Seit einem Jahr wohnt eine aus der Ukraine geflüchtete Frau mit unserer Autorin, deren Tochter und deren Mann in deren 3,5-Zimmer-Wohnung in München. Die Ukrainerin Irina und deren Tochter Elena heißen eigentlich anders. Wie ihre echten Namen lauten und aus welchem Ort in der Ukraine sie kommen, soll hier nicht erwähnt werden. Irina macht sich Sorgen um ihren Mann. Er ist in ihrem Heimatort geblieben, der in einem russisch besetzten Gebiet liegt. Hier geht es zu allen Folgen der Kolumne.
Ein Bild aus einem Münchner Biergarten, aufgenommen im Juli 2022: Meine Mitbewohnerin Irina hat meine Tochter auf dem Arm, beide schwitzen und lächeln mit geröteten Wangen. Ein Foto, das mir Irina im März 2023 vom Spielplatz geschickt hat: Meine Tochter lacht von einem Klettergerüst herunter. Ein Video von April 2023: Wir Erwachsene werfen einen Papierflieger durch die Wohnung, die Kleine rennt begeistert zwischen uns hin und her.
Das sind einige Momentaufnahmen, die ich beim Scrollen durch die Fotos und Videos in meinem Handy finde. In dieser Kolumne ging es oft um die Aussichtslosigkeit und die Trauer im Leben meiner ukrainischen Mitbewohnerin. Doch auf den Aufnahmen sieht ihr Alltag hier ganz anders aus: lebendig, lustig, normal. Natürlich halten wir nur heitere Augenblicke fest, und ich weiß, dass es Irina nicht immer gelingt, sich zusammenzureißen. Dennoch frage ich mich beim Anblick der Bilder einmal mehr, woher sie die Kraft nimmt, immer weiterzumachen.
Diese Kraft muss hier, bei letzter Gelegenheit, noch einmal hervorgehoben werden. Denn dies ist die abschließende Folge der Kolumne »Notquartier«.
Ich habe in den vergangenen Wochen davon erzählt, wie Irina nach der Flucht aus der Ukraine in Deutschland Fuß gefasst hat. Wie sie ihren Aufenthaltstitel zum ersten Mal in der Hand hielt, wie sie mit uns über ihre Verluste weinte, wie sie an Genitiv, Dativ und wie auch immer die anderen Fälle heißen verzweifelte, wie sie unser Kind auf Russisch in den Schlaf sang, wie wir vergeblich eine Wohnung für sie suchten. Wir haben dieses Jahr gemeinsam gemeistert.
Und jetzt?
Wir wissen es nicht. Vor zwei Wochen kam endlich ein Bescheid vom Amt, mit dem Irina sich auf geförderte Wohnungen bewerben kann, vielleicht klappt es nun also mit der neuen Bleibe. Außerdem hatte sie inzwischen mehrere Termine im Jobcenter, bei denen ihre weiteren Schritte besprochen wurden. Sie selbst will noch einige Zeit den Deutschkurs besuchen. Wenn sie sich in der Sprache etwas sicherer fühlt, möchte sie arbeiten – und dabei am liebsten das Wissen aus ihrer jahrzehntelangen Arbeit als Sekretärin wieder anwenden. Aber womöglich wird sie zunächst eine andere Tätigkeit suchen müssen. Sie wolle kein Sozialfall werden, betont Irina immer wieder.
Die beiden wollten zusammen in ihrem Häuschen alt werden. Sie hatte sich alles genau ausgemalt
Das ist also der Plan. Allerdings ist es der Plan B. Er gilt nur, solange der Krieg andauert. Irina hatte ja nie vor, mit Ende 50 nach Deutschland auszuwandern. Sie hat nicht nur ihren Sohn und ihre Heimat verloren, sondern auch ihre Zukunft. Und auch dieser Verlust schmerzt sie extrem. Sie führte, sagt Irina, mit ihrem Mann ein gutes und normales Leben, und das reichte ihr vollkommen. Die beiden wollten zusammen in ihrem Häuschen alt werden. Sie hatte sich alles genau ausgemalt.
Wir sprechen immer wieder über den Plan B und organisieren die Details ihrer Zukunft in Deutschland, aber erwähnen fast nie den Plan A. Es ist zu schmerzhaft für Irina, darüber nachzudenken und dafür Worte zu finden. Klar, niemand hat Anspruch darauf, den eigenen Zukunftsentwurf verwirklicht zu sehen. Es gibt zig Ereignisse, die das Leben aus der Bahn werfen und alle Pläne binnen kurzer Zeit zunichtemachen können. Eine Krankheit. Ein verlorener Job. Der Tod oder die Trennung von dem Menschen, mit dem man den nächsten Lebensabschnitt teilen wollte.
Bloß: Das Ereignis, das Irinas Leben aus der Bahn warf, ist unmittelbar auf menschliche Entscheidungen zurückzuführen und wirkt vermeidbarer als viele andere. Dabei ist unerheblich, ob man diesen Krieg in der Ukraine nun als Feldzug eines wildgewordenen Kremlherrschers vereinfacht oder als geostrategisches Debakel analysiert. Heute bestimmen die Handlungen von Wladimir Putin maßgeblich, wie der Rest von Irinas Leben verlaufen wird.
Umso wichtiger ist es wohl, dass meine Mitbewohnerin sich ein Gefühl von Selbstbestimmtheit in den Bereichen erhält, in denen es möglich ist. Ich versuche, sie zu unterstützen, ohne über sie zu bestimmen, was zum Beispiel beim Ausfüllen von Behördenanträgen oder Wohnungsbewerbungen ein überraschend schmaler Grat sein kann.
Irina ist nicht mein Projekt oder mein Mündel. Vielleicht auch deshalb haben mein Mann und ich vor dem Start dieser Kolumne nur dem engsten Familien- und Freundeskreis von unserer ukrainischen Mitbewohnerin erzählt. Weil wir nicht über ihren Kopf hinweg Informationen über sie verbreiten wollten. Vor allem aber hatte ich das Gefühl: Wenn wir für unsere Entscheidung übertriebene Anerkennung ernten, profitieren wir sozusagen davon, dass Irina in dieser schlimmen Lage ist.
Und übertrieben wäre solche Anerkennung, denn es gibt unzählige Menschen, die mehr für Geflüchtete tun. Seit ich selbst mitbekommen habe, welcher Verwaltungsaufwand das Ankommen in Deutschland ist und wie schwer Trauma und Flucht zu verarbeiten sind, habe ich noch mehr Respekt vor denen, die sich seit Jahren hauptberuflich oder ehrenamtlich für Geflüchtete aus allen Ländern engagieren.
Erst habe ich die Existenz unserer Mitbewohnerin also monatelang geradezu verschwiegen. Dann habe ich die Details unseres Zusammenlebens in dieser Kolumne ausgebreitet. Das mag wie ein krasser Sinneswandel wirken, aber mir wurde es im Laufe der Zeit immer wichtiger, unsere Erfahrungen zu teilen. Denn die Freundschaft zu Irina hat mein Bild von diesem Krieg und von unserer Gesellschaft geprägt: Mir ist bei aller Professionalität während der Arbeit am SZ-Newsdesk akut bewusst, wie jeder Angriff, jede in die Statistik eingegangene Rakete, jeder Meter Frontverschiebung Menschen verängstigen oder verletzen kann. Warum Menschen flüchten. Ich habe aus nächster Nähe erlebt, wie sich diese Flucht anfühlt und wie schwierig das Ankommen in Deutschland ist.
Und ich möchte andere ermutigen, es uns gleichzutun. Das ist nicht moralisierend gemeint, vermutlich teilen wenige unseren Luxus eines freien Zimmers und haben Kapazitäten, Fremde in die Familie aufzunehmen und zu versorgen. Aber vielleicht haben manche diese Kapazitäten, die allein oder zu zweit ein ganzes Haus bewohnen. Zehntausende Geflüchtete leben unter prekären Umständen und ohne Perspektive in kommunalen Massenunterkünften. Ein Bett in einer Privatwohnung und ein wenig Unterstützung beim Behördenkram würden eine enorme Verbesserung ihrer Situation bedeuten. Umgekehrt bekommt, wer sein Zuhause öffnet, gratis eine neue Freundschaft. Ich hätte, wenn Irina nicht bei uns wohnte, vermutlich nie ein intimes Verhältnis zu einem Menschen aufgebaut, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist.
Einer Umfrage zufolge kann sich in Deutschland jeder fünfte Haushalt vorstellen, Geflüchtete aufzunehmen – die meisten jedoch nur, wenn dafür staatliche Unterstützung versprochen wird. Ich kann das nachvollziehen. Mein Mann und ich fühlen uns in dieser Situation alleingelassen.
Irina wurde von einer Hilfsorganisation an uns vermittelt. Als wir sie abholten, wurde uns empfohlen, eine App mit Informationen zu Behördengängen zu installieren. Weitere Beratung gab es nicht. Die App war für den Anfang nützlich. Inzwischen meistern wir Anträge und Formulare mit Googeln oder Nachfragen. Trotzdem wäre es manchmal hilfreich, eine Person anrufen zu können, die sich wirklich auskennt. Es gibt Beratungsstellen, doch die haben genug zu tun mit komplizierteren Aufenthaltsrechtsfällen und mit Menschen, die – anders als Irina – sonst keinerlei Hilfe zur Hand haben.
Keine Leserin, kein Leser aber sprach davon, sie oder er bereue die Aufnahme der Geflüchteten
In Großbritannien bekommen Leute, die Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen, dafür Geld und lokale Ansprechpersonen. Sie werden unterstützt – und vor allem wertgeschätzt. Die Reaktionen auf diese Kolumne bestätigen meinen Eindruck, dass nicht nur ich diese Wertschätzung vermisse – und dass es viele Familien in Deutschland gibt, die sie noch viel mehr verdient hätten. Beispielsweise schilderte eine Leserin, wie sie ihre Einliegerwohnung einer jungen Ukrainerin mit zwei Söhnen zur Verfügung stellte – und später zusätzlich zwei Freundinnen der Frau mitsamt Tante und Mutter aufnahm. Wie sie zwei der Frauen durch Schwangerschaft und Geburt und die zugehörigen bürokratischen Schwierigkeiten begleitete. Und wie peinlich sich die extreme Dankbarkeit der zusammengepferchten Gäste anfühle, die täglich das Treppenhaus wischten und »wie die Mäuschen im Haus unterwegs« seien.
Eine andere erzählte, dass sie die aufgenommene Familie »liebgewonnen« habe – und sich nach Monaten doch wieder mehr Privatsphäre wünschte, sich aber wegen solcher »Luxussorgen« schlecht gefühlt habe: widersprüchliche Emotionen, die ich nur zu gut kenne. Auch diese Leserin schilderte den Eindruck, dass sich behördlich »keiner für die Flüchtlinge zuständig fühlt«, die in Privathaushalten untergebracht sind. Mehrere andere berichteten, dass sie Menschen aus der Ukraine aufgenommen hätten und mit ihnen an manchen Anträgen schier verzweifelt seien – aber zum Beispiel auch, dass eine »sehr schöne Gemeinschaft entstanden« sei.
Keine Leserin, kein Leser aber sprach davon, sie oder er bereue die Aufnahme der Geflüchteten – obwohl manche ungeplant seit Monaten zusammenwohnen und nicht wissen, wie es bei ihren Gästen weitergehen wird.
Genauso ist es bei uns und unserer Mitbewohnerin. Sie lebt seit mehr als einem Jahr in der Ungewissheit, wann sie bei uns ausziehen wird, in welchem Job sie nach dem Deutschkurs arbeiten wird. Wir geben uns Mühe, den Plan B zu skizzieren, aber noch ist er größtenteils so blass wie ein nicht ausgemaltes Bild. Plan A hingegen gleicht einem Bild, in dem wütend herumradiert wurde: Einige Bereiche sind leer oder verschmiert. Es gibt so viele Dinge, die unklar sind und die niemand vorhersehen kann: Irina weiß nicht, wann sie ihren Mann wiedersehen wird. Was die unterschiedlichen Erfahrungen mit ihnen beiden gemacht haben werden. Ob das Haus dann noch stehen wird. In welchem Land es stehen wird. Denn sie weiß ebenso wenig, ob ihre Heimatregion ein Teil der Ukraine bleiben wird. Aber eines weiß meine Mitbewohnerin sicher: Zurück will sie auf jeden Fall. Wenn der Krieg vorbei ist.