auch Autoren wie Édouard Louis, ein Star der jungen französischen Literatur, der keinen biografischen Bezug zum Thema hat, behandelte die Situation der algerischen Einwanderer in Frankreich bereits in einem seiner Romane. »Darf er das?«, frage ich sie: »Sich den Schmerz der anderen zu eigen machen?«
»Ich frage mich, was ich ihnen da eigentlich zurückgegeben habe, nämlich ein verdammtes Buch. Ein Buch, das weder meine Großmutter jemals lesen wird, weil sie nicht lesen und schreiben kann, noch meine Onkel oder Tanten, weil das Lesen von 500-seitigen Büchern zu ihrem Leben nicht dazugehört«
Wir haben mittlerweile gegessen, ein bisschen Salat mit Kräutern, alles aus dem eigenen Garten, zum Nachtisch Himbeeren. Zeniter dreht sich schweigend eine sehr dünne Zigarette. Sie zögert lange und sagt schließlich sehr bestimmt: »Ich denke, die Literatur ist größer als wir Menschen. Sie ist eine magische Macht, das Geschenk, das uns gegeben wurde, um im Lesen und Schreiben die Geschichten anderer als unsere eigenen zu erleben. Es wäre zu wenig, wenn Schriftsteller nur über sich schreiben dürften. Das ist nicht interessant. Außerdem ist die Einwanderung in dein Land auch deine Geschichte. Trotzdem muss man sich als Schriftstellerin immer die Frage nach der symbolischen Gewalt stellen, die darin steckt, jemand anderem seine Geschichte und seine Sprache zu nehmen und sie zu seiner eigenen zu machen.«
Sie erzählt von einer Lesung zu Die Kunst zu verlieren in Flers, der Stadt, in der ihre Familie damals untergebracht war und in der immer noch ein Großteil ihrer Verwandtschaft wohnt. Ihre Familie sei so stolz auf sie gewesen, und auf der Feier danach hätten alle über Algerien geredet, einfach so. »Ich habe den Begriff Harki für sie mit neuem Leben gefüllt, in gewisser Weise habe ich ihnen unsere Geschichte zurückgegeben«, sagt Zeniter. Aber zugleich habe sie sich wie eine Diebin gefühlt. »Ich frage mich, was ich ihnen da eigentlich zurückgegeben habe, nämlich ein verdammtes Buch. Ein Buch, das weder meine Großmutter jemals lesen wird, weil sie nicht lesen und schreiben kann, noch meine Onkel oder Tanten, weil das Lesen von 500-seitigen Büchern zu ihrem Leben nicht dazugehört.« Somit habe sie, die Schriftstellerin, die Enkelin mit dem Abschluss an einer der wichtigsten Elite-Unis Frankreichs, ihrer Familie auf gewisse Weise auch etwas gestohlen.
Still schaut Zeniter ihren Sätzen hinterher, atmet tief ein, dreht sich eine weitere Zigarette. Eigentlich wollte sie Die Kunst zu verlieren erst schreiben, wenn sie alt ist. Ihre vorherigen Bücher handelten von der Liebe oder der politischen Lage in Ungarn, nie von ihr selbst. Doch der Stoff habe sich ihr regelrecht aufgedrängt. Persönlich, aber auch mit der Diskussion über die Migranten aus Nordafrika und die Seenotrettung im Mittelmeer. Das Wort Migrant sei auf einmal wieder überall gewesen und es bedeutete etwas Schlechtes. Dem wollte sie literarisch entgegenwirken.
Schon Jahre zuvor war sie nach Algerien gereist, nicht zu Recherchezwecken, sondern aus Neugierde auf sich selbst. Sie reiste trotz Warnungen auf den Bergkamm, in das Dorf ihrer Familie. Wie Naïma im Buch. Dort oben sei es menschenfeindlich und wunderschön gewesen, und ihr sei klar geworden, dass die Reise der Migration ihre Familie nicht nur über das Meer, sondern über Kulturen, Klassen und Milieus hinweggetragen hat.
»Kein Wunder, dass ich mich manchmal verloren fühle«, sagt Zeniter. Dass sie Paris, die Stadt von Jean-Paul Sartre und Juliette Gréco, in die sie, das Kind aus der Normandie, so unbedingt wollte, als Ort der Klassengewalt empfunden hat. »Egal, wie hart ich arbeitete, wie gut meine Noten waren, wie viele Erfolge ich feierte – ich hatte das Gefühl, nicht auf sicherem Grund zu stehen, dass ich die Bourgeois, die Töchter und Söhne von Diplomaten und Industriellen, nie würde einholen können und dass die Geschichte, die uns die Politiker erzählen von dem Einwanderer als hässlichem Entlein, das durch harte Arbeit zum schönen Schwan wird, auch eine Form von Gewalt ist.«
Sie sagt, seit sie vor drei Jahren ihr Haus in der Bretagne gekauft hat und nur noch alle paar Wochen nach Paris pendelt, weil ihr Mann dort als Weinhändler arbeitet, ist es besser geworden. Hier in der Einsamkeit muss sie sich nur nach der Natur richten, nicht nach den anderen. Sie ist angekommen. Fürs Erste. Aber die Reise ist noch nicht zu Ende, sagt sie, das weiß sie mittlerweile.