Sie sitzt nicht, sie lümmelt auf einem Sofa, strumpfsockig: Chan Marshall alias Cat Power, gefeierte Songschreiberin und Neo-Folk-Ikone aus Atlanta, USA, ist in Berlin, um PR für ihr neues Album »Wanderer« zu machen – und empfängt wie zu einem Kindergeburtstag. Auf dem Beistelltisch: Gummibärchen in Schüsseln, diverse Schokoriegel, allerdings auch eine E-Zigarette. Ende der Neunzigerjahre galten ihre weltverlorenen Balladen noch als Geheimtipp. Es folgten Alben, auf denen sie als Ausnahme-Songschreiberin und subtile Interpretin brillierte, die selbst totgehörten Klassikern wie »Satisfaction« und »New York, New York« neue Einblicke abzuringen vermag. Ihren meistens verhaltenen, an Blues, Country und Soul geschulten Songs hört man an, dass das Leben es nicht immer gut mit ihr meinte. Vor allem dieser Stimme, die so einfühlsam und reich von Schmerz, Wut und Stolz singen kann. Marshall hat ein paar Nervenzusammenbrüche hinter sich, und es gab wohl Zeiten, da trank sie ein bisschen viel. Im Interview sagt die 46-Jährige oft »Sorry«, auch wenn sie sich für nichts entschuldigen müsste.
SZ-Magazin: Was ist das Schlimmste am Lampenfieber?
Cat Power: Die Unberechenbarkeit. Ich kann in einem Raum mit, sagen wir, nur Ihnen sein und einen Anfall totaler sozialer Paranoia bekommen – und mich anderntags in einer vollgepackten Halle geborgen fühlen. Das hängt ganz von den Umständen ab. Oder von meiner Tagesform, kleinste Nuancen können da den Ausschlag geben.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Voriges Jahr hatte ich einen kurzen Auftritt in der Carnegie Hall, im Rahmen eines Benefizkonzerts für das Pariser Klimaabkommen. In der Carnegie Hall! Joan Baez stand vorne im Publikum, Patti Smith, Michael Stipe, dazu die Aura dieser ehrwürdigen Halle. Meine Nerven lagen blank, und in meinem Kopf begann es zu arbeiten: Was, wenn du es vermasselst? Ich wurde zittrig, wollte absagen, das ganze Programm. Man macht sich selbst ja am meisten Druck.
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Und dann?
Ich spielte den ersten Akkord, hörte meine Stimme über die Anlage, und alles war gut. Guter Klang, also gutes Sound-Equipment vertreibt Lampenfieber, zumindest bei mir. Nur dann kann ich mich öffnen, um den Job zu machen, der von mir erwartet wird.
Was, wenn der Klang nicht gut ist?
Dann gehen bei mir die Lichter aus, denn von dem Moment an ist man im Krieg mit der Technik. Schallwellen kommen sich in die Quere, überlagern sich, koppeln zurück. Da mache ich zu.
Wie muss der Klang beschaffen sein, damit Sie sich wohlfühlen?
Das Problem ist, dass ich nicht laut singe, das macht es kompliziert. Ich suche immer nach einem gewissen analogen Klangbild, wenn ich über das Mikrofon singe. Wenig hohe Frequenzen, wenig Schalldruck. In vielen Hallen haben sie allerdings nur digitale Soundanlagen. Das zerstört alles.
Viele Musiker bekämpfen ihr Lampenfieber mit Ritualen vor dem Auftritt.
Ich brauche Zeit allein. Vor jedem Konzert zünde ich an einem ruhigen Ort eine Kerze und japanische Räucherstäbchen an, stelle ein Bild von einem geliebten Menschen auf, zum Beispiel von meinem drei Jahre alten Sohn, und versuche, positive Energien aufzunehmen. Das mache ich seit 2013 so, seitdem geht es mir wesentlich besser.
Wie hat es sich angefühlt, vor Zehntausenden Menschen zu singen, wie auf Ihrem Berliner Konzert im April als Vorprogramm von Lana del Rey?
Großartig. Es kam mir sehr bekannt vor, denn ich kannte es lange nicht anders.
Was meinen Sie?
Es hilft mir, wenn mich das Publikum kaum oder nicht kennt. So ging es mir früher ständig. Dann ist das Lampenfieber nicht so schlimm. Die meisten kamen ja wegen Lana. Ich hatte also nichts zu verlieren.
Es gibt auf Youtube Videomitschnitte früherer Auftritte von Ihnen, wo Sie vor Aufregung nicht mehr weiter zu wissen scheinen oder sich hinter Ihren Haaren verstecken.
Ich war am Anfang meiner Karriere ein sehr verwirrtes junges Mädchen. Ich habe das Publikum jahrelang nicht angesehen. Am Anfang habe ich sogar ganze Auftritte mit dem Rücken zum Publikum absolviert, denn ich bildete mir ein, es ginge ausschließlich um die Songs, nicht um mich oder das Publikum. Das habe ich mittlerweile im Griff.
1999 verbrachten Sie Teile Ihres Auftritts im New Yorker Bowery Ballroom mit dem Gesicht auf dem Bühnenboden, während Fans versuchten, Sie zu trösten.
Soll ich Ihnen erzählen, was damals wirklich los war? Ich sollte mein Album Moon Pix live vorstellen, wartete im Backstageraum auf meinen Auftritt, da ging plötzlich die Tür auf. Ein Typ kam rein, den ich aus meiner Zeit in North Carolina und Oregon kannte, ein Heroindealer. Er war einer von denen, die um Kurt Cobain herumschwirrten, bevor er sich das Leben nahm. Man konnte sofort sehen, dass er auf Drogen war. Er kam auf mich zu und stammelte: Du bist wie Kurt! Dabei zog er sein Hemd hoch und zeigte mir eine Pistole, die in seiner Unterhose steckte. Ich weiß bis heute nicht, was er mir damit sagen wollte, aber ich hatte eine Heidenangst. Ich erzählte es den Sicherheitsleuten und den Typen vom Plattenlabel, doch die schauten mich nur mit fragenden Augen an: Was erzählt sie denn jetzt wieder?
Das würde Ihnen heute, im Lichte mehrerer Schießereien auf Konzerten, vermutlich nicht mehr passieren.
Damals war ich das kleine, neurotische Mädchen, das man nicht ernst nehmen muss. Absagen war keine Option – die Presse wartete, die Plattenlabel-Leute machten Druck. Irgendwann während des Auftritts bahnte sich der Typ den Weg durchs Publikum und stand am Bühnenrand. Das war der Moment, als ich auf der Bühne zu Boden ging. Damals ist nichts passiert. Aber ein paar Wochen später erschoss er seine Eltern und sich selbst.
Wie haben Sie gelernt, mit Ihren Ängsten auf der Bühne zu leben?
2006, als ich für mein Album The Greatest mit einer Band auf Tour ging und zum ersten Mal ohne Gitarre oder Klavier vor dem Publikum stand, musste ich mir plötzlich überlegen, was ich mit meinen Händen anstelle. Ich konnte mich weder an meiner Gitarre festhalten noch hinter meinem Klavier verstecken. Ich war zum ersten Mal gezwungen, mein Publikum anzusehen. Ich erinnere mich genau an den ersten Auftritt – wie das Bühnenlicht anging und mir mit einem Mal bewusst wurde, dass all die Leute meinetwegen gekommen waren, nicht nur wegen der Songs. Mir wurde klar, dass man bei einem Konzert zusammenkommt, um Energien auszutauschen. Und zwar auf eine intime, direkte Art. Und plötzlich war ich dankbar. Das hört sich furchtbar prätentiös an, sorry.
Dankbar für was?
Ich fing langsam an, mich auf der Bühne wohlzufühlen, auch ohne Alkohol. Zum ersten Mal hatte ich Spaß da oben, tanzte sogar hin und wieder. Es war ganz anders als allein auf der Bühne zu stehen.
Klingt, als wären Sie seitdem von Ihrer Bühnenangst geheilt.
Es ist nicht so, dass ich mich nun um Auftritte reiße, aber manchmal, vielleicht bei jedem zehnten Auftritt, passiert etwas Magisches, und man erreicht ein anderes Level. Dann treibt man mit seiner Band wie in einem Boot auf einem Fluss und gelangt zusammen an ein neues Ufer. Es ist fast wie eine Gruppenmeditation. An solchen Abenden macht man eine gemeinsame Erfahrung, die allen, mir und dem Publikum, etwas bedeutet. Und das ist es doch, was wir auch in Literatur oder im Kino suchen. Wir wollen gemeinsam eine emotionale Verbindung zueinander herstellen.
Ihr neues Album heißt Wanderer. Sie haben sich davor von Ihrem Plattenlabel getrennt, bei dem Sie 13 Jahre lang unter Vertrag waren. Warum?
Es gab zu viel Druck von Seiten meines alten Labels, ein Hit-Album zu schreiben. Davor wollte ich mich schützen, denn es ist das Ende jeder Kreativität. Wenn du den Fokus wegziehen willst von Ruhm und Geld, wie ich, fordern die Konzerne nur noch mehr Ruhm und Geld von dir. Das hat mich 2012 krank gemacht.
Sie kamen mit lebensgefährlichen Stresssymptomen in die Klinik.
Mein Immunsystem brach zusammen, meine Psyche machte dicht, meine Lunge schwoll infolge einer Autoimmunreaktion an. Ich bestand nur noch aus Schmerzen und wäre fast gestorben. Darauf hatte ich keine Lust mehr. Ich wollte einfach nur das Album machen, das ich wollte. Mehr nicht. Sorry.
Warum Sorry?
Weil ich wütend werde, und Wut ist ein widerliches Gefühl. Dieses Album umfasst die Reise meines bisherigen Lebens, alle Erfahrungen, die ausmachen, wer ich bin.
Wer sind Sie denn?
Immer noch dieselbe Person wie damals auf der Highschool, mit dem Unterschied, dass mir Lebenserfahrungen seitdem erlaubt haben, diese Songs zu schreiben. Heute stehe ich mit beiden Beinen fest auf dem Boden, und ich glaube, das hört man meinen Songs an. Ihrer Einfachheit, ihrem Seelenfrieden.
Im Song Black singen Sie von einem Todesengel, das klingt eher düster.
Mir ging es um das Ringen des Süchtigen mit der Figur des Todesengels, dieses Buhmannes, der immer lächelnd auf einen wartet. Den wird man nicht mehr los. Fast alle meine alten Freunde aus Atlanta, wo ich groß geworden bin, sind heroinsüchtig. Das war der Grund, warum ich nach New York zog, nur dass es dort noch schlimmer war. Ich habe diesbezüglich einfach ein paar üble Erfahrungen gemacht.
Das große Thema des Albums ist das Unterwegssein. Woher rührt Ihre Rastlosigkeit?
Ich würde es nicht Rastlosigkeit nennen, eher ein Suchen nach dem, was ich schließlich auch gefunden habe. Und unterwegs bin ich viel, weil ich mein Geld mit Auftritten verdiene, nicht mit Plattenverkäufen. Ich bin alleinerziehend, muss für meinen Sohn sorgen. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Seit meiner Kindheit habe ich bei verschiedenen Menschen gelebt, bei meinem Stiefvater, bei meiner Großmutter, manchmal bei Fremden, einmal wohnte ich eine Zeit lang bei einem alten Paar, das an einer Autobahn eine Tankstelle betrieb. Es gab Jahre, da war ich auf drei verschiedenen Schulen. Das prägt.
Als Jugendliche jobbten Sie Mitte der Achtziger drei Jahre als Bedienung in einem Pizza-Imbiss in Atlanta.
Ja, das waren stabile Jahre, ich verdiente zwölf Dollar am Tag. Ich hatte die Highschool geschmissen, nachdem mein Vater mich rausgeworfen hatte. Er wollte lieber mit seiner neuen Freundin zusammenleben. Vorher war ich bei meiner Mutter rausgeflogen, ich erspare Ihnen die ganze Geschichte. Danach bin ich zusammen mit meinem damaligen Freund, dem Musiker Bill Callahan, nach South Carolina gegangen. Mit zwanzig zog ich nach New York. Allein.
Heute leben Sie in Miami. Gibt es einen Ort, den Sie als Heimat bezeichnen würden?
Der Ort, an dem ich gerade bin. Das kann überall sein.
Das Cover von Wanderer zeigt Sie mit einer Gitarre sowie ein Kleinkind im Anschnitt. Ist das Ihr Sohn?
Ja. In den letzten Jahren war mir lange nicht klar, welche Richtung mein Leben nehmen wird. Zwei Dinge erschienen mir jedoch unverbrüchlich: meine Arbeit und mein Sohn.
Hat das Muttersein Ihren Blick auf die Welt verändert?
Erst mal hatte ich Angst, dass ich oder er die Geburt nicht überleben. Mir ging es während der Schwangerschaft nicht gut, zuvor war die Beziehung zum Vater zerbrochen. Ich war allein, ich war auf Tour. Erst als ich während der Geburt sein Schreien hörte, legte sich bei mir ein Schalter um. Seitdem sind alle Lichter an. Und der Bullshit des Lebens ist Vergangenheit.
Wie sehr verletzt es Sie, immer wieder auf die Rolle der neurotischen Künstlerin festgelegt zu werden?
So was schreiben Leute, die nicht wissen, was es heißt, eine kreative Person zu sein. Oder sich von Kunst berühren zu lassen. In einer perfekten Welt wären wir eine große Gemeinde, in der alle tanzen und einander helfen. Aber diese Gemeinde existiert nicht. In unserer Welt sind Künstler in Schwierigkeiten, weil sie sich nicht einfügen. Weil sie kein verfluchtes Marketingstudium in Harvard machen. Die »crazy bitch« passt nicht. Es ist so verdammt leicht, zynisch gegenüber Künstlern zu sein. Sorry.