In Deutschland ein Kind zu bekommen, bedeutet, sich einer großen Herausforderung zu stellen: Zugluft. Obwohl ich im August Mutter wurde, schleppten die Schwiegereltern vor der Ankunft des Enkels eine Wärmelampe in unsere Wohnung. Freunde überreichten Wollkleidung für jedes einzelne Körperteil. Nach sechs Monaten Oh-Gott-trägt-er-auch-eine-Mütze? zogen das Kind, sein Vater und ich nach Paris. Aus den kleinen Pullovern und Hosen, die sich bei uns sammelten, waren nun nicht mehr Emil oder Marie herausgewachsen, sondern, ich zitiere die eingenähten Namensschilder, Zadig und Aristide. Beim Sortieren wurde deutlich: Die Pariser Kinderkleidung ist einem Erwachsenenleben angemessener als meine eigene. Mein liebster Fund in den Tüten war ein wadenlanger Mantel für Zweijährige. Das Kind sah darin aus wie ein Professor, der gern rutschen geht.
Einmal versuchte ich gerade, den Mini-Professor davon abzuhalten, einen Stein zu essen, als neben mir ein Auto anhielt und drei Geschwister in identischen, dunkelblauen Wollcapes ausstiegen. Der Jüngste war drei, die Älteste vielleicht acht, und sie sahen aus, als hätte sie der Zeichner von König Babar angezogen. Das ist dieser französische Kinderbuchklassiker, der die Themenfelder Bourgeoisie und Elefanten zusammenführt und in dem ein Dresscode von ungefähr 1930 gilt. Babar regiert im grünen Dreiteiler, sein Cousin Arthur hat Spaß im Matrosenanzug. Auf Pariser Spielplätzen trifft man immer wieder auf die König-Babar-Welt. Da tragen Mädchen im Winter weiße Strumpfhosen, Jungen sind mit frisch geputzten Ledersandalen unterwegs. Als würden sich die Eltern vorstellen, dass ihr Kind tagsüber Erwachsenentätigkeiten in niedlich verrichtet. Spazierengehen, plaudern, und wenn es ganz wild wird, mal einen Spatz füttern.
Bei Kinderkleidung ist ja selten entscheidend, was das Kind darin tut, sondern was die Eltern finden, was es tun sollte. In deutschen Ankleideratgebern wird die Zugluftphase lückenlos von der Schlammphase abgelöst. Dem Nachwuchs ist erst immer kalt, dann macht er sich ständig schmutzig. Diese Überzeugung schien ich tief verinnerlicht zu haben. In mir wuchs das Bedürfnis, meinem Sohn eine Matschhose zu kaufen. Ich habe mich in Paris noch nie so deutsch gefühlt wie an dem Tag, an dem ich in fünf verschiedenen Kaufhäusern versuchte, das Konzept »Regenhose, nur in sehr klein« zu erklären. Eine Verkäuferin brachte mir ein Modell aus Cord: »Die hier ist sehr robust.« Ich gab auf. Der deutsch-französische Sender Arte produziert die Mini-Serie Karambolage, in der es um Dinge geht, die man nur auf der einen oder der anderen Seite des Rheins findet. Zu den exklusiv rechtsrheinischen Gegenständen gehört die Matschhose. In der Serie beschreibt eine Pariserin, wie sie auf einem Berliner Spielplatz ein Kleidungsstück bemerkt, das sie noch nie gesehen hat: »Alle Kinder haben Skihosen an, mitten im Sommer.«
Pariser Kinder haben es nicht nötig, das ganze Jahr in Allwetterkleidung herumzurennen. Unterm Klettergerüst liegen nicht Sand oder Holzstückchen, eine Kunststoffschicht überzieht den Boden. Fallschutzbelag nennen das die Hersteller. Wobei sich der Fallschutz bei Nässe ins Gegenteil verkehrt, dann rutschen die Kinder herum wie Fischstäbchen in der Teflonpfanne. Kaum regnet es, wird der Spielplatz neben unserem Haus geschlossen. Das Kind kann also getrost Pastelltöne tragen, es hat wenig Matschkontakt. Das kann man bedauern. Oder sich eingestehen, dass man ins Zentrum einer Millionenstadt gezogen ist und nicht in den Wald.
In ihrer übertriebensten Form kann man französische Kindermode im Jardin du Luxembourg betrachten. Rive Gauche, 6. Arrondissement, chic und teuer. Die Kinder sehen dort aus wie elegante Miniaturversionen ihrer Eltern und tun Dinge, die man früher in Bilderbücher gemalt hat und die heute auf Instagram gut aussehen: Zuckerwatte essen, Bötchen schippern lassen, auf dem weißen (inzwischen grauen) Elefanten im Kreis fahren, den Rainer Maria Rilke schon 1906 in seinem Gedicht Das Karussell beschrieben hat. Ich habe dort einen Jungen Sandkuchen backen sehen, auf dessen Blouson groß »Karl Lagerfeld« stand.
Meinen französischen Freunden ist der Jardin du Luxembourg zu anstrengend. Man findet Snobs lustiger, wenn es nicht die eigenen Landsleute sind. Ich komme gern in den Park. Weniger wegen der Kinder, eher wegen ihrer Großeltern. Ein deutsches Leben beginnt schreiend bunt oder blass öko, es endet in Schlick- und Schlammfarben. In Paris finden die Blazer für Einjährige und die Bubikragen am Kleidchen ihre Entsprechung in den Einstecktüchern und Seidenblusen der über 70-Jährigen. Wer in Paris altert, darf auch mit Falten im Gesicht Kleidungsstücke tragen, die gesehen werden wollen.
»Bonjour Monsieur, Sie sehen aber hübsch aus« – eine ergraute Dame im Trenchcoat und mit rotem Lippenstift macht meinem Sohn ein Kompliment. Er stopft gerade im deutschen Schmutzlook Blätter in ein Gullyloch, die Dame ist sehr höflich. Ich setze mich daneben, störe die beiden nicht weiter und nehme mir vor, endlich mal das gute Kleid zu bügeln.