Der Unfassbare

Daniel Barenboim ist Künstler und Machtmensch, Israeli und Palästinenser, Dirigent und Pianist. Für seine drei Orchester ist er ständig auf Reisen, aber nie im Stress. Vor seinem 70. Geburtstag haben wir ihn ein halbes Jahr quer durch Europa begleitet. Porträt eines in sich ruhenden Rastlosen.

Der Adel dreht an seinen Siegelringen, Damen fächeln sich Frischluft ins Gesicht, irgendwo spielt Musik – bei den Salzburger Festspielen ist alles wie immer, nur dieser Junge fällt aus der Reihe: Er trägt eine kurze weiße Hose und Klaviernoten unterm Arm. Neben ihm stehen die Eltern, zwei Musiklehrer aus Buenos Aires, die viel Geld bezahlt haben, damit ihr Sohn dem größten Dirigenten seiner Zeit vorspielen kann. Die nächste Stunde, das ahnt er, könnte den Rest seines Lebens bestimmen, könnte es besonders und einzigartig machen. Dass er heute diesem Genie der klassischen Musik zeigen darf, was er kann, ist beides: Belohnung und Bürde. Trotzdem ist er nicht angespannt, eher heiter, als würde er sich darauf freuen.

Als der Maestro nickt, legt der Bub die Hände auf die Tasten, atmet ein, atmet aus, beginnt. Er spielt Mozart, Bach, Beethoven, zum Schluss die zweite Klaviersonate von Prokofjew. Ein vertracktes Stück. Der Dirigent ist beeindruckt, zeigt es aber nicht. Am Ende wechselt er ein paar Sätze mit den Eltern, auf Englisch, der Junge versteht kein Wort. Ein paar Tage später reisen die drei ab, im Gepäck ein Empfehlungsschreiben, das mit dem Satz  beginnt: »Der elfjährige Barenboim ist ein Phänomen.« Vier Monate später stirbt Wilhelm Furtwängler. Der Junge aber macht sich auf in ein Leben, das ihn zum Star und Jahrhundertmusiker machen, aber neben allem Triumph auch Verlust und Schmerz bereithalten wird.

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WIEN, 23. MAi 2012, 10 UHR MORGENS

Daniel Barenboim lehnt an der Außenmauer des Wiener Musikvereins. Er sieht aus wie einer der Männer, die in Südfrankreich Boule spielen, leichtes Leinensakko, unrasiert, erste Altersflecken, und hat eindeutig zu wenig Schlaf abbekommen. »Ein Film«, sagt er, »nach Mitternacht, mit Romy Schneider und Michel Piccoli«, der Titel fällt ihm nicht ein. Er wohnt, wie immer, wenn er in Wien ist, im »Imperial«. Wagner hat hier gewohnt, Rilke gefrühstückt, ein geeigneter Ort für einen wie ihn. Und ein praktischer, am Morgen muss er nur aus der Hintertür stolpern; der Musikverein, eines der traditionsreichsten Konzerthäuser der Welt, liegt direkt gegenüber. Gerade treffen die ersten Musiker ein, zu Fuß, mit dem Rad, das Cello auf den Rücken geschnallt.
Daniel Barenboim hat in seinem Leben weit mehr als tausend Konzerte dirigiert, aber heute ist selbst für ihn ein bedeutender Tag: Am Abend wird er mit den Wiener Philharmonikern zum ersten Mal in ihrer Geschichte das Schönberg-Violinkonzert aufführen – neben ihm, schräg versetzt, wird der Sologeiger des Abends stehen, Michael Barenboim, 27 Jahre alt, sein Sohn, aber jetzt wird erst mal geraucht. Er zieht eine Havanna aus der Brusttasche, schneidet das Kopfende mit einem Cutter auf, sengt sie an, zehn, zwanzig Sekunden lang, mustert prüfend die Glut, zieht und nickt – ja, das Monstrum brennt.

Es ist 10.30 Uhr, bis zum Konzert sind es noch zehn Stunden, also hat er ein paar Termine auf den Tag verteilt: Frühstück mit dem Besetzungschef der Mailänder Scala, anschließend ein Vorsingen, drüben in der Staatsoper, die beiden suchen gerade junge Sänger für eine neue Così fan tutte; danach eine letzte Probe mit dem Orchester und seinem Sohn; es geht um Details, Schlüsselstellen, mal ein anderer Fingersatz bei den Celli, ein verzögertes Atemholen der Holzbläser. Selbst in der Generalprobe lässt er die Stücke nie ganz durchspielen, das hat er von Furtwängler. Und dann ist da noch diese Frau mit den Prada-Schuhen vom ZDF, die ihn seit Tagen belagert. Gut, im November wird er 70, da drehen, schreiben, produzieren sie alle was über ihn, trotzdem muss er noch schlafen, ein, zwei Stunden; macht er immer vor dem Konzert. »Danach bin ich frisch«, sagt er. Noch frischer sei er nur nach dem Konzert, »wenn die Energie der Musik in meinen Körper geflossen ist«. Und deshalb kann er auch nicht verstehen, warum alle behaupten, er mache zu viel. Die Financial Times hat ihn mal einen »pathological overachiever«, genannt, einen krankhaften Allesmacher. »Stimmt nicht«, sagt er. Was ihn anstrenge, seien Termine und Sitzungen. »Dirigieren, Klavierspielen, eine Partitur lesen, das strengt mich nicht an, es macht mich glücklich.«

Und weil Barenboim gern glücklich ist – er ist besessen, aber kein Neurotiker und schon gar keiner, der leiden muss, um zu empfinden –, weil er also gern glücklich ist, macht er Musik sooft und wo immer er dazu kommt. Mit der Staatskapelle Berlin und dem Orchester der Mailänder Scala leitet er gleich zwei Orchester von Weltrang; ein drittes, das West-Eastern Divan Orchestra, hat er 1999 zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Edward Said gegründet; die 92 Mitglieder, Juden, Moslems und Christen aus dem Nahen Osten, viele davon aus Israel und Palästina, sind seine zweite Familie, seine Mini-Zwei-Staaten-Lösung, sein Beweis, dass es geht, wenn man will.

Dazu kommen Gastdirigate, Solo-Auftritte, Festivals, eine Stiftung für seine Nahost-Projekte, zwei Musikkindergärten in Berlin und Ramallah und seine Barenboim-Akademie, eine Art Musikhochschule mit Universalbildungsanspruch, die gerade in Berlin gebaut wird, entworfen von seinem Freund, dem berühmten Architekten Frank Gehry. »Das Unmögliche ist leichter als das Schwierige«, sagt Barenboim, »denn an das Unmögliche sind keine Erwartungen geknüpft.« Was soll man von so einem halten?

MANN OHNE HEIMAT – MANN OHNE MITTE?

Daniel Barenboim ist Spanier, Argentinier und – als einziger Mensch auf der Welt – Israeli und Palästinenser. Er hat vier Staatsbürgerschaften, die palästinensische wurde ihm 2007 nach dem Abschiedskonzert für den UN-Generalsekretär Kofi Annan vom palästinensischen Botschafter angeboten. Mit seiner Frau, der russischen Pianistin Jelena Baschkirowa, spricht er Englisch, mit seinen Söhnen, die in Paris aufgewachsen sind, Französisch. Insgesamt beherrscht er sechs Sprachen fließend, ein paar andere holprig. Er hat in Buenos Aires, Tel Aviv, London, Paris, Chicago und Berlin gelebt,
das Orchestre de Paris 14, das Chicago Symphony Orchestra 15 Jahre geleitet. Seit mehr als 60 Jahren rast er um den Erdball, um den Menschen Musik zu bringen: Musik, um zu vergessen. Musik, um sich zu erinnern. Musik, um zu verstehen.

»Daniel Barenboim ist das letzte Genie der klassischen Musik«, sagt der Kritiker Joachim Kaiser. »Er ist der einzige Weltstar, den Berlin hat«, sagt Klaus Wowereit. Und wirklich, lässt man sich ein auf die Art, wie er Musik macht, über sie spricht und in ihr lebt, schaut man zu, wie er mal still und bescheiden, ganz Diener der Musik, und zwei Sekunden später streng und unnachgiebig sein kann, dann spürt man, dass die schon recht hatten, damals in Argentinien, die ganz sicher waren, so einer kommt nur alle paar Jahrzehnte auf die Welt, der kleine Barenboim ist ein Wunderkind.

Am 15. November wird der Bub mit der kurzen weißen Hose 70 Jahre alt. Vielleicht war er deswegen bereit, sich diesmal nicht nur zuhören, sondern zuschauen zu lassen, sechs Monate lang, im Alltag, im Flugzeug, in seiner Garderobe, vor und nach dem Konzert, beim Nachdenklich-, Stolz- und Wütendwerden. Er bestand auf einem Vorgespräch und ein paar Tagen Bedenkzeit, dann willigte er ein. Am Ende dieser sechs Monate wird er fünf davon nicht in seinem Bett in Berlin geschlafen und Konzerte in Wien, Dubrovnik, London, Prag gegeben haben, in München, Mailand, Berlin, Salzburg, Sevilla, Genf, Dresden und Moskau; nur Asien und Amerika macht er nicht mehr so oft, sein Zugeständnis ans Alter. »Er kann auch mal nichts machen«, sagt sein Sohn Michael, »er macht es nur nie.« »Früher waren wir manchmal zusammen im Kino«, sagt sein anderer Sohn David, »ich habe nie erlebt, dass er nicht nach zehn Minuten eingeschlafen ist.« Es gibt einen Film über ihn aus dem Jahr 2002. Titel: Multiple Identities. Daniel Barenboim ist alles auf einmal: Dirigent und Pianist, Geschäftsmann, Netzwerker, Politiker und Pädagoge, aber auch Rebell, Machtmensch, Schönheitssucher, Charmeur, Kettenraucher und Krimifan.


Im Mittelpunkt

WIEN, 23. MAI 2012, 22.30 UHR

»Das kann man schlechter spielen«, jubelt Daniel Barenboim, lässt sich von seiner Frau den Frack abnehmen und wirft sich aufs Sofa in seiner Garderobe. Er sieht aus wie ein römischer Kaiser, halb liegend, ein Arm auf der Lehne. Seine wenigen weißen Haare kleben ihm am Schädel, sein Gesicht ist gerötet, die Augen geweitet vom Adrenalin, auch vom Stolz. Draußen klatschen sie immer noch. Sechsmal haben sie seinen Sohn und ihn auf die Bühne zurückgerufen. Die beiden drücken sich. Eine herzliche, keine sentimentale Umarmung. Man ahnt, der Vater freut sich, er freut sich sehr, aber er hat auch erwartet, dass sein Sohn dieses Konzert genau so spielt, nämlich perfekt. Es ist das erste Mal, dass man spürt, wie fordernd dieser Mann sein kann. Dass es auch ein Kreuz ist mit der Begabung und dieser gespenstischen Schnelligkeit im Kopf, weil das Gegenüber fast immer langsamer, behäbiger, schlechter ist. Heute hat es funktioniert. Er ist begeistert, von seinem Sohn, und vom Orchester: »Die haben das Stück in vier Stunden nicht nur kapiert, sondern absorbiert«, schwärmt er, »das ist ein Unterschied.«

Er sitzt in Hosenträgern da, sein weißes Hemd ist verschwitzt. »D. B.« steht darauf, diskret auf halber Höhe eingenäht. »Hab ich 20 Stück davon«, sagt er, »Geschenk von einem Schneider in Mailand.« Wer denkt, der Auftritt sei vorbei, nur weil der Dirigent die Bühne verlassen hat, wird jetzt Zeuge eines Schauspiels, einer Prozession, von der die normalen Konzertbesucher nichts mitbekommen. Noch ist die Türe geschlossen, noch ist Barenboim allein mit seiner Frau und seiner Referentin, seinem Sohn und dessen Frau, auch sie Konzertpianistin aus Russland. Noch scrollt er sich durch seine Kurznachrichten. Er macht das immer, in jeder Pause, nach jedem Konzert. Blackberry raus, SMS lesen, zurück schreibt er selten. Heute hat der Regisseur Claus Guth geschrieben. Man müsse sich bald mal treffen, es sei nicht mehr lang hin zur Lohengrin-Premiere in Mailand. Barenboim bittet seine Referentin, einen Termin zu machen, steckt sich ein paar Trauben in den Mund. Es kann jetzt losgehen. Er ist bereit, nickt, jemand macht die Tür auf, und es drängen herein: die Intendanten des Musikvereins und der Wiener Staatsoper, der Klassik-Agent Jasper Parrot aus London, der österreichische Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel, Arnold Schönbergs Tochter, erst die Wichtigen und Freunde, dann 40, 50 Fans, die erst Ruhe geben, wenn sie den Meister gelobt, berührt und daran erinnert haben, wo man sich schon mal getroffen habe, ob er sich denn erinnern könne?

Barenboim arbeitet einen nach dem anderen ab, schüttelt Hände, gibt Küsschen, kritzelt seinen Namen auf Programmhefte, es dauert eine Stunde, bis er alle durch hat. Er springt von Hebräisch zu Italienisch, vom Spanischen ins Englische und weiter ins Deutsche. Man könnte jetzt auch Druck verspüren, so im Mittelpunkt, drum herum Menschen aus der ganzen Welt, die was Geistreiches oder Witziges hören wollen. Er wirkt aber nicht gestresst. Es ist seine Belohnung. Sein zweiter Auftritt. Seine Audienz. Schließlich haben ihn vorhin alle nur von hinten gesehen. Immer wieder tupft er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, vor ihm liegt das frische Hemd, gestreift, von Ferragamo.

»Sie hatten wenigstens einen Sitzplatz«, sagt er zu einer älteren Dame. Sie lacht, ist dankbar, glücklich – er hat mit ihr gesprochen. Es ist sein Standardwitz. Er macht ihn regelmäßig. Genau wie den mit seinen Initialen: »D. B.«, sagt er dann, »wie Deutsche Bahn, ich könnte als Schaffner arbeiten.« Er hat ein riesiges Repertoire solcher Sprüche. Geht mal einer daneben, lachen trotzdem alle.

Man muss ihm nur zuschauen und weiß: Der Mann hat auf der Bühne alles gegeben, aber noch mehr zurückbekommen. Plötzlich klingelt sein Handy. Ein neutraler Klingelton, keine Melodie. Es ist der Komponist Pierre Boulez aus Paris. Dafür zieht er sich zurück. Seine Stimme wird leiser. Als er auflegt, ist es weit nach 23 Uhr. Die Meute ist weg, der Konzertsaal dunkel, das Restaurant reserviert. Familie Barenboim spaziert hinaus in die Frühlingsnacht. »Lust auf Oper am Wochenende?«, fragt er seine Schwiegertochter beim Rausgehen, in Gedanken schon bei seinem nächsten Verdi-Abend mit Plácido Domingo. »In welcher Stadt?«, fragt sie zurück.

DAS WUNDERKIND – TAGSÜBER FUSSBALL, ABENDS KLAVIER

Daniel Barenboim macht keinen Sport. Außer Dirigieren und ab und zu Pilates, aber das zählt nicht, findet er. Woher also nimmt er seine Energie? Wie schafft er es, in Bayreuth sechs Stunden lang Wagner zu dirigieren, ins Auto zu steigen und zurück nach Berlin zu fahren? Was hat er für ein Geheimnis, dass er unter heftigstem Druck vollkommene Gelassenheit, nein, eigentlich selbstvergessenes Glück ausstrahlt? »Hat mit meiner Kindheit zu tun«, sagt er. »Ich habe früh ein Doppelleben geführt, tagsüber Fußball, abends Klavier.« Er spricht gern von früher. Nicht wehmütig, eher analytisch. Seine Kindheit ist für ihn der logische Ausgangspunkt für das Leben, das er heute führt, auch für die Art, wie er Musik macht – natürlich und unangestrengt. Es sieht immer mühelos aus, wenn er Klavier spielt oder dirigiert. Ein Kritiker hat mal geschrieben: Wenn Barenboim Klavier spielt, riecht es nach Wohnzimmer und großer, weiter Welt.

Daniel Barenboim wächst im Buenos Aires der Vierzigerjahre auf. Seine Großeltern, russische Juden, waren Anfang des 20. Jahrhunderts nach Argentinien ausgewandert. Antisemitismus gab es nicht, dafür jüdisches Leben, herzhaftes Essen, elegante Menschen, Salon- und Hauskonzerte; jeden Freitagabend spielt er Klavier bei den Rosenthals, einer österreichisch-jüdischen Intellektuellenfamilie, danach gibt es Apfelstrudel mit Vanillesauce. Noch heute ist Tango neben Klassik die einzige Musik, die er ertragen kann.

Seine Eltern sind Klavierlehrer, herzliche, kluge Leute. »Es hat lange gedauert«, sagt er, »bis ich begriffen habe, dass es auch Menschen gibt, die nicht Klavier spielen.« Er beginnt mit fünf, wird erst von seiner Mutter, dann von seinem Vater unterrichtet, bis heute hatte er keinen anderen Lehrer. »Mein Vater ließ mich immer nur so lange üben, wie meine Konzentration reichte«, erzählt Barenboim. Eine, höchstens zwei Stunden am Tag. Alles andere sei mechanisches Wiederholen und damit das Gegenteil von Musik. »Nur am Sonntag durfte ich spielen, so lange und was ich wollte. Ein großartiges Konzept«, findet er. Sein Feind ist noch heute das sture Üben, das geistlose Draufschaffen von irgendwas. »Qualität kommt von Qual«, den Spruch hat er mal in einem Film gehört. »Riesiger Unsinn«, faucht er, »Qualität kommt von Denken.« Er meint es nicht nur auf Musik bezogen.

Nie habe er Tonleitern oder Akkordzerlegungen geübt, immer nur Stücke, Mozart, Liszt, Beethoven. Und geboxt hat er, sogar im Verein. »Mein Vater hat alles dafür getan, damit ich mir ja nicht einbilde, meine Hände seien was Besonderes.« Mit sieben gibt er sein erstes Konzert. Das vergilbte Programmheft steht noch heute gerahmt im Musikzimmer seiner Berliner Villa. Mit zehn debütiert er bei den Salzburger Festspielen, mit zwölf kommt er in die Dirigentenklasse – seine Klassenkameraden sind weit über 20 –, mit 13 wird er jüngster Meisterkurs-Schüler aller Zeiten an der Accademia di Santa Cecilia in Rom. 1954, kurz nach der Begegnung in Salzburg, lädt Furtwängler Barenboim nach Berlin ein, er soll als Solist mit den Philharmonikern auftreten, aber sein Vater lehnt ab. Das Monster Hitler sei erst neun Jahre tot. Es sei noch zu früh für seinen Sohn, um in Deutschland Musik zu machen. »Ich habe ihn verstanden«, sagt Barenboim heute. Eine unglaubliche Aussage für einen zwölfjährigen Jungen, der die Chance seines Lebens bekommt – er muss geahnt haben, dass ihn nichts aufhalten kann.

Mit 13 spielt er Artur Rubinstein vor, von dem er in Tel Aviv – wo die Barenboims inzwischen leben – seine erste Zigarre in den Mund gesteckt bekommt. Es ist der Beginn einer rührenden Freundschaft: der alte Rubinstein, das Kind Daniel Barenboim. Es folgen Konzertreisen durch Europa, Amerika, Australien. Ein Genie? »Ich doch nicht«, sagt Barenboim. »Menuhin war ein Genie. Als Einstein ihn das erste Mal Geige hat spielen hören, hat er gesagt: Jetzt weiß ich, dass es einen Gott gibt.« Es ist die Bescheidenheit eines Mannes, der begriffen hat, dass er noch mehr leuchtet, wenn er seine Strahlkraft gelegentlich dimmt, um sie für die Mitwelt erträglicher zu machen.


Das System Barenboim

DAS SYSTEM BARENBOIM – ORGANISIERTES CHAOS

»Im Grunde bin ich ein unorganisierter Mensch«, sagt Daniel Barenboim. Es ist eine Lüge – aber nur eine halbe: Ja, dieser Mann funktioniert nur, weil es um ihn herum Dutzende Menschen gibt, die sich so mit ihm identifizieren, dass sie ihm ihr halbes Leben opfern. Es gibt ein System Barenboim, ein Netzwerk aus ständig an- und abrufbereiten Mitarbeitern, Referenten und Agenten, die jeden Tag mehrmals miteinander telefonieren, Termine koordinieren, Flüge buchen, umbuchen, stornieren und mit Journalisten, Sponsoren, Künstlern, Politikern hin- und hermailen. Er reagiert auf Impulse, sein Stab organisiert das Chaos, das dabei entsteht. »Sie können sich nicht vorstellen, was bei mir jeden Tag reinkommt«, sagt seine Staatsopern-Referentin: Schirmherrschaften, Interviewanfragen, Charity-Einladungen, von Hand geschriebene Briefe, in denen Künstler um Termine und Empfehlungsschreiben bitten; neulich fragte einer, ob Maestro nicht seine Miete übernehmen könne. »Und Preise«, sagt sie, »wie viele Preise er kriegen soll.« Er lehnt fast alle ab. Keine Zeit. Gerade erst hat er den Klassik ECHO für sein Lebenswerk bekommen. Am Festakt im Konzerthaus nahm er nicht teil, lieber dirigierte er ein paar hundert Meter weiter Die Walküre.

Daniel Barenboim hat keine E-Mail-Adresse, dafür einen Chauffeur, einen Vorstand für seine Stiftung, eine Sekretärin in Mailand (Scala), eine Referentin in Berlin (Staatsoper) und eine zweite, die wenig anderes tut, als zwischen Daniel Barenboim, Anna Netrebko und Rolando Villazón hin- und herzufliegen. Sie kümmert sich um alle drei und noch ein paar andere. Im Gegensatz zu Barenboim merkt man ihr den Stress an. »Manchmal komme ich auf 120 Stunden in der Woche«, sagt sie. Sei aber ein Klacks im Vergleich zur Belohnung: Zeit mit solchen Ausnahmemenschen verbringen zu dürfen.

Trotzdem kann Barenboim sein Wahnsinnsprogramm nur abspulen, weil er bis zur Schmerzgrenze diszipliniert und effizient ist. In fast jedem Artikel über ihn steht: Barenboim macht alles gleichzeitig. Das Gegenteil ist richtig: Sein Leben ist eine Aneinanderreihung von Beschäftigungen, die er nacheinander, nie nebeneinander, in gespenstischer Konzentration ausführt: Wenn er raucht, raucht er. Wenn er schläft, schläft er, egal wann, egal wo; er hat das trainiert, Einschlafen, Aufwachen, alles auf Knopfdruck, er braucht seine acht Stunden. Wenn er spricht, wählt er jedes Wort bewusst. Wenn er isst, nimmt er sich Zeit, er kaut auffallend langsam und lange. Wenn er spazieren geht, geht er spazieren, nie würde er zwischendurch auf sein Handy schauen. Egal, was er tut, er vertieft sich darin, lässt sich nicht unterbrechen, bringt es zu Ende und wendet sich der nächsten Sache zu. Mühelos geht er in die Konzentration hinein und wieder heraus. Es kommt einem vor, als spaziere er durch ein Leben ohne Widerstände und Ängste. Wäre er nicht Musiker, Daniel Barenboim müsste Zeitmanagement-Seminare geben.

Es macht fast ein bisschen Angst, ihn zwei Stunden vor einem Auftritt, im Sommeranzug, den weißen Hut auf dem Kopf, durch eine Fußgängerzone flanieren zu sehen, oder dabei zu sein, wie er 20 Minuten vor Konzertbeginn mit seiner Agentin Termine für 2013 durchgeht, während draußen 2000 Menschen warten, die viel Geld für diesen Abend bezahlt haben. Das Signal ist der Espresso. Wenn der runtergestürzt ist, beginnt in seinem Kopf etwas Neues. Dann schaltet er um in den Konzertmodus. Er steht dann ruckartig auf und geht ohne ein weiteres Wort auf die Bühne, mit schnellen, kurzen Schritten, verneigt sich, setzt sich an den Flügel, spielt Schubert und lässt das Andantino der A-Dur-Sonate – als hätte er sich stundenlang in seine Tragik eingefühlt – mit einem tiefen Sinn für Verzweiflung ausklingen, absterben, erlöschen.

MÜNCHEN, 10. JULI 2012

Rauch, überall Tabakrauch. Barenboim sitzt in seiner Garderobe im Münchner Gasteig. Sie haben ihm eine Obstschale hingestellt, Himbeeren, Blaubeeren, Kiwis, Bananen. Er aber raucht lieber, heute eine kurze, dicke aus Kuba, mehr Zeit ist nicht.

»Sie rauchen Zigarre? Das ist schlecht« – eine Frau stürzt ins Zimmer, »das ist sehr schlecht. Denn eigentlich darf man hier nicht rauchen.« Der Rauchmelder. »Wenn der losgeht, muss das ganze Haus evakuiert werden.« Daniel Barenboim spricht seinen Satz zu Ende, dreht sich um: »Oh, das tut mir leid«, sagt er, »aber ich habe nirgendwo ein Verbotsschild gesehen«, nimmt noch einen Zug, bläst den Rauch in die Luft, lächelt. Man kann dabei zusehen, wie die Frau an Elan verliert. Sie kommt nicht an gegen diese Autorität. »Na gut«, gibt sie sich geschlagen. Ob er denn wenigstens das Fenster öffnen könne? »Aber natürlich.« Macht er gern. Er sagt es so, dass man ihn danach nicht arrogant, sondern charmant findet.

Daniel Barenboim ist ein Menschenfänger. Und er kriegt, was er will: die höchsten Honorare, die besten Solisten, gottgleiche Verehrung. Verloren hat er eigentlich nur zweimal: Als ihm 1989 als Direktor der Pariser Bastille-Oper gekündigt wurde. Der Spiegel veröffentlichte damals seine Forderungen: 1,5 Millionen Mark Grundgehalt, entspricht bei 25 Pflichtdirigaten im Jahr 60 000 Mark Gage pro Abend. Und 2002, als er Chef der Berliner Philharmoniker werden wollte. Die Musiker haben sich damals gegen ihn entschieden. Er hat es längst vergessen. Kränkung überwunden. Er würde bestreiten, dass es je eine gegeben hat.

Im Restaurant schaut er nicht in die Karte, sondern bittet den Ober, ihm etwas zu empfehlen. Er sagt dann: Nein. Nein. Nein. Nein. Und irgendwann ja. Einmal, während seines Bruckner-Zyklus in Wien, muss er um 23 Uhr noch ein Interview nachbearbeiten. Er sitzt also draußen bei seinem Wiener Stammitaliener und kann nichts mehr lesen. Zu dunkel. Er könnte reingehen, aber es dauert keine Minute, da bringt der Kellner eine kleine Lampe und klemmt sie ihm an den Tisch. Er ist dankbar für so viel Aufmerksamkeit, aber er findet auch, dass er sie verdient hat.

»Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten«, heißt es in Masse und Macht von Elias Canetti. Der Dirigent steht allein und erhöht, alle anderen sitzen. Kommt er, klatschen alle. Geht er, klatschen auch alle. Und – ganz wichtig – die Menge sieht ihn nur von hinten. Er führt sie an. Für die Zeitspanne einer Aufführung ist er der Herrscher der Welt.

In Berlin gibt es Restaurants, die machen die Musik aus, wenn Barenboim zur Tür hereinkommt. Musik in Fahrstühlen, Flughäfen, Restaurants empfindet er als »physische Penetration«. Er hört ja nicht mal zu Hause welche. In seinem Musikzimmer stehen fast alle CDs, die er jemals aufgenommen hat, sicher 350. Fast alle sind noch eingeschweißt. Einmal hat er vor einem Konzert mit dem Pianisten Lang Lang den kompletten Flügel wie ein IKEA-Regal auseinandergebaut, um dem verdutzten Chinesen die Mechanik seines Instruments zu erläutern. Man spiele einfach besser, wenn man so ein Ding richtig verstanden hat.

Das Gleiche bei Interviews oder Fototerminen: Letzte Frage heißt letzte Frage. Noch ein Bild heißt ganz sicher kein zweites. Er ist nicht diplomatisch, aber auch nie unhöflich, nur bestimmt. Und er muss ja auch so sein. Manchmal abweisend. Meistens distanziert. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als jeden Tag Menschen vor den Kopf zu stoßen. »Die ersten 30 Jahre«, sagt er, »verbringt man damit, berühmt zu werden, den Rest der Zeit versucht man es zu verbergen.«

Daniel Barenboim erinnert ein bisschen an Uli Hoeneß. Menschen, die er mag, gibt er alles, den anderen gar nichts. Um seine Divan-Mitglieder kümmert er sich rührend wie ein Vater. Er kann unglaublich großherzig sein und sehr böse werden. Sein Führungsstil ist autoritär, nicht moderierend. Und er ist nie kumpelhaft, wenn schon, dann ist er ein Freund. Sagen auch Kollegen. Der Dirigent Kent Nagano zum Beispiel: »Vor meinem ersten Konzert in Tel Aviv war ich unsicher, also bat ich ihn um Rat und eine Einschätzung. Wissen Sie, wann er mich anrief? In der Pause seines Soloauftritts in der New Yorker Carnegie Hall.« Als im Mai der Jahrhundertbariton Dietrich Fischer-Dieskau im Alter von 86 starb, schrieb er, obwohl er für Konzerte in Wien war, einen Nachruf für die FAZ. Er vergisst so was nicht. Die gemeinsame Zeit. Die vielen Konzerte.

Daniel Barenboim interessiert sich nur für zwei Arten von Musikern: die besten und die, die es werden könnten. Die anderen nimmt er nicht mal wahr. Es müssen schon hundertzehn Prozent sein. Deswegen ist er auch kein Komponist geworden. Er hat es versucht und wieder gelassen: »Meine Sachen waren nicht originell«, sagt er, »ich war nicht begabt.« Intelligenz und Ehrgeiz können sich auch als Verzicht tarnen.


Privatkonzert für den Past

ROM, 11. JULI 2012, 18 UHR

Die ersten Gäste kommen durch das steinerne Portal in den Hof des Apostolischen Palastes, der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano, das Ehepaar Oetker, Adel, Diplomaten, Industrielle, ein paar haben ihre Kinder mitgebracht, Töchter in hohen Schuhen, streng gescheitelte Söhne. Das Protokoll sieht es nicht vor, aber könnte ja sein, dass er einem von ihnen die Hand gibt. Es ist schwül, 32 Grad. Lautlos schiebt sich ein weißes Stoffsegel über den Hof. Die Gäste wedeln sich Luft zu, die Frauen mit Fächern, die Männer mit zusammengerollten Programmheften. Es ist merkwürdig still. Plötzlich taucht er auf, in roten Schuhen, lächelt, deutet ein Winken an, schiebt sich Meter für Meter in Richtung des goldenen Stuhls, den sie – passend zum Anlass – auf einen Perserteppich gestellt haben. Im Hintergrund leuchten die Albaner Berge. Es ist kurz vor sechs Uhr Abend.

Es passiert nicht oft, dass Daniel Barenboim irgendwo hinkommt, wo die Menschen nicht auf ihn warten. Heute ist so ein Tag. Gemeinsam mit dem West-Eastern Divan Orchestra gibt er ein Privatkonzert in Castel Gandolfo, der Sommerresidenz des Papstes. Der Papst hat Namenstag. Deshalb. Für Barenboim eine Ehre, aber auch eine gute Gelegenheit, ein paar Sponsoren glücklich zu machen. Er selbst hat erst vor vier Wochen in der Mailänder Scala für den Papst gespielt. Für Italien ein Riesending. Für ihn ein Termin. Er ist nicht religiös. Er fühlt sich jüdisch, er spürt diese Mischung aus Tradition und Schicksal, aber regelmäßig in die Synagoge geht er nicht.

»Eigentlich«, sagt er, »gibt es nur zwei Dinge, die ich an Menschen bewundere: moralische Integrität und schöpferisches Genie.« Seine Helden sind Richard von Weizsäcker, Joschka Fischer, Felipe González, Frank Gehry, sein bester Freund ist der indische Dirigent Zubin Mehta. Eine Heldin ist nicht dabei. Der Papst auch nicht. Dafür ist seine Frau umso begeisterter. Sie ist ihm heute Morgen hinterhergeflogen, gestern hat sie selbst noch ein Konzert in Düsseldorf gespielt. Jetzt scrollt sie sich durch die Fotos auf ihrem Mobiltelefon: Sie und ihr Mann, eingerahmt von zwei Schweizer Gardisten: »Toll, oder?«, schwärmt sie.

Das Divan-Orchester ist Barenboims Herzenssache und eine politische Dauerprovokation. Bei seiner Gründung hatten 60 Prozent der Musiker noch nie in einem Orchester gespielt, 40 hatten noch nicht mal eines gehört. Heute ist der Divan ein Profiorchester, dessen Konzerte oft mehrfach mit Regierungsvertretern und der UNO abgestimmt werden. Trotzdem erinnert es an eine Klassenfahrt, wenn das West-Eastern Divan Orchestra auf Tournee geht, natürlich eine mit zwei Kategorien: Barenboim leitet die Proben und Konzerte, sitzt in denselben Flugzeugen, die für das Orchester gechartert werden, ist offen für Fragen und Sorgen, trotzdem ist er kein Klassenlehrer, der mit der Schirmmütze vorneweg läuft, er ist der Star, der in der Limousine vom Flughafen abgeholt wird und in jeder Stadt im besten Hotel wohnt. Ob im Konzertsaal oder am Flughafen, nie sieht man ihn kommen. Er taucht auf und verschwindet, wie ein Geist. Plötzlich ist er da, im weißen Sommeranzug, die Prada-Sonnenbrille im Gesicht, und streichelt über den entzündeten Arm der palästinensischen Geigerin. Er weiß, dass es auf Gesten ankommt: eine Partie Backgammon im Flugzeug, Rosen, die er nach dem
Konzert aus seinem Strauß zieht und einzeln an die Musiker verteilt. »Der Mann ist ein Wunder«, sagen die, »er sieht es, nein, er hört es, wenn einer von uns einen Ton mit dem Mittel- statt mit dem Ringfinger spielt.«

Als der Papst einzieht, stehen alle auf, schauen gerührt, halten Handys in die Luft, nur Barenboim bleibt relativ unbeteiligt in der letzten Reihe sitzen. Ist er gekränkt, weil es nicht um ihn geht? Ist er bescheiden? Oder einfach professionell? Er hat noch ein paar Telefonate erledigt, die Krawatte um den Hals gelegt. Gerade plaudert er im Flüsterton mit dem Chef der Salzburger Festspiele, Alexander Pereira. Es geht um ein Interview, das Barenboim dem Spiegel gegeben hat: »In Israel«, hat er da gesagt »gibt es eine Politisierung der Erinnerung an den Holocaust.« Ein Satz, der für viel Ärger sorgen würde, wenn ihn ein Nicht-Jude gesagt hätte.

Als sich nacheinander der Papst und das Publikum setzen, springt Barenboim auf und schaut nach seinen Musikern, die aus verschiedenen Türen auf die Bühne strömen wie Ameisen aus einem Bau – drei fehlen, sie haben es nicht aus Syrien rausgeschafft. Die riesige Statue des heiligen Petrus, die Kardinäle, der heilige Ernst dieses Ortes, die Bose-Boxen in den Fenstern – beeindruckt ihn alles nicht. Für Folklore und Rührung hat er nichts übrig, es ist die Botschaft, um die es ihm geht: Juden und Moslems, die für den Papst Musik machen. Das gefällt ihm. Und die Spätfolgen so einer Veranstaltung. Die Dankbarkeit der Sponsoren. Das Geld, mit dem weitere Konzerte möglich sind. Deswegen hat er ein paar dieser Leute in der Chartermaschine mitgenommen. Überhaupt trifft er regelmäßig sehr reiche Menschen, Frühstück in Salzburg, spätes Abendessen in München. Der Divan und Amerika – das ist sein nächstes großes Ding. Jetzt aber ist der Papst an der Reihe. Und Beethoven. Am nächsten Tag geht es weiter nach Versailles, dann nach Genf, Sevilla, London, vielleicht – zwischendurch – für ein Konzert nach Ost-Jerusalem. Die UNO verhandelt noch. Eine Chartermaschine ist geblockt.

DER MUSIKER - MIT DEM KOPF FÜHLEN; MIT DEM HERZEN DENKEN

Daniel Barenboim hat keine Künstlerhände. Robust und kräftig sind sie. Mit kurzen, dicken Fingern. Es gibt Stücke, die kann er nicht spielen, weil er die Spannweite nicht hinkriegt.

Nichts an Daniel Barenboim ist feingliedrig oder verzärtelt. Nie kokettiert er damit, einen besonderen Draht zu letzten Wahrheiten zu haben. Er hat ihn, das reicht – und gibt ihm die Möglichkeit, abseits der Musik erstaunlich viril, irdisch, flapsig, normal zu sein. Er liebt deutschsprachige Krimis: SOKO 5113, Ein Fall für zwei, Kommissar Rex, sein ist Held ist Stephan Derrick. Als er in Paris die Windpocken hatte, hat er sich eine Folge nach der anderen reingezogen.

Man sieht ihn selten ohne Zigarre. Er hat seine festen Sorten. Vier, fünf verschiedene, zu Hause in seiner Berliner Villa bewahrt er sie in einem Humidor auf. Er kauft sie in Berlin, Mailand und am Flughafen in Beirut: »Ein Paradies. Riesige Auswahl und 30 Prozent günstiger.« Seine Lieblingszigarre ist eine Behike, Preis: 36 Euro. Er verraucht alle vier Wochen ein ziemlich ordentliches Monatsgehalt.

Er liebt ein saftiges Steak, einen guten Wein, eine Tischrunde kann er mühelos durch einen lahmen Abend retten. Gern mit Witzen, auch über den Papst, auch über Juden: »Was ist ein Antisemit? Einer, der Juden mehr hasst als unbedingt notwendig.« Es ist faszinierend, ihm zuzusehen, wie er gleichzeitig tief empfinden und ziemlich derbe daherreden kann. Einmal, auf die Frage, ob er – gemeint waren Zigarren – morgens lieber dicke oder dünne möge, sagt er: »Also diese Frage müssen Sie nun wirklich einer Frau stellen.« Er lacht dann laut und kehlig, weil er es wieder mal geschafft hat, eine dumme Journalistenfrage so lustig zu kontern.

Aber man darf sich nicht täuschen lassen: Musik ohne Leiden, das geht nicht. Und Daniel Barenboim weiß das. Natürlich hat er einen hohen Sinn für das Tragische und Abgründige, für Wagner, Nietzsche, Bayreuth, die Lust am Untergang und Vergehen, trotzdem ist er verliebt ins Gelingen. Und genauso macht er Musik. Er ist zutiefst mitleidsfähig, man muss nur zuhören, wie er den Parsifal dirigiert, aber er instrumentalisiert diese Gabe nicht, um Schönheit oder Pathos zu produzieren. »Das Romantische ist das Kranke, das Klassische das Gesunde«, hat Goethe behauptet. Barenboim ist kerngesund. In seinem Alltag wie in seiner Musik bringt er zwei Dinge zusammen, die nicht zusammenpassen: Disziplin und Leidenschaft. Neulich hat er sich nach seinem Bruckner-Konzert in Wien in einen Club fahren lassen, wo er sich zwischen 500 schwitzende, tanzende Hiphop-Fans gestellt hat. Auf der Bühne stand KD-Supier, das ist der Künstlername seines Sohnes David, der als Hiphop-Produzent ziemlich erfolgreich ist. »Ich war unglaublich stolz auf ihn«, sagt Daniel Barenboim. »Er versteht nicht so ganz, was ich eigentlich mache«, sagt David Barenboim, »aber er kommt und interessiert sich, das rechne ich ihm hoch an.«

»Wenn mein Vater Musik macht«, sagt der andere Sohn, der Geiger Michael, »ist er gleichzeitig rational und emotional.« Und er meine nicht nacheinander oder je nachdem, »ich meine gleichzeitig.« Barenboim selbst drückt es so aus: »Ich fühle mit dem Kopf und denke mit dem Herzen.« Und er weine auch beim Lohengrin-Vorspiel, nur halt nicht physisch. »Das soll jetzt nicht überheblich klingen«, sagt er einmal und schickt den Konjunktiv voraus, weil er genau weiß, dass das, was gleich kommt, ziemlich überheblich klingen wird. »Wirklich«, sagt er, »nicht arrogant gemeint, aber ich glaube, dass ich etwas anderes mache als meine Dirigentenkollegen.« Musik, sagt er dann, ist erst mal ein physikalisches Phänomen, nämlich klingende Luft. Sobald ein Klang aufhört, verschwindet er, wird zur Stille und stirbt. Musik steht in einer unlösbaren Beziehung zur Stille und damit zum Tod. »Wenn ich Musik mache«, sagt er, »habe ich schon beim ersten Ton den letzten, das Ende, also den Tod im Blick.« Musik als Spiegel des Lebens, als Reise ins Nichts. Als Versuch, gegen den Tod anzukämpfen, indem man den Klang nicht abreißen lässt. Musik auch als Möglichkeit, den eigenen Tod fühlend vorwegzunehmen. »Musik bringt einen in Berührung mit Zeitlosigkeit«, sagt er, »und damit Erlösung.« Er meint es wörtlich und macht es vor, als Dirigent und Pianist, jeden Abend wieder.


Utopie statt schlechter Realität

SALZBURG, 20. JULI 2012

Die anderen kommen pro Sommer zwei- oder dreimal nach Salzburg zu den Festspielen, Daniel Barenboim kommt sechsmal: zweimal mit dem Divan-Orchester, dreimal für seinen Schubert-Zyklus, einmal mit dem Orchester der Scala für Verdis Requiem, das Abschlusskonzert.

Die meisten bleiben zwischen ihren Auftritten in der Stadt, manche nehmen sich sogar eine Wohnung, Barenboim fliegt jedes Mal hin und wieder weg. Für einen Klavierabend bleibt er 24 Stunden. Er kann und will die Festspielstimmung nicht genießen. Es muss sich was bewegen, sonst wird er unzufrieden. Also fliegt er nach Berlin, Rezitativproben für Siegfried, einmal lässt er sich nach Dubrovnik fahren, ein Klavierabend, außerdem macht er Urlaub mit seiner Frau. Zehn Tage Spanien. Er hat ein Haus in der Nähe von Málaga. Danach werden sie sich eine Weile nicht sehen. Er muss weiter nach Mailand, Moskau, Sankt Petersburg. Sie nach Israel, ein Kammermusik-Festival.

Es ist Montagvormittag, Barenboim tritt aus dem »Goldenen Hirschen«, unter dem Arm zwei Notenbände mit Schubertsonaten. Was das für ein Drama war, mit diesen Noten: Er hat seine nämlich vergessen. Ein Band liegt in Berlin, einer in Spanien. Also mussten sie ihm die Noten organisieren – am Sonntag, die Geschäfte hatten zu und am nächsten Abend Konzert. Er spielt natürlich auswendig, trotzdem will er sich einlesen. Er muss die Noten nur anschauen, schon hört er die Musik. Ein paar vertrackte Stellen will er auch noch mal durchspielen, der Rest ist da, Blackout unmöglich. »Er überblickt ein riesiges Repertoire«, sagt der Konzertmeister der Berliner Staatskapelle, »Hunderte von Symphonien, Opern und Klavierstücken kann er Note für Note spontan abrufen«, und was dazu kommt: »Er kennt die technischen Gegebenheiten jedes Instruments, egal ob Querflöte, Horn oder Kontrabass«, eigentlich könne man nur von einem Genie sprechen. Auf die Frage, wie viele Partituren er denn nun wirklich auswendig kennt, schaut Barenboim nur irritiert, so dumm findet er sie. Zahlen, Rekorde, Superlative – interessiert ihn nicht. Als ob es darauf ankäme.

Am Ende hat eine Mitarbeiterin noch einen Satz Schubert-Noten von einer älteren Dame aufgetrieben. Es sei ihr eine Ehre, nur reinschreiben solle er halt was, bevor er wieder wegfährt. Macht er, aber jetzt will er ein bisschen proben. Er hat sich seinen 130 000-Euro-Steinway extra aus Berlin hertransportieren lassen. Man spielt besser, wenn man das Instrument kennt. Auf dem Programm steht Schubert: Impromptus und die große A-Dur-Sonate. Das Konzert, der ganze Zyklus sind ein riesiger Erfolg, trotzdem fallen die Kritiken mittelmäßig bis mies aus: »Zu wenig Gestaltung«, heißt es da, »lückenhafte Läufe, technisch mangelhaft, stellenweise gefühllos.« Hat er doch zu wenig geprobt? Sich zu sehr auf seine Erfahrung verlassen? Denn spielen kann er das, er hat es hundertmal bewiesen. Er antwortet mit einer Geschichte: »Wissen Sie«, sagt er, »am Tag nach meinem allerersten Orchesterkonzert in Buenos Aires sind zwei Rezensionen erschienen. In der einen hieß es, seit Mozart hätte man kein solches Genie erlebt. In der anderen stand, es sei kriminell, ein achtjähriges Kind auftreten zu lassen, das keine Begabung habe.«

Daniel Barenboim ist längst mehr als ein Musiker. Er findet es nicht schlimm, und das Seltsame: Meistens ist es auch nicht schlimm, wenn er mal nicht perfekt durch eine Tongirlande durchkommt. Mit seinem eigenen Anspruch kann sowieso kein Kritiker mithalten. Sollen die sich also ruhig an Detailfragen abarbeiten, er macht sich nicht davon abhängig. Existenzielle Momente möchte er schaffen, für sich und die Menschen, technische Perfektion kann da auch stören, weil sie die Essenz überdeckt. Und deswegen stört ihn auch so eine Kritik nicht. Der Weltstar Barenboim ist längst ein Prinzip, eine Marke, die über jeden Zweifel erhaben ist. Es ist längst so, dass alle gut finden, was er macht, weil er es macht. Für einen Künstler kann das auch ein Problem sein.

DER POLITIKER - LIEBER EINE UTOPIE ALS EINE SCHLECHTE REALITÄT

Daniel Barenboim interessiert sich nicht für Andrea Nahles oder Strompreise, trotzdem ist er ein hochpolitischer Mensch, »politisch im Sinne Beethovens«, sagt er. Und deswegen geht er auch nicht wählen: In Israel wüsste er nicht, welche Partei. In Argentinien und Spanien kennt er sich zu wenig aus. In Palästina? Na ja.

»Glauben Sie mir«, sagt er, »es vergeht kein Tag, an dem ich nicht traurig werde wegen dieses Konflikts.« Es ist sein Lebens-, auch sein Leidensthema. Weil er Teil davon ist. Weil es die Erinnerung an seine Kindheit in diesem Land, das er so liebt, verdüstert. Und weil er dieses Mal machtlos ist. Es gibt kaum einen Konflikt, den er nicht aus der Welt schaffen kann, mit einem Blick, einem Spruch oder der geballten Macht seines Apparates, beim Thema Israel geht es ihm wie allen anderen: Warten, Diplomatie, Appelle. Die Angelegenheit stagniert. Und Stagnation mag er gar nicht.

Er hat während des Sechstagekriegs 1967 Konzerte in Israel gespielt. Er hat im gleichen Jahr seine erste große Liebe, die Cellistin Jacqueline du Pré, in Israel geheiratet, David Ben Gurion war unter den Hochzeitsgästen. Noch heute hat er eine Wohnung in Jerusalem. Sie steht fast immer leer. Er wird nur traurig, wenn er da ist. Als er 2004 in der Knesset den Wolf-Preis überreicht bekommt, trägt er die israelische Unabhängigkeitserklärung vor, unter anderem das Gelöbnis, dass Israel mit all seinen Nachbarn in Frieden leben wolle. Als eine Abgeordnete schimpft, wie er es wagen könne, einen derart festlichen Anlass für eine Attacke auf Israel zu instrumentalisieren, geht er ein zweites Mal ans Podium und antwortet: »Ich habe Israel nicht attackiert. Ich habe lediglich seine Unabhängigkeitserklärung vorgelesen.«

Sein Einsatz für die palästinensische Sache beginnt nach dem Sechstagekrieg 1967. Weil Israel auf einmal nichts Unschuldiges mehr hatte. Er kann es bis heute nicht fassen: Dass die Juden, die über 2000 Jahre lang Minderheit waren, nur 19 Jahre nach Gründung ihres Staates selbst eine Minderheit unterdrücken. Seitdem fordert er einen Psychiater für beide Staaten. Das Problem sei, dass beide Völker zutiefst davon überzeugt sind, dass der jeweils andere kein Recht hat, auf diesem Stück Land zu leben. Und das Schlimme: Beide haben recht. »Es ist doch absurd«, sagt er, »dass Woody Allen noch heute Abend nach Israel ziehen könnte, eine palästinensische Familie, die tausend Jahre lang dort gelebt hat, aber nicht.«

Seine Antwort ist der Divan. In diesem Orchester sitzt für den Moment einer Symphonie ein Jude neben einem Palästinenser. Sie spielen den gleichen Ton, gleich laut, gleich lang. Das geht nur in der Musik. Für sein Engagement wird Barenboim von beiden Seiten kritisiert: den Israelis und den Palästinensern. Für ihn der Beweis, dass er etwas richtig macht. Gut möglich, dass er in den nächsten Jahren den Friedensnobelpreis bekommt.

Sein Ziel ist es, mit dem Divan in jedem Land gespielt zu haben, aus dem wenigstens ein Orchestermitglied kommt. Eine Utopie? »Vielleicht«, sagt er, »aber besser mit einer Utopie leben als mit einer schlechten Realität.« Ende Juli wird das Konzert in Ost-Jerusalem wenige Tage vor dem Termin abgesagt. Zu heikel. Zu brisant. Palästinensische NGOs haben dagegen protestiert. »Es wurde nicht abgesagt, es wurde verschoben«, korrigiert Barenboim. Er mag es nicht, wenn die Realität gewinnt.

DER PRIVATMANN - EIN ABEND OHNE TERMINE

»Robert, wir fahren nach Hause«, sagt Daniel Barenboim und lehnt sich in den beigefarbenen Ledersitz, in der Hand zwei Tüten, eine von Prada, eine von Cartier. Er wirkt wie ein Politiker in diesem BMW 730. Er selbst besitzt einen Smart. Er braucht ihn nie.

Fünfzehn Minuten später ist er da: Stadtteil Dahlem, altes West-Berlin, eine Villa aus dem Jahr 1929, im Garten ein kleiner Pool. Er öffnet die schwere Tür, niemand zu Hause. Der erste Eindruck ist warm und behaglich, Orient-Teppiche, orientalische Vasen, an den Wänden Karten des Heiligen Landes aus dem 19. Jahrhundert, im Musikzimmer der Flügel von Artur Rubinstein. Es ist vollkommen still, vielleicht der richtige Moment, um über das Thema zu sprechen, das bisher nie so richtig gepasst hat: den Verlust seiner ersten Frau, der britischen Jahrhundertcellistin Jacqueline du Pré. Er hustet, als er den Namen hört, legt die Zigarre zur Seite, fängt sich, erzählt: »Sie war die größte natürliche Begabung, die ich je kennengelernt habe.« Es folgt ein fünfminütiger Monolog über ihre Art zu spielen, überhaupt über Streicher und wie wichtig sie für ein Orchester seien, irgendwann hat er es geschafft, das Thema zu wechseln. Also noch ein Versuch. Denken Sie jeden Tag an sie? »Nicht so bewusst«, er zögert und erzählt weiter, wie er sich auf den ersten Blick in sie verliebt hat, Weihnachten 1966 bei Freunden in London, ein Hausmusikabend. »Wir haben zusammen Musik gemacht, noch bevor wir miteinander gesprochen haben.« Man muss sich diese Jahre vorstellen wie einen Rausch: das Musikerpaar, jung zu Weltruhm gekommen, reist durch die Welt, gibt gefeierte Konzerte, füllt die Klatschspalten, feiert mit den Beatles – eine nicht enden wollende Zurschaustellung von Genie und Liebesglück –, bis zur Diagnose im Oktober 1973: Sie hat multiple Sklerose. Es folgen die schwierigsten Jahre im Leben von Daniel Barenboim, zerrissen zwischen seiner Verantwortung und Liebe und dem Willen, auch seinem Recht, sein eigenes Leben weiterzuführen. Er pendelt zwischen Paris und London, wo seine Frau immer schwächer wird, ihr letztes Konzert spielt, im Rollstuhl landet und 1987 – nach 14-jähriger Leidenszeit – stirbt. »Sie begleitet mich jeden Tag, vor allem in der Musik«, sagt er, »und ich habe das große Glück, dass meine Frau Jelena das alles weiß und akzeptiert. Ich bewundere sie dafür.«

Auf einmal eine Stimme aus der Tiefe des Hauses: »Kommt in die Küche, ich habe was zu essen gemacht« – seine Frau muss heimgekommen sein: Jelena Baschkirowa, Pianistin, groß, elegant, herzlich; die ideale Partnerin für einen wie ihn, weil sie beides ist: selbstbewusst und zurückhaltend, auf Augenhöhe, aber keine Konkurrentin, und wenn es drauf ankommt: entsagend. Es ist nach 22 Uhr. Sie hat Borschtsch gemacht, dazu gibt es Schwarzbrot, Krabben, ein bisschen Fisch. An den Wänden hängen Pinnwände mit Familienfotos: die Barenboims am Strand, die Barenboims beim Winterspaziergang und – an Karneval – verkleidet. Ein Handy klingelt. Sie hebt ab, spricht Englisch. Er gähnt. Isst seine Suppe. Man hört nur noch das Klackern des Löffels. Ein langer Tag. Ein langer Sommer. In zwei Wochen wird Daniel Barenboim 70 Jahre alt. Es wird eine große Feier geben, die Einladungen sind raus in alle Welt. Los gehts um 22 Uhr. Vorher muss er dirigieren.

Daniel Barenboim
wird 1942 in Buenos Aires geboren und bald als Wunderkind gefeiert. Mit sieben spielt er sein erstes Konzert, drei Jahre später zieht er mit seinen Eltern nach Israel, von wo aus er eine Weltkarriere als Pianist und Dirigent startet. Barenboim hat die argentinische, spanische, israelische und palästinensische Staatsbürgerschaft, seit Jahrzehnten setzt er sich für einen Dialog im Nahost-Konflikt ein. Der Kritiker Joachim Kaiser bezeichnet ihn als »das letzte Genie der klassischen Musik«. Er lebt in Berlin-Dahlem.

Fotos: Jonas Unger