»Es ist besser, mehrere Kinder zu haben. Falls mal eins stirbt«

Unsere Kolumnistin fragt sich, welche Rolle ihre ukrainische Mitbewohnerin eigentlich in der Familie spielt. So oder so freut sie sich über die Hilfe bei der Kinderbetreuung – trotz der oft kuriosen und manchmal traurigen Erziehungstipps. Folge fünf unserer Kolumne. 

Illustration: Julia Krusch

Seit einem Jahr wohnt eine aus der Ukraine geflüchtete Frau mit unserer Autorin, deren Tochter und deren Mann in deren 3,5-Zimmer-Wohnung in München. Die Ukrainerin Irina und deren Tochter Elena heißen eigentlich anders. Wie ihre echten Namen lauten und aus welchem Ort in der Ukraine sie kommen, soll hier nicht erwähnt werden. Irina macht sich Sorgen um ihren Mann. Er ist in ihrem Heimatort geblieben, der in einem mittlerweile russisch besetzten Gebiet liegt. Hier geht es zu allen Folgen der Kolumne.

Als unsere Mitbewohnerin Irina im April 2022 bei uns einzog, war unsere Tochter acht Monate alt und hatte gerade gelernt, sich an ihrem Laufstallgitter hochzuziehen. Inzwischen flitzt sie mit dem Laufrad umher und freut sich offensichtlich sehr darüber, dass neben ihren Eltern noch eine dritte Erwachsene in unserer Wohnung lebt, die gern spielt und kuschelt.

Wir vier verbringen zwar nicht besonders viel Zeit miteinander, frühstücken in der Regel nicht gemeinsam und gammeln auch nicht abends zusammen auf dem Sofa rum. Aber wir teilen unser Zuhause, das Bad, die Küche. Und Irina ist der einzige Mensch, der uns im Alltag bei der Kinderbetreuung hilft. Welche Rolle hat sie also genau in unserem Zusammenleben? Ist sie WG-Mitbewohnerin? Freundin? Vorübergehendes Familienmitglied?

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Irina ist Ende 50, wir Mitte 30. Aber uns unterscheidet nicht nur das Alter, sondern auch unser Hintergrund. Irina ist in der Sowjetunion aufgewachsen, mein Mann und ich in Deutschland nach dem Mauerfall. Wir haben lange studiert, sie hat früh gearbeitet – erst jahrzehntelang als Telegrafistin und Sekretärin, dann als Pflegerin ihres Vaters. Sie ist gläubig, wohingegen mein Mann und ich mit Religion nichts am Hut haben.

Und wir haben unterschiedliche Familienbilder. Oft mache ich die Wohnungstür hinter meinem Mann und meiner Tochter zu, drehe mich um und blicke in das Gesicht einer fassungslosen Irina: »Super Papa!«, sagt sie. Sie kann kaum glauben, dass der Vater das Kind täglich zur Kita bringt oder mit ihm für den Wocheneinkauf in den Supermarkt geht.

Manche ihrer Erziehungstipps kommen mir etwas altmodisch vor. Sie ist überzeugt, dass sowohl Eiscreme als auch kurzzeitiges Barfußgehen sofort schwere Erkältungen auslösen. Gegen Fingernägelkauen, Daumenlutschen und Nasenbohren bei Kleinkindern hat sie mir einmal empfohlen, die Fingerspitzen mit Zitrone und Pfeffer einzureiben. Und dann ist da noch ein Tipp, den sie mir schon mehrmals gegeben hat und der jedes Mal einen Kloß in meinem Hals verursacht: »Ihr solltet noch ein Kind bekommen. Es ist besser, mehrere Kinder zu haben. Falls mal eins stirbt.« Ihr Sohn ist in der Ukraine gefallen.

Unsere Mitbewohnerin hat uns einiges an Lebenserfahrung voraus. So wie die Großeltern unserer Tochter. Genau wie die gibt Irina sich Mühe, uns nicht reinzureden. Aber wie die beiden Omas kann auch sie sich nicht immer die gutgemeinten Fragen über Themen wie Kleidung, Ernährung und Zubettgehzeit verkneifen.

So gut wir uns verstehen, hoffen wir ja alle, auch sie, dass sie irgendwann in eine eigene Wohnung ziehen oder sogar in ihre Heimat zurückkehren kann

Als ich den vorangegangenen Absatz formuliert habe, habe ich zuerst »die anderen beiden Omas« geschrieben und die Formulierung dann, von mir selbst überrascht, wieder gelöscht. Ist Irina denn so etwas wie eine Zusatz-Oma?

Die Kleine hat ja schon Großeltern, die einen sehr wichtigen Platz in ihrem Leben einnehmen, obwohl sie nicht wie wir in München leben. Hinzu kommt, dass wir nicht wissen, wie lange Irina noch bei uns wohnen wird – und ob sie ein Teil unseres Lebens bleiben wird, wenn sie einmal weggezogen ist. So gut wir uns verstehen, hoffen wir ja alle, auch sie, dass sie irgendwann in eine eigene Wohnung ziehen oder sogar in ihre Heimat zurückkehren kann. Und auch nach einem Jahr geben wir die Hoffnung nicht auf.

Dass es dieses ganze Jahr und voraussichtlich noch länger würde, wussten wir noch nicht, als wir Irina bei uns aufnahmen. Wenn wir es gewusst hätten, dann hätten mein Mann und ich vielleicht anfangs besprochen, welchen Platz unser Gast wohl in unserem Leben einnehmen wird. Vielleicht hätten wir einen solchen Platz bewusst für sie geschaffen, statt sie über Monate hinweg in die Lücken unseres Familiendaseins hineinwachsen zu lassen. Vielleicht hätten wir uns öfter zum gemeinsamen Essen verabredet. Vielleicht hätte ich an ihre Zimmertür geklopft, um mich mit ihr zu unterhalten – und dabei nicht das Gefühl gehabt, sie zu stören. Aber vielleicht kommt es mir nur im Nachhinein so vor, als sei unsere Beziehung zu Irina ein Ergebnis der Ungewissheit, die dieser Krieg mit sich gebracht hat. Vielleicht ist sie gar nicht so ungewöhnlich, wie ich glaube, sondern normal für WG-Mitglieder mit sehr unterschiedlichem Hintergrund.

Meine Tochter ahnt nichts von all diesen Vielleichts und liebt unsere Mitbewohnerin so innig wie vorbehaltlos. Sie klopft ohne Zögern an Irinas Tür und fordert lautstark Aufmerksamkeit. Manchmal fremdelt sie aber auch, denn die beiden sehen einander unter der Woche kaum. Es kommt vor, dass auch ich Irina tagelang nur im Flur begegne und nichts mit ihr bespreche, was über das Wetter hinausgeht. Ich weiß oft nicht, wo sie von morgens bis abends ist.

Dann gibt es wieder Tage, an denen Irina ihre intensive Trauer und ihre größten Sorgen mit mir teilt. Und solche, an denen sie mich nicht ohne dicken Schal aus dem Haus gehen lässt. Und es gab auch schon Tage, an denen wir ohne sie aufgeschmissen gewesen wären – weil irgendjemand krank war oder die Kita geschlossen hatte.

Allerdings lassen mein Mann und ich diese Tage nicht zur Regel werden. Irina passt oft spontan auf die Kleine auf, mal für fünf Minuten und mal für eine halbe Stunde. Aber nur, wenn sich unsere Arbeitszeiten in Notfällen absolut nicht abstimmen und ändern lassen, bitten wir sie im Voraus um mehrere Stunden Betreuung. Wir haben entschieden, dass wir beide in Vollzeit arbeiten und müssen selbst mit den Folgen unserer Entscheidung klarkommen. Vor allem aber wollen wir nicht über ihren Alltag bestimmen oder sie vom Deutschlernen ablenken. Und wir möchten verhindern, dass sie kostenlos für uns als Babysitterin arbeitet – oder sogar als Putzkraft: Immer wieder diskutiere ich mit ihr, wer nun Staub saugen »darf«. Neulich nahm sie mir den Wäschekorb ab und schickte mich zum Ausruhen ins Schlafzimmer – mit einer Umarmung und der Information, dass ich ihr »Baby« sei. Sie sagt oft, dass sie meinen Mann und mich so liebt, als seien wir ihre Kinder.

So formuliert sie das. Es gibt kein Etikett für das Verhältnis, das wir alle zueinander haben. Irina hat in unserem Familienzusammenhang keine definierte Rolle. Aber dass sie eine Rolle einnimmt, ist unbestreitbar. Daran zeigt sich, wie unzulänglich bekannte Kategorien heute sind. Wie schnell Zuschreibungen an ihre Grenzen stoßen, wenn es um das Zusammenleben von Menschen geht, das wir klassischerweise als »Familie« bezeichnen.

Und nur so lassen sich wohl die obigen Fragen beantworten: Mal ist Irina unsere freundschaftlich verbundene Mitbewohnerin. Mal ist sie die junge Zusatz-Oma. Mal ein langfristiger Gast. Und manchmal ist sie einfach die Rettung. Zum Beispiel an Wochenenden, an denen ich es ohne sie vermutlich nie unter die Dusche schaffen würde. Oder wenn die Kleine auf Irinas Arm zu russischen Schlafliedern einschläft. Oder wenn ein Schreianfall endet, weil unsere Mitbewohnerin ins Zimmer kommt und fragt, was mit ihrer »Malenkaja«, ihrer Kleinen, los ist. Nicht nur in diesen Momenten denke ich: Ganz leicht wird der Abschied nicht werden.