Eine ungleiche WG

Zwei Monate nach Kriegsbeginn zog eine Geflüchtete bei der Familie unserer Autorin ein – vorübergehend, so der Plan. Fast ein Jahr später wohnt die 59-Jährige immer noch dort. Während die eine als Journalistin Raketeneinschläge vermeldet, muss die andere Verluste und Flucht verarbeiten. Wie geht das zusammen? Folge eins unserer neuen Kolumne.

Illustration: Julia Krusch

Day«, sagt meine Tochter und zeigt auf eine Wasserflasche, »day!« Meine Mitbewohnerin gibt ihr die Flasche und antwortet auf Russisch. Die Kleine strahlt und brabbelt Babysprache. Ich verstehe keine der beiden, aber sie scheinen sich nett zu unterhalten. Noch vor etwas mehr als einem Jahr wäre ich nie darauf gekommen, dass eines der ersten Wörter meines Kindes Russisch für »gib mal« sein würde.

Allerdings wäre ich auch nicht darauf gekommen, dass die Ukraine von einem so langen Krieg gemartert wird. Dass Deutschland Kampfpanzer in ein Kriegsgebiet liefert. Dass von dort mehr als eine Million Menschen nach Deutschland flüchten und unsere Hilfe brauchen.

Und dass eine dieser Geflüchteten sich ein Leben in unserem Kinderzimmer aufbaut: Darauf wäre ich endgültig nicht gekommen. Doch genau so ist alles passiert.

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Seit fast einem Jahr wohnt eine aus der Ukraine geflüchtete Frau mit meinem Mann, unserer Tochter und mir in unserer 3,5-Zimmer-Wohnung in München. Wir wollten ihr ein Notquartier bieten, jetzt leben wir als Generationen-WG zusammen – wie eine Familie auf Zeit. Irgendwann wird sie ausziehen. Einerseits wünschen wir alle uns das für sie, denn sie möchte auf eigenen Füßen stehen und das Konstrukt war nie als Dauerzustand geplant. Andererseits kann ich mir den Alltag ohne unsere Mitbewohnerin, die wir sehr liebgewonnen haben, gar nicht mehr vorstellen.

So wie uns muss es Tausenden Haushalten in Deutschland gehen. Viele Familien haben Geflüchtete bei sich aufgenommen und wissen nicht, wie es weitergeht. In dieser Kolumne möchte ich in den kommenden Wochen teilen, was ich in den mittlerweile elf Monaten über mich selbst und über unsere Gesellschaft gelernt habe. Unter anderem, dass vieles im Leben nicht so einfach ist, wie es zunächst erscheint. Erst recht nicht im Krieg.

Nach dessen Beginn im Februar 2022 haben mein Mann und ich, wie viele Deutsche, das Gefühl: Wir müssen etwas tun. Wir bieten also das wenig genutzte Zimmer unseres Babys als Notquartier für Geflüchtete an. Ende April ruft eine Hilfsorganisation an: Die 58-jährige Irina brauche eine Unterbringung.

Wir stellen den Wickeltisch ins Wohnzimmer und bereiten im Kinderzimmer Gästebett und Schreibtisch vor. Alles ein bisschen provisorisch, aber es ist ja als Provisorium gedacht, vielleicht für einige Wochen oder Monate. Entweder wird unser Gast in eine eigene Wohnung in München ziehen oder – nach dem bestimmt baldigen Kriegsende – in die Ukraine zurückkehren, so stellten wir uns das damals vor. Im Nachhinein naiv.

Am nächsten Tag holen wir Irina aus der städtischen Unterkunft ab, einem großen Zelt auf dem Münchner Messegelände. Sie ist eine kleine Frau mit gepflegten blonden Haaren und einem blauen Anorak. Sie gibt uns beiden die Hand, bewundert das Baby in der Trage und versucht gestikulierend zu verhindern, dass mein Mann ihr beim Tragen des Koffers, der großen Rewe-Tüte und der vollgestopften Handtasche hilft. Sie spricht nur wenige Wörter Deutsch, aber schon auf dem Heimweg beginnen wir uns per Übersetzungs-App zu unterhalten.

In den kommenden Tagen erfahren wir, dass sie über Polen nach Deutschland geflüchtet ist – zusammen mit ihrer erwachsenen Tochter Elena, die zunächst in Polen geblieben ist. Elena wird sich im August zusammen mit ihrem Partner bis nach München durchschlagen, das wissen wir alle zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Irina und Elena heißen eigentlich anders. Wie ihre echten Namen lauten und aus welchem Ort in der Ukraine sie kommen, soll hier nicht erwähnt werden. Irina macht sich Sorgen um ihren Mann. Er ist in ihrem Heimatort geblieben, der in einem mittlerweile russisch besetzten Gebiet liegt. Als Familie eines ukrainischen Soldaten fühlen sie sich besonders gefährdet. Denn Irina hatte zwei Kinder: Ihr Sohn ist im Kampf gefallen. Meine Mitbewohnerin hat innerhalb kurzer Zeit mehr verloren, als ich mir je vorstellen kann.

In den folgenden Wochen helfen wir ihr bei Anträgen und Behördengängen. Im Juni bekommt sie ihren Aufenthaltstitel. Irina hilft uns bei der Kinderbetreuung. Sie geht stundenlang spazieren, macht eine Diät, lernt erste Vokabeln mit einer App. Auf dem Balkon vor ihrem Zimmer pflanzt Irina in diesem Sommer Tomaten. Sie hat einen grünen Daumen und erzählt, dass zu Hause in ihrem Garten nun offenbar alles blüht – und ihr Mann völlig überfordert ist, was er mit den Pflanzen anfangen soll. Wir lachen miteinander darüber.

Und manchmal weinen wir miteinander. Wenn Irina an ihren Sohn erinnert wird. Oder bei schlechten Nachrichten aus der Ukraine. Und die gibt es immer wieder. Die Front verläuft durch Irinas Heimatregion.

Aus Irinas Sicht ist ihr Leben weder abstrakt noch meta. Es ist schmerzlich echt

Es wird immer offensichtlicher, dass unsere Mitbewohnerin in absehbarer Zeit nicht zurück in die Ukraine kann – und so schnell keine Wohnung in München finden wird. Im Herbst 2022 beginnt ihr Deutsch- und Integrationskurs. Unser WG-Alltag pendelt sich in den folgenden Monaten ein: An vier Abenden in der Woche besucht Irina den Kurs. Tagsüber macht sie Hausaufgaben, lernt Vokabeln, geht spazieren und trifft Elena. Mein Mann und ich arbeiten beide in Vollzeit, und die Kleine geht in die Krippe. Wir treffen einander werktags oft nur zwischen Tür und Angel.

Ich arbeite als Homepage-Chefin am Newsdesk der Süddeutschen Zeitung. So kommt es oft vor, dass ich an meinem Schreibtisch im Home-Office sitze und die Karte mit dem aktuellen Frontverlauf auf der Seite verbaue oder mit einer Kollegin darüber diskutiere, welcher Beschuss wie prominent in unserem Ukraine-Liveblog vermeldet werden soll – während Irina mit einem »Guten Morgen« an mir vorbei in die Küche geht. Journalismus funktioniert nur mit professioneller Distanz, aber die ist für mich manchmal nicht einfach.

Meine Mitbewohnerin hat mir in diesen elf Monaten viel über sich erzählt. Normalerweise vermeide ich es, zu sehr nachzubohren. Für diese Kolumne stelle ich einige Nachfragen. Ich will ihre Erlebnisse und ihre Sicht richtig wiedergeben. Irina antwortet bereitwillig, obwohl ihr beim Erzählen die Tränen kommen. Doch bei manchen Fragen etwa zu Politik, Panzerlieferungen, Asylrecht und Heimatgefühl winkt sie ab oder wird einsilbig. Sie hat verständlicherweise nicht den Nerv, sich auf abstrakte Meta-Ebenen zu begeben, nur weil ich das gerade interessant finde. Aus ihrer Sicht ist ihr Leben weder abstrakt noch meta. Es ist schmerzlich echt.

Obwohl Irina mit dieser Kolumne einverstanden ist, zögere ich beim Schreiben. Ich will nicht für geflüchtete Menschen sprechen. Ich kann nicht ansatzweise selbst nachvollziehen, wie sich Krieg, Flucht, Trauma, die Trauer ums eigene Kind oder die völlige Ungewissheit über die Zukunft anfühlen.

Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich etwas beisteuern kann zu unserem Verständnis über diesen fast unverstehbaren Krieg. Etwas, das sich in Frontverlaufskarten und Liveblogs nicht gut transportieren lässt. Hinter der Erzählung von Zerstörung und Militär tritt oft die Erzählung zurück, wie sich dieser Krieg für die Menschen anfühlt, die ihn erleben, die vor ihm fliehen müssen.

Heute, im April 2023, wohnt Irina immer noch bei uns im Kinderzimmer, das wir gar nicht mehr so nennen, zwischen Heißluftballon-Wandbild, Wimpelgirlande und Kindermöbeln. Ihre Kleidung ist in dem schmalen Schrank verstaut. Auf der Kommode mit den bunten Knöpfen stehen ihre Kerzenständer und Tier-Figürchen. In dem kleinen hausförmigen Regal bewahrt sie Snacks und sehr viele Lippenstifte auf. Und auf dem Balkon warten ihre Tomatenpflanzen auf den Sommer.