Eine Datenanalyse pornographischer Internetportale hat ergeben, dass es dort am meisten Traffic im Monat November gibt, der verkehrsreichste Wochentag ist der Sonntag. Man kann also sagen, dass ein Sonntag im November der absolute Höhepunkt des internetbasierten Masturbationsjahres ist.
Ist es, wie Christian Morgenstern eins mutmaßte, »des Herbstes leidvoll süße Klarheit«, die den Menschen an einem Sonntag im November besonders oft zu sich selbst greifen lässt? Wusste Rilke um dieses Handeln, als er vom Herbsttag sagte, »Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben«? Tja, von wegen »Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben«.
Über viele Jahrhunderte wurde der Masturbation von interessierter Seite (Kirche, Lehrkräfte, Fixierungsgurtindustrie) eine die Moral und den Körper zersetzende Zerstörungskraft unterstellt, die sich natürlich auch in der Herbstlyrik niedergeschlagen hat: »Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern«, bekannte Georg Trakl im schuldbewusst betitelten Gedicht »Verfall«. Ist die uns als Eckpfeiler der düsteren, tiefen, expressiven deutschen Seele vertraute Herbstlyrik in Wahrheit eine einzige verklausulierte Auseinandersetzung mit dem Topthema des Herbstes, nämlich Selbstbefriedigung?
Bezeichnend, dass Trakl hin- und hergerissen scheint zwischen den in »Verfall« formulierten Schuldgefühlen und dem womöglich postorgastischen Frohsinn von »Im Herbst«: »Da zeigt der Mensch sich froh und lind.« Sein programmatisch betiteltes Werk »Der Herbst des Einsamen« enthält, neben Dauerbrennern des Deutsch-LK-Sounds wie »Bald nisten Sterne in des Müden Brauen« eben auch die vergleichsweise derbe, fast an Brecht oder Grass gemahnende, das körperliche feiernde Verszeile »Es rauscht das Rohr«.
Schon über hundert Jahre zuvor aber freute sich Hölderin auf den Moment, wo die Hände unter der Bettdecke verschwinden, oder, in den unsterblichen Worten des Dichters: »Wo sich der Tag mit vielen Freuden endet/... Wo Früchte sich mit frohem Glanz vereinen«. Ein Grund für die Vermählung von Melancholie und Masturbation ist schnell gefunden, und zwar bei Theodor Storm, der nicht tief in sich gehen musste, um im »Oktoberlied« zu erkennnen: »Wir wollen uns den grauen Tag/Vergolden, ja vergolden!«
Der Mensch lenkt sich also seit jeher vom so genannten »Novemberblues« ab, indem er die zahlreicher werdenden Gelegenheiten nutzt, sich mit sich selbst zu beschäftigen: »Es kommt der Herbst mit reicher Gabe,/Er teilt sie fröhlich aus«, freut Hoffmann von Fallersleben sich über kurze Tage und frühe Bettzeiten in seinem »Herbstlied«: »Die Nächte werden länger,/Und kürzer wird der Tag«, und er verspricht, mit einem Augenzwinkern: »Du kannst den Frühling finden/Noch jeden Augenblick«.
Wie verbreitet die eingangs beschriebene Sachlage ist, wusste schließlich auch Friedrich Hebbel schon, der, vermutlich an einen zur Unzeit anklopfenden Besucher gerichtet, in seinem »Herbstbild« bat: »O stört sie nicht, die Feier der Natur!«
Illustration: Eugenia Loli