»Die Leute mögen sich über Gewaltszenen in meinen Büchern aufregen, ich sage ihnen: Die Wirklichkeit ist noch viel schlimmer«

Krimiautor Don Winslow über Sex, Drugs und Oliver Stone.

SZ-Magazin: Herr Winslow, Hollywood macht Sie diesen Herbst berühmt, aber Sie geben Interviews am liebsten am Telefon. Würden Sie gern unbekannt bleiben?
Don Winslow: Ich bin gerade bei meiner Mutter zu Besuch, in Rhode Island, deswegen telefoniere ich lieber.

Sie schreiben Bestseller-Krimis, einen hat Oliver Stone gerade verfilmt. Er erzählt oft, wie schwierig es war, einen Verleih für Savages zu finden, der in den USA nicht jugendfrei zu sehen ist. Zeigt der Kinofilm für Jugendliche zu viel Gewalt oder zu viel Sex?
Drei Themen haben fast automatisch für die Altersbeschränkung gesorgt: Drogenhandel und einige Gewalt- und Sexszenen.

Fangen wir mit dem Thema Gewalt an. Savages erzählt die Geschichte von drei jungen Leuten aus der kalifornischen Surferszene, die Gras im Keller anbauen, bis ein mexikanisches Drogenkartell ihr kleines Geschäft übernehmen will. Warum sind Buch und Film so brutal?
Das wirklich Erschreckende an diesem Buch ist, dass es der Wirklichkeit sehr nahe kommt. Die Enthauptungsszene von einigen Dealern zu Beginn des Kinofilms wie des Romans - ich habe so ein Video tatsächlich gesehen.

Meistgelesen diese Woche:

Wie bitte? Das Kettensägenmassaker wurde auf Youtube veröffentlicht?
Man hat es mir als E-Mail geschickt, wahrscheinlich stand es irgendwann auch auf Youtube. Die Kartelle nutzen natürlich auch soziale Medien, um die Menschen einzuschüchtern. Und das war beileibe nicht der grausamste Videoclip, auf den ich bei meiner Recherche gestoßen bin, ich will das jetzt gar nicht vertiefen. Die Leute mögen sich über die Gewaltszenen in Savages aufregen, ich muss ihnen leider entgegnen: Die Wirklichkeit ist noch viel schlimmer.

Thema zwei in Savages: die Drogen. Wie lange haben Sie für Ihre Surfersaga über den Marihuana-Handel recherchiert?
Nicht mehr so lang, ich konnte ja viel Recherchematerial wiederverwenden aus meinem Buch Tage der Toten, das ich über den Kokainhandel geschrieben habe, daran hatte ich fünf Jahre lang gearbeitet. Ich musste nur einiges über die Biologie von Marihuana lernen, wie man es anpflanzt. Die ganzen Surfergeschichten kannte ich schon, ich wusste, wer die Leute sind, die Marihuana rauchen, ich habe lange genug in Südkalifornien gelebt. Generell war es eher so, dass ich mein Wissen nur auffrischen musste, und das war deprimierend: Ich habe wirklich geglaubt, in Tage der Toten
das Schlimmste schon verarbeitet zu haben. Doch seitdem sind die Dinge noch viel schlimmer geworden, schon allein wenn man an die Drogengewalt in Mexiko denkt.

Haben Sie mit Dealern gesprochen?
Vielleicht einer Hand voll.

Mit mexikanischen?
Auch, in der Zeit, als ich an Tage der Toten arbeitete.

Gab es tatsächlich ein Kartell, das von einer Frau geleitet wird?
Das gibt es immer noch. Und es ist genauso, wie ich es in Savages beschrieben habe: Sie hat als Witwe die Geschäfte ihres ermordeten Mannes übernommen.

Machen Sie immer noch in Mexiko Urlaub?

Nicht mehr.

Aus Angst oder Wut?
Mehr aus Wut, aber ich hätte sicherlich auch einige Bedenken, heute noch nach Mexiko zu fahren. Die Recherche zu Tage der Toten hat mein ganzes Leben verändert. Aber eines muss ich klarstellen: Wir sprechen immer vom mexikanischen Drogenproblem - das ist natürlich eine irrige Bezeichnung: Es handelt sich um ein amerikanisches Drogenproblem. Wir sind diejenigen, die Drogen kaufen, wir finanzieren die Gewalt. Ich möchte wirklich nicht mit dem Finger Richtung Süden zeigen und Mexiko als böse beschimpfen. Der Süden hätte allen Grund, auf uns zu zeigen.

Oliver Stone sagt, er rauche ab und an einen Joint. Sie auch?

Vielleicht ein, zwei Mal als Jugendlicher. Aber ich rauche nicht und trinke nicht. Meine einzige Droge heißt Kaffee.

Warum waren Sie nie anfällig?

Die Wirklichkeit ist schon erschreckend genug. Ich weiß es nicht. Es ist einfach nicht mein Ding, ich mag es nicht. Manchmal begleite ich meine Frau in eine Bar auf ein Glas Wein.

Oliver Stone ist ein Befürworter der Legalisierung von weichen Drogen. Wie stehen Sie dazu?
Man sollte lieber die gesundheitsschädlichen Aspekte herausstellen statt alle Drogen zu kriminalisieren. Meine Gründe dafür sind eher pragmatisch: Die amerikanische Drogenpolitik funktioniert nicht. Der Krieg gegen Drogen wurde vor beinahe 40 Jahren erklärt. Man hat Milliarden von Dollars ausgegeben, und damit Soziopathen aus den mexikanischen Kartellen Starthilfe geleistet, ohne dass sich der Konsum einen Deut verringert hätte.

Thema drei in Savages: der Sex. In allen Ihren Büchern fallen Sexpassagen generell recht deutlich aus.
Im Vergleich mit anderen Krimischriftstellern bewege ich mich da wahrscheinlich eher in einem Randbereich, aber beileibe nicht am äußersten.

Wie muss eine gelungene Sexszene geschrieben sein?

Ich halte Sexszenen für genauso schwierig wie Actionszenen: Beide sind am besten, wenn sie etwas über den Charakter der Figuren aussagen, wenn man etwas über sie erfährt, wenn die Szene aus mehr als nur aus Verben besteht.

Ihre Schwester Kristine Rolofson schreibt romantische Liebesromane. Was sagt sie zu den einschlägigen Stellen im Film oder in Ihren Romanen?
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir je darüber gesprochen hätten. Das wäre wohl auch eine ziemlich ungewöhnliche Unterhaltung mit der eigenen Schwester. Sie schreibt Liebesromane, ich Krimis, beide bedienen wir Genres, allerdings ziemlich unterschiedliche. Sie schreibt auch über Sex, nur etwas anders als ich.

Sie meinen, Ihre Schwester schreibt nicht so viel wie Sie über Sex auf Marihuana oder Sex auf Kokain?

Beides kenne ich auch nur vom Hörensagen.

Nehmen die Charaktere in Ihren Büchern Drogen, um ihr Sexleben zu verbessern?
Ben, Chon und Ophelia aus Savages waren die Einzigen bisher. Normalerweise tun meine Figuren das nicht.

Zerstören die Drogen Ihre drei Helden?

Nicht der Drogenkonsum, auch nicht der Sex zerstört sie, sondern all das, was mit dem Handel von Drogen einhergeht. Meine Figuren glauben ganz naiv und wohl auch etwas arrogant, sie  könnten in diesem Geschäft mitmischen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Sie müssen lernen, dass sie in dieser Welt nicht ohne Gewalt auskommen, die Gewalt zerstört sie, nicht allein der Konsum.

Ihre Dreierbeziehung scheitert nicht?
Alle drei Charaktere kommen aus kaputten Familienverhältnissen und bilden ihre eigene Ersatzfamilie. Sie sind ehrlich genug, damit das funktionieren kann. Niemand muss sich aus Verzweiflung mit dem Auto in einem See ertränken.

Sie haben also den Film Jules und Jim gesehen, Truffauts Version einer Ménage-à-trois?
Wer über eine Dreierbeziehung schreibt, wäre ganz schön dumm, sich Jules und Jim nicht anzusehen. Ich habe viel von Truffaut und Godard gesehen, als ich Savages schrieb. Das mag sich jetzt etwas hochtrabend anhören, aber ich wollte mit meinem Buch die Grenzen des Krimigenres sprengen, allein deswegen interessierten mich die Filme der Nouvelle Vague, die das schon einmal für den Film vorgemacht hatten. Ich suchte nach Ideen.

Sie verletzen gern Genreregeln.
Das Krimigenre hat in den letzten Jahren eine Reihe von Unterteilungen entwickelt, die Grenzen werden dabei immer enger. Eine Regel lautet: Man darf die Perspektive nicht innerhalb eines Kapitels ändern. Warum denn nicht? Ich ändere die Perspektive mitten im Satz, wenn ich das Gefühl habe, die Kurve zu kriegen. Wenn es funktioniert, dann funktioniert es. Glücklich ist, wer fünf Bälle jonglieren kann. Man muss manchmal die Ellenbogen ausfahren, um sich ein wenig Platz zu machen. Wie ein Fußballspieler, wenn er zu eng gedeckt wird. Ein anderes Beispiel, das mir gerade heute früh durch den Kopf ging: Im Thriller muss der Held auf Seite eins in tödliche Gefahr geraten - oder das Buch ist kein Thriller. Aber wer hat die Regel eigentlich aufgestellt? Ich habe keinen Moses mit den Regeln in der Hand vom Berg herabsteigen sehen. In Frankie Machine, einem älteren Krimi von mir, passiert 60 Seiten lang erst mal nichts. Ich lasse Frank mit seiner Tochter essen gehen und bei seiner Ex-Frau die Spülung reparieren. Mein Gefühl sagte mir: Man muss den Kerl erst mal kennenlernen, bevor er in Gefahr gerät, sonst bleibt er dem Leser egal.

Kein Lektor hat versucht, Ihnen bei Savages irgendetwas auszureden?
Es gab eine kleine Diskussion um Kapitel eins, das nur aus zwei Wörtern besteht. Den Wörtern »Fuck you«. Die ersten 14 Seiten habe ich in einem Rutsch geschrieben, ich wusste nicht, ob der Beginn gut oder völlig verrückt ist. Aber ich habe sie meinem Freund Shane gezeigt, der meinte, ich solle alles stehen und liegen lassen und weiterschreiben, solange mein Gehirn auf dieser Wellenlänge funkt. Natürlich war ich später dann in Sorge, wie das Buch aufgenommen werden würde.

Nach Savages schrieben Sie eine Art Vorgeschichte mit den gleichen Helden: Kings of Cool erscheint in Kürze in Deutschland. Waren Sie bei dem Buch ähnlich nervös?  
Weniger. Wer einen ersten Band nach dem zweiten schreibt, weiß, dass er um den Verriss förmlich bettelt. Man ahnt, was die Leute einem unterstellen wollen: Der will nur den Erfolg ausschlachten. Aber ich wusste, welches Buch ich schreiben, welche Geschichte ich erzählen wollte und welche Form der Stoff haben sollte.

Kamen Sie nicht durcheinander, als Sie den ersten Teil Ihrer kalifornischen Surfersaga nach dem zweiten schrieben?
Nicht sehr. Die erzählte Handlung von Savages ereignet sich innerhalb weniger Wochen. Dennoch war mir der Hintergrund meiner Personen immer präsent. Der Stoff würde mehr hergegeben, das wusste ich. Ich wollte gern die Umstände schildern, in denen der Drogenhandel in Kalifornien irgendwann Ende der Sechzigerjahre entstanden ist, ich wollte amerikanische Zeitgeschichte beschreiben, erzählen, was das für Konsequenzen für viele betroffene Hippiefamilien hatte, wie die kommunistischen Ideale in der Eigentumswohnung landeten. Ich beschreibe gern, wie die Reise angefangen hat und warum es dann so gekommen ist. Ich habe den zweiten Teil großteils vergessen, als ich am ersten schrieb.

Haben Sie Teil drei auch schon im Kopf?
Nein. Ich habe die letzten drei Jahre mit diesen Charakteren zugebracht, wir brauchen jetzt alle etwas Abstand voneinander.

Vom Privatdetektiv zum Krimiautor

Sie waren früher einmal Privatdetektiv. Haben Sie eigentlich auch an Drogenfällen gearbeitet?
Eher nicht. Am Anfang habe ich in New Yorker Kinos nach Taschendieben Ausschau gehalten. Später wurde ich auf vermisste Personen angesetzt - alles nichts Dramatisches, ich war ein kleiner Hund, dem man zurief: Such, fass! Man muss bei solchen Jobs eine Menge Zeit totschlagen, wenn man im Zug oder irgendeinem Motelzimmer sitzt. Ich habe damals jede Menge Krimis gelesen. Zuletzt habe ich in Kalifornien an einigen Fälle von Versicherungsbetrug, Brandstiftung, Industriespionage oder Mord gearbeitet. 

Hatten Sie eine Waffe?

Gelegentlich. Ich habe sie aber nie benutzt. Gott sei Dank. Einmal hat jemand auf mich gezielt, das war gruselig.

Warum haben Sie mit dem Schreiben erst so spät angefangen? Sie gingen schon auf die 40 zu, als Ihr erster Roman veröffentlicht wurde.
Ich könnte jetzt sagen, dass ich ja damit beschäftigt war, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und ich musste wirklich hart für meine Miete arbeiten. Aber natürlich habe ich auch Angst vor dem Scheitern gehabt. Versagensangst hält viele Menschen davon ab, das zu tun, was man sich am meisten wünscht. Geschrieben habe ich ja, seit ich sechs war, nur nicht veröffentlicht.

Kinder-Krimis?
Kleine Westernstücke, die Kinder aus der Nachbarschaft aufführten: Daniel Boone und Texas John ziehen mordend in den Westen, um mehr Platz für ihre Ellenbogen zu finden. Der Titel war fast länger als das ganze Stück. Immerhin zahlten mir die anderen Kinder meine erste Gage: 25 Cent.

Wann haben Sie das nächste Mal mit dem Schreiben Geld verdient?
Irgendwann vor etwa 25 Jahren. Da war ich gerade in Afrika und habe Fotosafaris in Kenia geleitet. Ich habe ja einen Universitätsabschluss in Afrikanischer Geschichte, mit dem ich mich als schwer vermittelbarer Arbeitsloser qualifizierte, da nimmt man jeden Job an.

Inzwischen lobt James Ellroy Ihre Bücher. Welche Krimischriftsteller haben Sie in Ihrer Zeit als Privatdetektiv gelesen?
Ich erstelle ungern eine Liste der Leute, die mich beeinflusst haben, weil ich fürchte, jemanden dabei zu vergessen. Aber schön: Elmore Leonard war sehr wichtig. Raymond Chandlers Der lange Abschied lese ich gerade zum fünften Mal. James Ellroy, T. Jefferson Parker, mit dem ich inzwischen befreundet bin. Viele mehr. Und es sind ja nicht nur Krimischriftsteller, die uns prägen: Henry IV von Shakespeare ist die grundlegende Mafiapaten-Geschichte. Charles Dickens ist genauso wichtig für die Krimigeschichte, habe ich natürlich auch viel gelesen.

Surfen Sie noch jeden Tag?
Ich sitze jeden Morgen um halb sechs mit einer Tasse Kaffee am Computer. Vier Stunden lang, danach renne ich vier bis sechs Meilen oder ich gehe ins Wasser, je nachdem, wo meine Frau und ich gerade sind. Ich mache inzwischen öfter Bodysurfing, das ist einfacher als Surfen, man ist nicht auf so hohe Wellen angewiesen, kann an einsamere Strände gehen und braucht nur einen Anzug, mit dem man sich ins Wasser schmeißt. Und um vier, fünf setze ich mich wieder an die Arbeit. Wenn ich meinen Romanrhythmus erreiche, wenn ich an einem schwierigen Kapitel sitze, arbeite ich mehr und surfe weniger. 

Wo genau leben Sie eigentlich in Kalifornien?

In einem winzigen Nest namens Julian, eine Stunde mit dem Auto von San Diego. Am Wochenende sind wir oft in Dana Point, 40 Minuten nördlich von San Diego, am Meer. Und zwischendurch fahren wir oft nach Rhode Island, meine Mutter besuchen.

Sie fahren mit dem Auto? Haben Sie Flugangst?
Ich habe keine Flugangst, ich hasse es nur. Ich hasse Flughäfen, ich hasse es, meine Schuhe auszuziehen, die Hälfte aller Flüge hat Verspätung, und man langweilt sich. Und Fahren ist großartig, ich liebe es. Man sieht Ecken des Landes, in die man sonst nie gelangen würde. Wunderbare Lokale.

Ihre letzten Romane spielen alle in Laguna Beach.  
Ich liebe Kalifornien. Ich werde nicht satt davon. Einige Orte habe ich tausend Mal gesehen, aber sie erregen mich immer wieder und machen mich jedes Mal glücklich. Ich bin überhaupt ein sehr glücklicher Mensch. Wirklich. Ich bin sehr dankbar, dass ich vom Schreiben leben kann.

Don Winslow
ist 58 Jahre alt und lebt in der Nähe von San Diego. Sein Roman »Kings of Cool« erscheint am 17. September auf Deutsch im Suhrkamp Verlag. Der Film »Savages«, der nach dem gleichnamigen Roman Winslows von Oliver Stone gedreht wurde, läuft am 11. Oktober in Deutschland an. Unter anderen spielen darin Salma Hayek, John Travolta und Benicio Del Toro. Der Roman »Savages« erschien unter dem deutschen Titel »Zeit des Zorns«.

Fotos: Bryce Duffy