Der Quälcode

Einbetoniert, in Tinte ertränkt, kastriert: In den erfolgreichsten Krimis werden Menschen nicht einfach ermordet, sondern bestialisch hingerichtet. Warum? Und was sagt das über uns, die Leser aus?

Was ist das eigentlich für eine Welt, in der ein Mörder lebenden Mädchen Taubenflügel annäht, um sie in Engel zu verwandeln, bevor er sie tötet? In der Eltern zehn Sekunden Zeit haben, sich zu entscheiden: Erlauben sie einem Kidnapper, ihnen ihren Sohn zu nehmen, oder sehen sie zu, wie ihr Sohn stirbt? Was ist das für eine Welt, in der ein Serienmörder seine Opfer in Tinte ertränkt oder bei lebendigem Leibe mit Beton umhüllt? Wo Paare entführt und gezwungen werden, einander zu töten?

Es ist die Gedankenwelt in einem x-beliebigen ICE-Großraumwagen oder Wartezimmer oder irgendwo anders, wo Leute Psychothriller lesen. Die Beispiele sind willkürlich ausgewählt aus dem aktuellen Mainstream: der Amazon-Top-100 der meistverkauften Krimis und Thriller. Die Durchsicht der Liste zeigt auch: Je sadistischer das Verbrechen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer ein Kind oder eine Frau ist. Kann es sein, dass Thriller immer grausamer werden?

Es kann, sagen Krimi-Experten wie Margarete von Schwarzkopf vom Norddeutschen Rundfunk, Jurorin der »Zeit«-Krimi-Bestenliste: »Es ist eine Spirale, vor allem bei den Amerikanern und Skandinaviern sind regelrechte Konkurrenzkämpfe ausgebrochen, wer auf fiesere Tötungsmethoden kommt.« Und Lars C. Schafft, der Chef der einflussreichen Webseite Krimi-Couch.de, sagt: »Es gibt da ein gewisses blutiges Höher-Schneller-Weiter. Im Thriller reicht es nicht, wenn einfach nur ein Mord passiert, da muss schon noch was kommen, darum wird das immer kruder und abseitiger.« Es sei zunächst einmal ein simpler Marktmechanismus: »Ein Thriller braucht ein Alleinstellungsmerkmal, um sich durchzusetzen. Und viele Tötungsarten sind halt schon ausgelutscht.« Daher also all die Gehäuteten, in Druckluftkammern Gequälten, lebendig Begrabenen. Im Verlagsgeschäft nennen sie diese Bücher »Schlachtplatten«. Als deren Boom Anfang der Neunziger mit den Büchern von Patricia Cornwell begann, stand die Unerschrockenheit der Forensikerinnen und Ermittler im Vordergrund, es waren moderne Heldinnensagen. Inzwischen sind längst die Qualen der Opfer die Hauptattraktion, es sind Passionsgeschichten der Zerstückelten und Ausgeweideten.

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Klar, sadistischen Horror gab es schon immer, vor allem im Kino, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Filmhorror wird von Horrorfans konsumiert, das Genre gilt als undurchlässig. Beim Buchthriller aber läuft die Blutspur quer durch alle Milieus – und besonders beliebt sind sie bei Frauen, wie Kritiker, Lektoren und Buchhändler übereinstimmend erklären. Es ist eine seltsame Gesellschaft: Auf der einen Seite pflegt sie ein allumfassendes Bedürfnis nach Fürsorge und Sicherheit, aber zugleich liebt sie fiktive Leidensgeschichten zu Tode Gequälter. Warum? Und wer schreibt das?

Die zweite Frage lässt sich mit Hilfe eines Linienflugs nach Stockholm beantworten, auf Einladung des Random-House-Verlags, der dort seine neuen Thrillerstars präsentiert. Jerker Eriksson, 39, und Håkan Axlander Sundquist, 48, sind zwei sympathisch schüchterne Künstler und Elektropunk-Musiker mit langen Haaren und Secondhand-Klamotten, die erst mal damit verblüffen, dass sie von Heinrich Böll schwärmen, den sie ihren »Hausheiligen« nennen.

Weil sie im Elektropunk keine Zukunft sahen und weil, wie sie mit sanfter Selbstironie sagen, »andere Skandinavier es ja auch tun, warum also nicht wir?«, haben sie unter dem gemeinsamen Pseudonym Erik Axl Sund eine düstere Thrillertrilogie geschrieben. Sie wird in Skandinavien bereits als besserer Nachfolger von Stieg Larssons stilbildender Millenium-Trilogie gefeiert.

Die Sund-Trilogie ist das ideale Beispiel, weil sie so brutal und erfolgreich zugleich ist: Die Trilogie ist bereits in zwanzig Sprachen übersetzt, die amerikanischen Kabel-TV-Legenden HBO, AMC und Showtime interessieren sich für die Filmrechte, und in Deutschland erscheint die Trilogie mit einem Vertriebscoup: je ein Band diesen Juli, September und November, zackig hintereinander statt wie früher bei Henning Mankell oder Stieg Larsson im Jahresabstand.

So wie Stieg Larsson in seinen Büchern Lisbeth Salander marterte und martern ließ, geht es auch im ersten Band Krähenmädchen gleich ans Eingemachte: Eine psychopathische Täterin isoliert einen Raum ihrer Wohnung mit Matten und Plastikfolie, um darin ungestört quälen zu können. Dann wird ein Junge tot gefunden, schrecklich verstümmelt: die Augen entfernt, kastriert, mit Betäubungsmitteln im Blut, die dazu dienten, ihn trotz der Qualen möglichst lange am Leben zu halten.

Krähenmädchen hat wie viele skandinavische Thriller den gesellschaftspolitischen Anspruch, die Ungerechtigkeit und den Machtmissbrauch hinter der Fassade des Wohlfahrtsstaats zu beleuchten. Schonungslos, versteht sich. Das ist ja nichts Neues, möchte man sagen, seit Sjöwall/Wahlöös resignierten Bürokratiekrimis, Henning Mankells melancholischen Gewaltausbrüchen in der Bilderbuchprovinz und eben Stieg Larssons Weltverschwörung der Biedermänner. Aber Krähenmädchen und seine Folgebände sind mehr, die Geschichte einer Missbrauchsverschwörung ist kunstvoll verpackt in die einer Frauenfreundschaft: Eine Polizistin und eine Psychologin jagen eine Täterin, die vermutlich durch eigenes Trauma zum Monster geworden ist. Der Text lebt von Überraschungseffekten und psychologischen Exkursen – und ist gespickt mit Schockmomenten, die alles andere überlagern.

»Wenn man so was schreibt, denken deine Freunde und Familie erst mal, du hättest mentale Probleme«, sagt Jerker Eriksson im Hinterzimmer ihrer Galerie im Stockholmer Stadtteil Södermalm. Dort arbeiten die beiden an ihren Büchern, während Besucher vorn im Ausstellungsraum die Videoinstallationen und Skulpturen Stockholmer Künstler betrachten. Die Autoren rauchen ohne Pause, normale Zigaretten und E-Zigaretten durcheinander, sie wollen sich durch Übermaß das Rauchen abgewöhnen. »In gewisser Weise wollten wir uns beim Schreiben selbst einen Schrecken einjagen, wir wollten unsere Wut anheizen«, sagt Jerker Eriksson. »Wir schreiben Thriller, weil wir wütend sind«, sekundiert Håkan Axlander Sundquist.

Die beiden vollenden und ergänzen auch im Gespräch autorenduoartig ihre Sätze. Eriksson erzählt, wie es sie aufgeregt habe, immer neue Geschichten von Freundinnen über alltägliche Männergewalt zu hören: »Wir leben in einer Welt, die davon geprägt ist und die darauf beruht, dass Männer Gewalt ausüben, und das macht uns wütend. Der Thriller ist nur der Kontext, in dem wir uns damit auseinandersetzen.«

Krähenmädchen
hat also einen gesellschaftspolitischen Anspruch, es ist ein Buch gegen Männergewalt – aber es bleibt ein Widerspruch: mit Gewalt unterhalten, um gegen Gewalt zu sein? Man könne übers Töten nicht anders schreiben als mit »purem Horror«, sagt Jerker Eriksson: »Ich finde diese Krimis, wo die Leute herumsitzen und beim Tee gepflegt über den letzten Mord räsonieren, viel perverser. Wenn es um Mord geht, muss es fies und beängstigend sein. Wir können nicht verhindern, dass sich Leute unterhalten fühlen, aber wir wollen, dass unsere Leser so wütend werden wie wir.«

Auch Lotta Olsson von der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, seit vielen Jahren die führende schwedische Krimikritikerin, sieht Wut als zentrale Erklärung für die Gewaltexzesse zumindest in den besseren Thrillern. Sie hält Gewalt für »ein psychologisches Symbol«: die Verdichtung komplexer gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten in brutalen Thrillertaten. »Wir lesen diese Geschichten, um unsere eigene Wut auszuleben, aber innerhalb sicherer Grenzen«, sagt Olsson. Das erklärt aus ihrer Sicht, warum gerade Frauen brutale Thriller lieben: »Frauen sind wütender!« Suchen wir also Katharsis, Reinigung, wie einst in der griechischen Tragödie? »Ganz ehrlich«, sagt der Krimifachmann Lars C. Schafft trocken: »Die allermeisten Thriller, bei denen das Blut aus den Seiten läuft, sind nicht gut genug geschrieben, um profunde psychologische Erfahrungen wie Katharsis zu machen.«

Die Kritikerin Margarete von Schwarzkopf spricht deshalb differenzierter von einem »Entgiftungsprozess des Geistes«: »Wir leben in einer Welt, die so blutrünstig ist, dass die Krimigewalt eine Erholung ist. Weil es am Ende, anders als bei den Nachrichten, eine Erlösung gibt, und weil die Opfer aus ihrer Anonymität geholt werden.«

Wenn das stimmt, bedeutet es: Wir lieben diese Krimis, weil wir nicht mehr wissen, wohin mit unserer Wut über die Realität, die zu viele Opfer fordert, um noch mit ihnen mitfühlen zu können. Früher kamen die Gräuel der Welt zweimal am Tag zu uns, morgens mit der Zeitung und abends kurz in der Tagesschau, heute erreichen sie uns rund um die Uhr. Jeder Aspekt unseres Alltags scheint direkt verbunden mit Leid und Elend anderswo: von den blutigen Klamotten aus den Sweatshops bis zu den Zwangsarbeitern, die beim Bau von Fußballstadien sterben. Und nicht nur die Gewalt macht uns wütend, sondern dieses wachsende Gefühl von Machtlosigkeit in allen Lebenslagen: Egal, wie viele Facebook-Petitionen wir teilen und bei wie vielen Bürgerentscheiden wir abstimmen, die soziale Ungerechtigkeit scheint immer größer zu werden.

Wenn die Lust am brutalen Thriller also mit Wut zu erklären ist, dann deutet deren Popularität vielleicht darauf hin, dass wir alle Zeitbomben sind – und eines Tages die Wut auf die Straße tragen, die wir jetzt noch mit dem E-Reader vor der Wartenummernanzeige im Bezirksamt sublimieren.

Illustration: Jean Jullien