Nein, sie hat nach der Flucht nicht heimlich Gold verkauft

Unsere Kolumnistin hilft ihrer ukrainischen Mitbewohnerin im Umgang mit den Behörden – und kommt bei manchen Briefen vom Amt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Folge zwei der Kolumne.

Illustration: Julia Krusch

Seit fast einem Jahr wohnt eine aus der Ukraine geflüchtete Frau mit unserer Autorin, ihrer Tochter und ihrem Mann in deren 3,5-Zimmer-Wohnung in München. Die Ukrainerin Irina und deren Tochter Elena heißen eigentlich anders. Wie ihre echten Namen lauten und aus welchem Ort in der Ukraine sie kommen, soll hier nicht erwähnt werden. Irina macht sich Sorgen um ihren Mann. Er ist in ihrem Heimatort geblieben, der in einem russisch besetzten Gebiet liegt. Hier geht es zu allen Folgen der Kolumne.

Am Morgen des 8. Juni 2022 gehen meine Mitbewohnerin und ich zusammen zu einem Fotoautomaten. Irina braucht, neben den vielen Dokumenten, die sie in einem Jutebeutel dabeihat, aktuelle Passfotos. Seit ihrer Flucht aus der Ukraine und der Ankunft in München sind mehr als zwei Monate vergangen. Heute soll Irina endlich ihren Aufenthaltstitel bekommen. Sie setzt sich auf den Hocker und lässt den Vorhang geöffnet, damit ich pantomimisch die Anweisungen übersetzen kann, die die Automatenstimme gibt: nicht lächeln, Kinn höher, weniger seitlich. Mit den Fotos ist Irina zufrieden. Wir nehmen sie mit zum Münchner Ausländeramt.

Ich begleite meine Mitbewohnerin zu diesem wichtigen Termin, weil sie hier sonst keine Unterstützung hat. Seit April lebt die mittlerweile 59-Jährige mit meinem Mann, meiner kleinen Tochter und mir in unserer 3,5-Zimmer-Wohnung. Wir helfen ihr, die noch kaum Deutsch spricht, bei Behördengängen und schlagen uns mit ihr durch den Dschungel der deutschen Bürokratie.

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Nach ihrer Ankunft musste sie sich online und dann nochmal persönlich als Geflüchtete registrieren. Sie musste ihren Wohnsitz bei uns anmelden, Asyl beantragen, Sozialleistungen beantragen, ein Konto eröffnen, sich bei der Krankenkasse anmelden, sich von der öffentlich-rechtlichen Gebühreneinrichtung abmelden, sich jobsuchend melden, die Teilnahme am Deutschkurs beantragen, dann einen Platz in einem Kurs finden und sich dort wiederum anmelden. Dabei ist das Verfahren für Menschen aus der Ukraine schon »vereinfacht«. Bei nicht-ukrainischen Asylsuchenden ist vor allem der Weg zur Aufenthaltserlaubnis noch schwieriger. Die leben viele Monate lang in Ungewissheit und müssen oft aufwändig nachweisen, dass sie wirklich Schutz brauchen.

An diesem Morgen haben wir Glück. Zügig werden wir durch verschiedene Warte- und Bearbeitungsbereiche des Ausländeramts geschleust. Irina gibt die Fotos, Dokumente und ihren Reisepass ab. Nach ungefähr 35 Minuten wird sie an einen Schalter gerufen. Durch das Fensterchen in der Plexiglasscheibe nimmt sie ihren Pass entgegen, in den nun der Aufenthaltstitel gedruckt ist.

Auf dem Weg vom Amt zur U-Bahn bleiben wir nochmal stehen, um ihn zu bewundern. »Das ist sehr wichtig und gut für dich. Du darfst hierbleiben und hier arbeiten. Das ist dein Recht. Niemand kann es wegnehmen«, sage ich in die Übersetzungs-App, der ich Nebensatz-Konstruktionen nicht zutraue. Ich weise Irina so deutlich darauf hin, weil es sonst niemand tut. Willkommensschreiben händigt das Amt nicht aus. Abends kocht Irina zur Feier des Tages für uns Gemüseeintopf.

Es ist jetzt offiziell, meine Mitbewohnerin hat es schriftlich: Sie darf und wird hierbleiben. Ich frage mich, ob das nicht zementiert, wie sehr ihr Leben aus den Fugen geraten ist. Sie hatte nie geplant, mit Ende 50 noch nach Deutschland auszuwandern. Aber Irina empfindet diesen Zusammenhang nicht so. Nicht irgendein Stempel in irgendeinem Münchner Amt, sondern der russische Überfall auf ihre Heimat hat ihre Zukunftspläne zunichte gemacht – und ihre Identität vielleicht nicht zerstört, aber doch angegriffen.

Sie hat furchtbares Heimweh, doch der Krieg dauert an, und ihre Heimatregion ist unter russischer Besatzung. Dass sie deshalb nicht nach Hause kann, ist Irina schmerzlich bewusst, unabhängig von allen amtlichen Schreiben und Stempeln. Sie sagt, eigentlich sei es ihr schon während der Flucht bewusst geworden. Sie floh per Anhalter in einem fremden Auto und passierte dabei mehrere russische Kontrollposten. Es gab nun kein Zurück mehr, das spürte sie bei jeder Durchsuchung ihrer Tasche und ihres Handys.

Mir ist peinlich vor Irina, dass die Behörden sie nicht besser willkommen heißen

In ebenjener Tasche waren zu diesem Zeitpunkt zwei Kleider, eine Bluse und ein Rock – nicht die praktischsten Klamotten für die Flucht, aber ihre Lieblingsteile. Sonst nichts. Sie musste sich hier in Deutschland alles neu kaufen, was man so braucht. Dafür erhielt sie nach der Ankunft zügig Sozialleistungen. Seit Juni ist das Jobcenter dafür zuständig, dass sie Geld zum Leben bekommt.

Wer schon mal einen Brief von dieser Behörde in der Hand gehalten hat, weiß, dass die keine liebevollen Geschenke verteilt. Die Schreiben sind so nüchtern formuliert, dass sie immer ein bisschen aggressiv klingen. Der letzte Absatz enthält standardmäßig die Drohung, dass Leistungen gekürzt werden, wenn was auch immer nicht innerhalb einer knappen Frist ausgefüllt, nachgereicht oder angemeldet ist.

Wenn Irina einen Brief bekommt, sagt sie nur noch: »Oh mein Chott.« Dann drückt sie ihn meinem Mann oder mir in die Hand, und wir versuchen zusammen zu verstehen, was genau da gerade angefordert wird. Mein Mann und ich lesen einander Textpassagen vor, die wir beide völlig unterschiedlich interpretieren. Irina sitzt zwischen uns und blickt vom Einen zur Anderen. Ihr Deutsch ist noch nicht gut genug, um den Inhalt der Briefe zu verstehen, geschweige denn unsere Diskussionen darüber. Die erwecken bei ihr den Eindruck, dass es ein gravierendes oder zumindest hochkompliziertes Problem geben muss. Meistens ist keins von beiden der Fall.

Einmal wird ihr ein heimlicher »Verkauf von Edelmetallen« vorgeworfen. Sie müsse innerhalb der nächsten Tage eine Quittung einreichen. Wir stellen nach langem Rätseln fest, dass ein Kontoauszug falsch gedeutet wurde: Sie hatte ihr restliches ukrainisches Bargeld auf ihr Konto eingezahlt, wo es automatisch in Euro umgetauscht worden war. Die Summe liegt innerhalb des erlaubten Freibetrags, sollte das Jobcenter also gar nicht kümmern. Wir reichen eine weitere Kopie desselben Kontoauszugs ein und schreiben einen erklärenden Brief dazu. Sache erledigt, viel Lärm um buchstäblich nichts.

Mein Mann und ich sprechen Deutsch als Muttersprache, haben beide Abitur. Wie kann es sein, dass wir kaum verstehen, was man von Irina will? Was tun die vielen Betroffenen, die nicht mehrere Leute zur Unterstützung parat haben, wenn sie solche Briefe erhalten? Warum feilscht der Staat mit Menschen, die von einem Krieg betroffen sind, um zwei- oder dreistellige Eurobeträge?

Ich bin nicht die Einzige, die diese Fragen stellt. Unter anderem deswegen wurde nach langer Diskussion das Bürgergeld eingeführt, das vieles einfacher machen soll. Auch Irina bekommt es seit Jahresbeginn. Die Briefe vom Jobcenter erscheinen mir allerdings nicht freundlicher als vergangenes Jahr; ob das Bürgergeld ansonsten eine bürokratische Erleichterung für Irina ist, kann ich gerade noch nicht beurteilen.  

So oder so ist es mir peinlich vor ihr, dass die Behörden sie nicht besser willkommen geheißen haben. Wenn ich sie danach frage, zuckt Irina mit den Achseln. »Das ist normal«, sagt sie, »alles gut!« Sie würde sich nie über bürokratische Hürden beschweren, weil sie offenbar nicht undankbar erscheinen möchte. Manchmal staune ich darüber, mit wie wenig sich Irina zufriedengibt.