Es war Heiligabend 2009, in den Stuben von Bayrischzell leuchteten die Christbäume, da nahm der Wolf sich seine erste Hirschkuh im Wald. Er musste sich nicht anstrengen. Sie fraß an einem Futterplatz und stand da wie bestellt. Der Jäger, der sie fand in ihrem Blut, hat es sofort erkannt. Den Kehlbiss. Die Spuren, groß wie Handteller.
Von Italien über Graubünden war er gekommen, sagen die Biologen, ein einsamer Wanderer, Rüde, etwa drei Jahre alt. Mehr als tausend Kilometer kann so ein Wolf zurücklegen, bis er ein Revier findet, wo es ihm gefällt. Die Gegend zwischen Rotwand und Wendelstein, nicht weit von der österreichischen Grenze, gefiel ihm. Er kam in ein Land, in dem seine Artgenossen seit etwa 130 Jahren als ausgerottet gelten und nur noch Orte wie Wolfsegg oder Wolfshausen von einer Zeit erzählen, als sie hier noch herrschten. Die Menschen waren seitdem ganz gut ohne den Wolf ausgekommen. Berg für Berg, Tal für Tal haben sie die Alpen in eine aufgeräumte Freizeitkulisse verwandelt – mit Schafen auf den Almen, Hirschen in den Wäldern und Touristen in den Fremdenzimmern. Sie alle leben hier von der Natur. Und dann kam sie plötzlich ungefragt herein, die Natur, in diese Welt. Und jetzt bekommt die Welt Risse.
Dutzende Schafe, Hirsche und Rehe hat der Wolf seitdem gerissen und einen ganzen Landstrich in Aufruhr versetzt. Dabei war er nicht mal der Erste. Mindestens einer war schon vor ihm hier, doch er blieb nicht lange. Auf einer Landstraße nahe Starnberg erfasste ihn ein Auto. Auch er kam vom Süden, aus Italien, wo der Wolf nie weg war, das ergaben die DNA-Tests. 2006 war das und war nicht weiter aufgefallen. Bayern, ja ganz Deutschland, war beschäftigt mit Bruno, dem Bären, der nur ein paar Kilometer von Bayrischzell die Almen aufmischte, bis eine Kugel ihn stoppte und wieder Ruhe einkehrte. Und jetzt streiten sie wieder, wie sie damals gestritten haben. Über die Natur und wie sie zu sein hat. Die Almbauern und die Naturschützer, die Förster und die Jäger, die Biologen und die Einwohner. Und wieder einmal die da unten gegen die da oben in München und Brüssel, die ihn unbedingt hier haben wollen, den verdammten Wolf. Dabei ist nicht mal sicher, ob er noch lebt. Nur, dass er nicht hierher gehört. Oder eben gerade doch. Je nachdem, wen man fragt.
Der Hof von Isidor Scharmann liegt am Ortsrand von Bayrischzell, direkt am Bergfuß, wo die flachen Weidewiesen an den Wald grenzen. »Einer ist tot, das steht fest«, sagt er grinsend, »aber es sind eh mehr. Und er ist auch nicht hierher gewandert. Ausgesetzt ist er worden.« Das Thema schürt die Emotionen und bei manchem auch Misstrauen. Ein Dutzend Schafe hat Isidor Scharmann, auch Pferde und Kühe. Hühner trippeln über das Pflaster, die Schäferhündin Bella döst in der Maisonne, und aus dem Kuhstall hört man die Kuhfladen auf den Boden klatschen. Glaubt man Scharmann, der fünfzig ist, aber viel jünger aussieht und einen Schnauzer trägt, dann ist der Wolf regelmäßig um seinen Hof geschlichen. Einmal hat er einen Hirsch gerissen, keinen Steinwurf weg, das ist belegt. Deshalb sperrt Scharmann jetzt seine Tiere jede Nacht in den Stall und zählt jeden Morgen, ob noch alle da sind. Immer wieder ist er den Spuren nachgelaufen. Und dann letzten Winter: »Es war in der Früh. Der Bruder und die Mutter haben ihn zuerst gesehen. Ich wollte sofort raus, aber bis ich die Kamera gefunden habe, war er schon wieder im Wald, der Krüppel!«
Scharmanns Hof, der seit hundert Jahren in Familienbesitz ist, wirft nicht mehr viel ab, den macht er »als Hobby«. Im Winter spurt er die Langlaufloipen in der Region. Und auch dort waren Spuren: der geschnürte Trab, bei dem die Hinterpfoten exakt in den Abdruck der Vorderpfoten gesetzt werden. Typisch Wolf. Scharmann zeigt auf seinem Handy Fotos von Pfotenabdrücken im Schnee, 14 Zentimeter lang. »Der hat die Loipen wie eine Straße benutzt, der ist ja nicht blöd.«
Jetzt ist Mai, auf den Bergen schmelzen die letzten Schneezungen weg, und vom Wolf hat man seit Monaten nichts gehört. Offiziell. Die Gerüchteküche brodelt. Ein Jäger soll das Problem gelöst haben. Ob Scharmann seine Schafe heuer auf die Alm treibt, wie jeden Juli, weiß er trotzdem noch nicht. Sieben Schafe hat seine Tante gehabt, nur eins hat der Wolf letztes Jahr übrig gelassen. Da muss er abwägen. Langsam wird klar, dass für Bauern wie Scharmann der Wolf keine Vorteile bringt, aber viele Nachteile. Zwar werden vom Wolf nachweislich gerissene Schafe mittlerweile vom Staat ersetzt und das sogar mit dem doppelten Marktwert.
Doch wenn man gesehen hat, wie zärtlich einer wie Scharmann seinen Lämmern über den Kopf streichelt, wird klar, dass es hier nicht nur um Geld geht. Es geht auch um Gefühle. Vor allem aber geht es ums große Ganze: »Unsere Schafe erhalten die Almlandschaft und die Artenvielfalt«, sagt er, »und davon hängt der ganze Ort ab.« Jetzt soll er Zäune oben auf den Almen errichten oder Hirten anstellen oder gar einen Hütehund anschaffen, das sieht der »Wolfsmanagementplan« vor, auf den sich Betroffene, Behörden und Tierschützer schon lange hätten einigen sollen. Doch noch ist nicht wirklich viel passiert. Noch wird gefeilscht und gestritten. Dabei steht der Almsommer vor der Tür. Scharmann schüttelt den Kopf. »Wenn er wiederkommt, hoffe ich nur, dass einer von den Jägern durchgeladen hat.«
Ulrich Wotschikowsky ist Jäger und Experte für Beutegreifer wie Wolf, Bär und Luchs. Diverse Geweihe hängen in seiner Wohnung in Oberammergau, in eins hat er eine Büchse gelegt. Unter seinen Kollegen in der Gegend, von denen die meisten gerade keine Journalisten sehen und sprechen wollen, hat er einen schlechten Ruf. Was nicht nur daran liegen könnte, dass er gern und viel spricht, sondern dass er den Wolf mag und unbequeme Fragen stellt wie: Ist der Wolf wirklich das Problem oder doch eher unser befremdliches Naturverständnis? Zwar glaubt auch er, dass der Wolf tot ist, aber das tut nichts zur Sache: »Der nächste kommt bestimmt.« Tatsächlich ist Bayern von Wolfsländern umzingelt. In Italien, in der Schweiz, in Osteuropa, ja sogar in Sachsen und Brandenburg ist er längst wieder heimisch geworden. Insgesamt leben in Deutschland etwa sechzig Wölfe, die meisten davon in der Lausitz.
Wotschikowsky trägt eine Survivalhose von Jack Wolfskin, ein kariertes Hemd und einen grauen Zweiwochenbart; er ist 71, das Gesicht wettergegerbt, die Augen Schlitze – was ihm etwas Clint-Eastwood-Haftes verleiht. Um ihn herum streicht Joschka, sein braunzotteliger Deutscher Wachtelhund, und verströmt einen strengen Duft; Jäger schätzen diese Rasse, weil sie exzellente Jagdhunde sind; gegen einen Wolf aber hätten sie keine Chance. Vor Kurzem traf in Schweden eine Mutter mit Kinderwagen und Wachtelhund auf einen Wolf. Mutter und Kind kamen mit dem Schrecken davon, den Wachtelhund nahm sich der Wolf wie ein Spielzeug mit in den Wald. »Der Wolf ist ein problematisches Tier, aber wer Wildnis wieder zulassen will, darf sich nicht beschweren, wenn es wild zugeht«, sagt Wotschikowsky. »Ich wünsche mir den Wolf herbei, nicht nur weil er ein faszinierendes Tier ist, sondern weil er uns mit der Nase auf die Probleme unserer Weide- und Jagdwirtschaft stößt. Warum haben wir so viel Wild im Wald, dass wir es im Winter sogar füttern müssen? Und brauchen wir wirklich so viele Schafe auf den Almen?«
Was er sagt, birgt Zündstoff, denn es rüttelt an einem empfindlichen Gleichgewicht der Interessen. Ein hoher Wildbestand ist den Jägern sehr recht, weil es ihre Jagdquote erhöht und somit die Pacht finanziert, die sie an die Grundbesitzer abtreten müssen. Die Grundbesitzer, das sind zum großen Teil die Bauern. Die Bauern wiederum profitieren auch von den Schafen, die der Staat subventioniert, weil sie die Almen oben so schön freifressen, was wiederum die Touristen gern sehen, denn genau wegen dieser schönen Almteppiche kommt man ja schließlich hierher. Jetzt ist der Wolf da, und alles gerät aus den Fugen.
»Wir sind kein Wildzoo«
Längst wird mit ihm Politik gemacht. Das Umweltministerium hat Bayern zum »Wolfserwartungsland« erklärt. Von »friedlicher Koexistenz« ist die Rede und von einem »Alm-Aktionsplan«. Runde Tische und Arbeitsgruppen wurden einberufen und »Wolfsbeauftragte« ernannt. Schließlich heißt es geltendes Recht umzusetzen. Laut EU-Recht und Bundesnaturschutzgesetz darf der Wolf weder gejagt noch entfernt werden. Wer es doch tut, riskiert hohe Strafen bis hin zu Gefängnis. Es bleibt politisch betrachtet also nicht viel Spielraum. Solange der Wolf macht, was seine Natur ist, steht er unter strengem Artenschutz. Auch die toten Schafe der Bauern machen ihn vor dem Gesetz nicht zu einem Problemwolf. Die sind ein Fall für die staatliche Schadensregulierung. Ganz gleich, ob der Wolf längst verscharrt ist oder gerade nur untergetaucht, so wie vergangenes Jahr, als er sich im Frühjahr eine Auszeit nahm: Der Wolfsmanagementplan wird jetzt durchgezogen.
Ein Wort, das bei Helmut Limbrunner, Bürgermeister von Bayrischzell, ungefähr so viel Begeisterung auslöst wie eine Heuschreckenplage. »Wir versuchen es jetzt mal diesen Sommer mit Hirten und Zäunen. Aber unsere Position ist klar: Für den Wolf wie für den Bären ist hier No-go-Area. Ich persönlich hab nichts gegen Wölfe«, sagt der Bürgermeister. »Soll er doch da leben, wo es gut für ihn ist. In Naturschutzparks oder in unbewohnten Gebieten. Aber eben nicht bei uns. Wir sind eine Kulturlandschaft, kein Wildzoo.«
Und ein bisschen kann man ihn verstehen, warum soll ein Landstrich die romantischen Sehnsüchte von ein paar idealistischen Wolfsfreunden ausbaden? Limbrunner breitet jetzt einen dicken Leitz-Ordner mit Zeitungsartikeln auf dem Tisch aus, sein Panoptikum des Schreckens, den sie hier durchmachen müssen. Er zeigt Bilder von toten Schafen, von angefressenen Hirschen, von blutenden Fleischhaufen. Zuletzt lag eine tote Gemse am Ortsrand direkt neben dem Freibad. Da können sie ihm viel erzählen vom menschenscheuen Wolf. Oder vom touristischen Potenzial von Wolfswanderwegen und Lehrpfaden, wie es sie in der Lausitz gibt. »Das ist doch alles Verarsche«, schimpft Limbrunner, »da kriegt doch keiner einen Wolf zu sehen.« In Bayrischzell, 1600 Einwohner, setzt man auf Kneippkuren, Wandern, Familienurlaub. Allein gelassen fühlen sie sich hier von der Politik, einmal mehr. Umweltminister Markus Söder, auch so ein Wolfsfreund, schaue »doch nur auf die Stimmen im Flachland. Bei der nächsten Wahl kriegt er die Quittung«.
Brigitta Regauer hat erst Zeit, als es schon dunkel wird. Sie musste noch ein neugeborenes Kalb versorgen. Siebzig-Stunden-Wochen sind bei Bäuerinnen wie ihr die Regel. Die Tiere, die Almen, die Wälder, der Hof und jetzt auch noch das Theater mit dem Wolf. Sie vertritt den Almwirtschaftlichen Verein Oberbayern in Wolfsfragen. Auf ihrem Tisch in der Stube liegt eine Zither. Ihr Bub macht Feuer im Ofen. Das idyllische Bild will nicht so recht passen zu der Apokalypse, die sie prophezeit: »Wir Almbauern werden ja auch bezuschusst, um die Gebietskulisse zu erhalten. Uns gehört ja die ganze Rotwand. Da haben wir einen Auftrag. Kommt der Wolf, dann gibt es bald keine Almbauern mehr, denn wer lässt sich schon gern seine Existenzgrundlage wegfressen? Können wir dort oben das Gebiet nicht mehr beweiden, erhöht sich wegen des langen Grases die Lawinen- und Erosionsgefahr, außerdem buscht und waldet alles zu. Seltene Blumen und Tiere sterben aus, von den Touristen, die ausbleiben, ganz zu schweigen.«
So ein einzelner Wolf kann ganz schön was ins Rollen bringen, dabei soll er doch zurückkommen, um die Natur zu bereichern, nicht, um sie zu zerstören. Das sagen zumindest die Naturschutzorganisationen, aber die haben hier ohnehin einen schweren Stand bei den Bauern. Das Gefühl der Hilflosigkeit macht sich längst in Verschwörungstheorien Luft. Die haben ihn ausgesetzt, den Wolf, sagen die einen. Die wollen uns enteignen, die anderen. So weit will Regauer sich nicht aus dem Fenster lehnen. Sie sagt nur: »Organisationen wie der WWF haben ein Interesse am Wolf, weil die Bauern dann irgendwann ihre Almen nicht mehr bewirtschaften können und verkaufen müssen. So kommen sie billig an Land, das sie dann zu Naturschutzgebieten erklären.«
Beim WWF in Berlin kümmert sich Wildbiologe Janosch Arnold um Wolfsfragen. Er fände es gar nicht so schlimm, wenn der bayerische Wolf tatsächlich nicht mehr lebte, weil dann alle etwas unaufgeregter miteinander sprechen könnten. Und, nein, der WWF hat keine Gebiete gekauft am Alpenrand und gedenkt es auch nicht zu tun. Vorwürfe wie diese kennt er auch aus anderen Ländern: »Der Wolf ist eine Projektionsfläche für viele Ängste und den alten Stadt-Land-Konflikt. Die Almbauern haben ihre Berechtigung. Aber der Wolf eben auch. Natürlich ist es in den bayerischen Alpen komplizierter als im flachen, dünner besiedelten Land, aber wir reden im Rotwandgebiet nur von ein paar Hundert Schafen, die es zu schützen gilt. Man sollte den Wolf weder glorifizieren noch dämonisieren.«
Die Sache mit dem Wolf ist also am Ende auch ein psychologisches Problem. Wo er auftaucht, schaltet er die Vernunft aus. Den Wolfshassern, die in ihm das Böse auf vier Beinen sehen, stehen die Wolfsfans in Batik-T-Shirts und Indianerschmuck gegenüber, die am liebsten mit ihm tanzen wollen. Der Wolf ist ein mythisches Tier, immer noch. Er war zwar lange weg, aber die Angst vor ihm ist geblieben. Obwohl er nachweislich nur äußerst selten Menschen angreift.
Um die 20 000 Wölfe gibt es heute in Europa, doch es gab nur fünf Tote in den letzten fünfzig Jahren, meist durch tollwütige Tiere. Die Angst vor ihm sitzt tief, sie ist ein Relikt aus dem Mittelalter, als man begann, Nutztiere im Wald weiden zu lassen, und der Wolf zum Konkurrenten wurde. Mit Treibjagden, Gruben, Gift und Fallen kämpfte man ihn nieder und vergaß dabei ganz, dass der Wolf uns eigentlich so nah ist wie fast kein anderes Raubtier. Vor mehr als 100 000 Jahren begannen Menschen, Wölfe als Haustiere zu halten, schätzen Forscher. Jeder Hund ist genetisch betrachtet also eine Art Wolf an der Leine.
Jäger Ulrich Wotschikowsky sitzt auf seinem Balkon im herausgeputzten Oberammergau und streichelt seinen Jagdhund. Von hier aus hat man einen schönen Blick auf die Bergflanke, wo Bruno der Bär vorbeizog. »Wir haben den Kontakt zur
Natur verloren«, sagt er, »aber der Wolf wird kommen, so oder so. Die Frage ist, wie viel Natur wir bereit sind zu erdulden.«
Fotos: Peter Langenhahn