Seit fast einem Jahr wohnt eine aus der Ukraine geflüchtete Frau mit unserer Autorin, deren Tochter und deren Mann in deren 3,5-Zimmer-Wohnung in München. Die Ukrainerin Irina und deren Tochter Elena heißen eigentlich anders. Wie ihre echten Namen lauten und aus welchem Ort in der Ukraine sie kommen, soll hier nicht erwähnt werden. Irina macht sich Sorgen um ihren Mann. Er ist in ihrem Heimatort geblieben, der in einem mittlerweile russisch besetzten Gebiet liegt. Hier geht es zu allen Folgen der Kolumne.
Meine Mitbewohnerin hat viel verloren. Irinas Sohn war als Soldat im Donbass stationiert und wurde dort 2021 tödlich verletzt – bei einer von vielen Attacken trotz vereinbarter Waffenruhe. Als die Russen nach der Invasion der Ukraine einige Monate später ihren Heimatort besetzten, fühlte sich Irina als Mutter eines Soldaten nicht mehr sicher und floh gemeinsam mit ihrer Tochter aus der Ukraine. Ihr Mann, der nicht Vater ihres Sohnes ist, blieb. Er meinte damals, er müsse das Haus bewachen, und rechnete mit einem baldigen Kriegsende. Inzwischen habe er seine Meinung in beiden Punkten geändert, sagt Irina, doch jetzt sei eine Flucht aus der Region nicht mehr möglich. Der Region, die mal ihre Heimat war, die sie ebenfalls verloren hat – durch die Flucht und die russische Besetzung sogar in doppelter Hinsicht.
Seit Irina Ende April 2022 im Kinderzimmer unserer Münchner Wohnung eingezogen ist, beschäftigen mein Mann und ich uns deshalb nicht nur mit der Frage: Wie funktioniert eine WG mit einer Frau Ende 50, deren Sprache man nicht spricht? Wir fragen uns auch immer wieder: Wie geht man mit einem Menschen um, der Verluste erlitten hat, die man selbst kaum verstehen kann? Der möglicherweise traumatisiert ist? Niemand hat uns darauf vorbereitet. Niemand steht uns bei diesen Fragen zur Seite.
Am ersten Abend bei uns zeigt Irina auf ihrem Handy Bilder von zuhause. Ein blühender Garten. Ein Hund. Ihr Mann mit einer Flasche Bier. Ihre hübsche Tochter. Die Traueranzeige ihres Sohnes. Sie bricht in Tränen aus, ringt um Worte. Mein Mann streichelt ihren Arm. »Wir verstehen«, sagt er. Dann kommen mir auch die Tränen, und ich umarme sie vorsichtig.
Ich überrasche mich als nach außen hin eher sachlicher Mensch damit selbst. Vielleicht geht mir Irinas Schicksal deshalb so nah, weil ich seit Kurzem ebenfalls Mutter bin. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ist es, das eigene Kind zu verlieren. Ich kann es mir nicht vorstellen, aber immer wieder weine ich, wenn ich meine Mitbewohnerin im Arm halte, ein bisschen mit.
Das ist nach allem, was ich nachgelesen habe, nicht gerade ein psychologisch perfekter Umgang mit einer Traumatisierten. Man solle, heißt es in den Hinweisen von Behörden und Hilfsorganisationen, Stabilität und Sicherheit ausstrahlen, um zu signalisieren, dass keine akute Gefahr besteht. Wie viel Stabilität mein Mit-Leiden ausstrahlt, ist fraglich, aber Irina scheint es zu trösten.
Ein anderer Tipp, den ich überall lese, in einem Leitfaden sogar fettgedruckt mit Ausrufezeichen: »Nicht nachbohren!« Es bestehe die Gefahr, dass Betroffene »retraumatisiert« würden. Das heißt: Sie durchleben die traumatisierenden Erlebnisse nochmal, wenn sie darüber sprechen.
Bei meiner Arbeit am Newsdesk bin ich täglich mit dem Krieg in der Ukraine befasst – und mit den politischen Diskussionen, die hierzulande darüber geführt werden. Obwohl mich diese Themen nach Feierabend weiter beschäftigen, diskutiere ich nie mit Irina über Steinmeier- und Scholz-Besuche in Kiew, Leopard-Lieferungen oder EU-Ukraine-Gipfel. Wer weiß, was ich auslöse, wenn ich aus heiterem Himmel mit Kampfpanzern bei ihr ankomme?
Irina soll den Raum haben, das Geschehen zu thematisieren, aber ich will sie nicht drängen, sich damit zu beschäftigen. Das fühlt sich in unserem gemeinsamen Alltag manchmal unhöflich oder kontraintuitiv an, denn eigentlich habe ich gelernt, dass es hilft, über Sorgen zu sprechen. Nun höre ich vor allem zu und stelle keine Nachfragen, selbst wenn ich sprachlich nicht hundert Prozent von dem verstehe, was Irina mir erzählt.
Einmal kommt Irina schluchzend aus ihrem Zimmer und zeigt mir ein neues Foto vom Grab ihres Sohnes: Endlich konnte der schwarz glänzende Grabstein gesetzt werden, Freunde haben sich darum gekümmert. Und sie war nicht dabei. Ein anderes Mal weint sie eher vor Rührung: Ihrem Mann ist es gelungen, sie übers Internet per Videocall anzurufen. Sie sieht zum ersten Mal seit Monaten sein Gesicht. Er sehe jetzt aus wie der Weihnachtsmann, sagt sie danach, so weiß seien seine Haare und sein Bart geworden.
Ich finde, dass Irina das Recht hat, sich abzulenken. Sich den Alltag so schön wie möglich zu machen
Ab und zu zeigt sie auf dem Handy Aufnahmen von zerbombten Wohnblocks, die ihr Freunde geschickt haben. »Kaputt«, sagt sie und schüttelt den Kopf. Es ist allerdings nicht so, dass Irina ständig weinen oder über ihren Schmerz reden würde. Wir sprechen viel miteinander – mal per Übersetzungs-App, mal radebrechend untermauert von Pantomime –, aber die Gespräche sind selten lang oder tiefgründig, was auch an der Sprachbarriere liegt. Es geht um Babypflege, Erziehung, Haushaltsorganisation, Behördenkram, die Aussprache deutscher Wörter, ihre Jagd nach Schnäppchen oder ihre Allergien.
Ich finde, dass Irina das Recht hat, sich abzulenken. Sich den Alltag so schön wie möglich zu machen. Im Sommer verbringt sie viel Zeit an Badeseen, streift durch die Innenstadt, sucht nach einem russischsprachigen, günstigen Maniküre-Salon. Spricht in ihrer Situation etwas dagegen, sich zu vergnügen? Für mich nicht. Ich kann gut verstehen, dass sie immer in Bewegung bleiben will. Innehalten bedeutet Nachdenken, und das bedeutet in ihrem Fall Schmerz. Irina vergisst nicht, sie verdrängt nicht. Sie will einfach weiterleben.
Mittlerweile scheint sie psychisch tatsächlich festeren Boden unter den Füßen zu spüren. Zumindest weint sie, soweit ich es mitbekomme, seltener und lacht im Alltag mehr. Aber gut geht es ihr nicht. Sie sagt selbst, dass es ihr halt immer besser gelinge, sich zusammenzureißen. »Aber immer mein Cherz …«, sagt sie, legt beide Hände auf die Brust und schüttelt den Kopf. Die Geste für Schmerz funktioniert in allen Sprachen.
Und es sind nicht nur Traumata aus der Vergangenheit, die sie verarbeiten muss, sondern der Krieg dauert an, ist allgegenwärtig, und es ist kein Ende in Sicht. Anfang 2023 beginnt die neue, von vielen gefürchtete russische Offensive. An einem Tag im Februar steht Irinas Herkunftsregion unter heftigem Beschuss. Nicht der Ort, in dem ihr Haus steht und ihr Mann noch ist. Aber ich weiß, dass sie in der bombardierten Gegend Verwandte und Freunde hat. Ich sitze in meinem Home-Office und baue die Meldung über den Beschuss auf unsere Homepage. Im Nebenzimmer herrscht Stille.
Am nächsten Tag, einem Samstag, ist Irina mit ihrer Tochter Elena unterwegs. Die überredet sie dazu, schwarze Stöckelschuhe zu kaufen und am Abend in eine Kneipe zu gehen. Spätabends kommt Irina zurück und schafft es kaum, die Wohnungstür hinter sich zu schließen, bevor die ganzen heruntergeschluckten Tränen aus ihr herausbrechen. Sie stammelt Halbsätze, deren Bedeutung wir auch ohne Übersetzungs-App erfassen. Sie hält es kaum noch aus, dass immer noch kein Kriegsende in Sicht ist. Dass die Ukraine so kraftlos wirkt. Dass sie von ihrem Mann getrennt ist. Sie weint lange. Ich weine ein bisschen mit, umarme sie und fühle mich hilflos. Mein Mann bringt Taschentücher.
Am darauffolgenden Morgen backen wir Rosinenbrötchen, als Irina mit verquollenem Gesicht in die Küche kommt. Das Kind streckt ihr begeistert die Ärmchen entgegen. Die beiden gehen ins Wohnzimmer, damit ich die Küche putzen kann, während die Brötchen im Ofen sind. Ich höre, wie sie sich erst Bilderbücher anschauen, dann Schuhe an- und ausziehen üben. Während ich die Spülmaschine einräume, Teigreste von der Arbeitsplatte kratze und Rosinen vom Boden auflese, denke ich darüber nach, ob ich den gestrigen Abend nochmal ansprechen soll. Irina will gerade offenbar nicht darüber reden. Später am Tag wird sie sich – unnötigerweise, wie wir ihr mehrfach versichern – bei uns entschuldigen und ihre Emotionalität auf den Alkohol zurückführen, den sie schlecht vertrage. Mir fällt nichts ein, was ich noch sagen könnte.
Es gibt ja doch keinen Trost.