Seit fast einem Jahr wohnt eine aus der Ukraine geflüchtete Frau mit unserer Autorin, ihrer Tochter und ihrem Mann in deren 3,5-Zimmer-Wohnung in München. Die Ukrainerin Irina und deren Tochter Elena heißen eigentlich anders. Wie ihre echten Namen lauten und aus welchem Ort in der Ukraine sie kommen, soll hier nicht erwähnt werden. Irina macht sich Sorgen um ihren Mann. Er ist in ihrem Heimatort geblieben, der in einem mittlerweile russisch besetzten Gebiet liegt. Hier geht es zu allen Folgen der Kolumne.
»Idi ko mne«, sagt Irina zärtlich, »moye sokrovishche!« Meine Tochter wackelt stolz in Irinas ausgestreckte Arme. Sie versteht genau, was unsere Mitbewohnerin mit den russischen Worten meint, nämlich: »Komm zu mir, mein Schatz!« Die Kleine lernt gerade sprechen – auf Deutsch und dank unserer Mitbewohnerin Irina ein bisschen auf Russisch.
Die rechnet nicht damit, bald in ihre ukrainische Heimat zurückkehren zu können. Also versucht sie sich für ein Leben in Deutschland zu rüsten. Dazu gehört, zu ihrem Leidwesen, die deutsche Sprache.
Wie schwer es ist, diese zu lernen, wird mir gerade eindrücklich vorgeführt. Denn anders als meine Tochter, die quasi im Vorübergehen die Sprache aufsaugt wie ein Schwamm, muss sich die 59-jährige Irina mit Genitivkonstruktionen, grammatikalischen Geschlechtern und einem unbekannten Alphabet rumquälen. Während das Kind sich die Katze im Bilderbuch zeigen lässt (»Tatzi?« – »Nein, das ist der Biber.«), sitzt Irina unserem Dialog lauschend daneben. »Da ist die Katze«, murmelt sie vor sich hin.
»Ein Baum, eine Blume. Der Arm, das Bein. Warum?«, fragt Irina mich, doch mir fällt keine zufriedenstellende Erklärung ein. Sie klagt, ihr Kopf werde quadratisch vor lauter Nominativ, Dativ … und wie auch immer die anderen heißen. Den Satz »Ich putze meine Zähne« musste ich ihr schriftlich geben. Sie kann einfach nicht nachvollziehen, warum es nicht »Ich wasche mir die Zähne« heißt.
Inzwischen verständigen wir uns im Alltag, wann immer möglich, mit einer Mischung aus Gesten und einfachstem Deutsch. Es ist uns oft zu aufwändig, das Handy zu holen und die Übersetzungs-App aufzurufen. Die App kommt bei komplizierteren Interaktionen zum Einsatz – und ist mit denen manchmal überfordert. Manche Formulierungen lassen sich offenkundig nicht eins zu eins vom Deutschen ins Russische übersetzen und umgekehrt. Das bemerke ich, wenn wir vergeblich versuchen, uns übers Wäscheaufhängen oder das zahnende Kind zu verständigen. Aber auch, wenn meine Mitbewohnerin mir sagt, dass ihre Heimat »krank« ist und ihr Sohn »kaputt« – oder dass sie den »friedlichen Himmel« verloren hat.
Nicht nur in diesen Momenten fällt mir auf, wie sehr unsere Weltsicht von der Muttersprache geprägt ist
Das führt dazu, dass ich manche Themen im Gespräch mit Irina meide, weil ich Missverständnisse verhindern will oder Sorge habe, dass die Zwischentöne verlorengehen. So prägt die Sprache – oder vielmehr: der Mangel einer gemeinsamen Sprache – unser Verhältnis zueinander. Doch auf eine Weise schafft das ein Gefühl von Ebenbürtigkeit: Sie kann kaum Deutsch, ich kann kein Russisch. Es ist nicht so, dass wir miteinander Englisch sprechen und eine von uns beiden mehr Vokabeln kennt und dadurch auf einem Konversations-Niveau ist, das die andere nicht erreichen kann. Sondern wir sind beide ähnlich sprachlos.
Nicht nur in diesen Momenten fällt mir auf, wie sehr unsere Weltsicht von der Muttersprache geprägt ist. Oft heißt es ja, dass wir Deutschen uns wegen des generischen Maskulinums Gruppen als männerdominiert vorstellen. Wer Russisch spricht, hat andere Empfindungen gegenüber dem Hund, dem Schwein oder dem Fisch, die in der Sprache alle in ihrer Grundform feminin sind. Wenn Irina von einer »Freundin« oder einem »Mann« spricht, betont sie immer, dass damit keine Liebesbeziehung gemeint ist: »Freundin, aber nicht ich liebe dich«, »Mann, aber nicht mein Mann«. Sie ist sehr beunruhigt, dass wir ihr Verhältnis zur beschriebenen Person falsch interpretieren könnten.
Irina hangelt sich in ihrem Deutschkurs fleißig von Modul zu Modul. Sie versteht schon sehr viel von dem, was sie hört oder liest. Doch wenn jemand sie anspreche, dann bekomme sie Herzrasen und kriege keinen richtigen Satz auf Deutsch heraus, erzählt sie mir. Ich habe selbst schon im Ausland gelebt, weshalb ich diese Situation kenne. Ich weiß, wie schwierig es ist, sich in einer Fremdsprache zurechtzufinden. Dabei war ich bei meinen Auslandsaufenthalten viel jünger als Irina jetzt. Ich war es seit der Schulzeit gewohnt, Fremdsprachen zu lernen. Außerdem sind Französisch oder Spanisch mit dem Deutschen viel enger verwandt als Russisch oder Ukrainisch. Irina muss mit Ende 50 zum ersten Mal eine Fremdsprache lernen.
Irinas Muttersprache ist Russisch. Ukrainisch spricht sie natürlich ebenfalls. Aber die Sprache, in der sie denkt und mit ihrer Familie spricht, ist Russisch. Auch jetzt noch. Das Verhältnis des ukrainischen Volkes zu seiner Sprache ist komplex. Die Muttersprache vieler Menschen vor allem im Osten und Süden des Landes ist Russisch – unter anderem die des Präsidenten Wolodimir Selenskij. Allerdings war Russisch auch die De-Facto-Amtssprache der Sowjetunion. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 gab es verschiedene Regelungen zur Sprache. Vor einigen Jahren ist ein Gesetz in Kraft getreten, das landesweit Ukrainisch zur »Staatssprache« machen soll. Stufenweise soll es zur einzigen Sprache öffentlicher Einrichtungen und zur Hauptsprache etwa in Fernsehen, Kino und Presse werden. Das Gesetz galt vor dem Kriegsbeginn als umstritten und möglicherweise spaltend.
Seit dem russischen Überfall auf das Land gibt es dort viele Menschen, die dem Russischen abgeschworen haben. Manche, weil sie in überwiegend ukrainischsprachige Landesteile geflohen sind, aber die meisten, weil sie nicht so klingen wollen wie diejenigen, die all das Leid über ihr Land bringen. Allerdings haben bei Weitem nicht alle die Sprache gewechselt.
Ich ärgere mich stellvertretend für meine Mitbewohnerin, wenn die Dinge vereinfacht dargestellt werden
Irina erzählt mir, dass in der Community ukrainischer Geflüchteter kaum Russisch gesprochen wird. Sie respektiert das und spricht mit den Anderen Ukrainisch, obwohl sie es selbst nicht nachvollziehen kann. Russisch ist ihre Muttersprache, Russisch sind ihre Gedanken, Träume und Gefühle. Es ist ein Teil ihrer Identität.
Ihr Verhältnis zu »den Russen« ist zu kompliziert, um es mir sinnvoll mit der Übersetzungs-App zu erklären. Irina sagt, dass die, mit denen sie ihre Wurzeln teilt, ihr das Kostbarste genommen hätten. Das Zuhause. Die Zukunft. Den Sohn. Ich kann gut verstehen, dass sie sich nicht auch noch die Sprache nehmen lassen will.
Meine Kollegin Sonja Zekri formulierte es im Februar in der SZ so: »Die meisten der einst russophilen oder russischstämmigen Ukrainer (…) stehen vor den Trümmern ihrer Identität. Russland, dem sie sich verbunden fühlten und dem sie vertrauten, ist zum mörderischen Feind geworden. Für viele bedeutet dies den Zusammenbruch aller Gewissheiten, wie man ihn sich in Deutschland mit seinen klar sortierten Loyalitäten kaum vorstellen kann.«
Es ist eben alles nicht so einfach. Und ich ärgere mich stellvertretend für meine Mitbewohnerin, wenn die Dinge vereinfacht dargestellt werden: Russisch als böse Sprache, die niemand mehr verwenden soll. Wenn das so ist: Wie können wir es wagen, ausgerechnet Deutsch zu sprechen, die wohl böseste Sprache der Weltgeschichte?
Eine Sprache kann in ihrer Gesamtheit eben doch nicht böse sein. Sie wird immer liebevolle genauso wie verletzende Wörter enthalten – und vor allem ganz viele Wörter, die ohne Zusammenhang erstmal neutral und unschuldig sind. So ist das Russisch, das meine Tochter lernt, auch ein unschuldiges. Kinderbuch-Russisch. Inzwischen weiß sie zum Beispiel, wie »der Elefant,« »die Katze« und »die Puppen« auf Russisch heißen: »slon«, » koshka«, und »kukly«.