»Wie nett, dass Sie einer Ukrainerin helfen, aber die Wohnung kriegt jemand anderes«

Das Kinderbettchen steht im Elternschlafzimmer, die Babycreme im Bücherregal: Nicht nur wegen akuten Platzmangels sucht unsere Kolumnistin eine neue Bleibe für ihre geflüchtete Mitbewohnerin. Seit Monaten vergeblich. Folge sechs der Kolumne.

Illustration: Julia Krusch

Seit einem Jahr wohnt eine aus der Ukraine geflüchtete Frau mit unserer Autorin, deren Tochter und deren Mann in deren 3,5-Zimmer-Wohnung in München. Die Ukrainerin Irina und deren Tochter Elena heißen eigentlich anders. Wie ihre echten Namen lauten und aus welchem Ort in der Ukraine sie kommen, soll hier nicht erwähnt werden. Irina macht sich Sorgen um ihren Mann. Er ist in ihrem Heimatort geblieben, der in einem russisch besetzten Gebiet liegt. Hier geht es zu allen Folgen der Kolumne.

Im Frühjahr 2022 kauften mein Mann und ich ein gebrauchtes Kinderbett. Ich verbrachte einige Wochenenden in der Garage, um es zu renovieren und neu anzustreichen. Die Farben sollten zu den anderen Möbeln unserer Tochter passen, die bald mitsamt dem Bett in ihr eigenes Zimmer umziehen würde. So war der Plan.

Zunächst aber stellten wir das Bettchen in unser Schlafzimmer, denn kurz zuvor war die aus der Ukraine geflüchtete Irina bei uns eingezogen. Noch benötigten wir das Kinderzimmer nicht unbedingt, die Kleine war nicht mal ein Jahr alt. Damals wussten wir noch nicht, dass der Krieg in der Ukraine so lange dauern und Irina von einem kurzzeitigen Gast zu einer dauerhaften Mitbewohnerin werden würde. Wir wussten noch nicht, dass wir unser Zuhause so lange teilen würden und wie sich dieses Teilen anfühlen würde. Und wir wussten nicht, wie schwer sich die Suche nach einer eigenen Wohnung für Irina gestalten würde. Dazu später mehr.

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Als Irina ihre neue Bleibe zum ersten Mal betrat, schien sie beeindruckt davon, dass dieser kleine Mensch bald so ein geräumiges und durchdekoriertes Zimmer für sich allein haben sollte. Und sie wirkte erleichtert, dass da ein bequemes Bett für sie selbst stand. In den Wochen zuvor hatte sie sich Schlafmittel angewöhnt: zuhause, um nicht vom Kriegslärm geweckt zu werden, und während der Flucht, um mit anderen Menschen im Raum auf fremden Sofas oder im Notunterkunfts-Feldbett einschlafen zu können. Klar, ein Bett in einem Kinderzimmer war nicht das, was sie, eine gestandene Frau Ende 50 mit eigenem Haus und Garten, gewohnt war. Doch es sollte ja nur als Übergangslösung dienen.

Irina brauchte nicht nur einen Schlafplatz. Wenige Tage nach ihrer Ankunft machte sie mittags Bratkartoffeln und zwang mir eine Portion davon regelrecht auf: »Ich habe noch nie Kartoffeln nur für eine Person gekocht«, sagte sie. Sie brauchte eine Küche und jemanden zum Bekochen. Sie brauchte praktische und emotionale Unterstützung.

Heute, ein Jahr später, ist unsere Mitbewohnerin zwar nicht völlig in Deutschland angekommen, das Heimweh ist nach wie vor groß. Aber sie hat sich eingelebt. Ihre Tochter und deren Partner sind mittlerweile ebenfalls hier in München. Irina hat im Deutschkurs und in der Kirche zahlreiche Bekanntschaften gemacht. Sie kocht nur selten für uns. Was sie jetzt eigentlich braucht: Eigenständigkeit, Raum zur Entfaltung und Platz. All das können wir ihr kaum bieten.

Der fehlende Raum macht sich für uns alle bemerkbar. Inzwischen nähert sich die Kleine ihrem zweiten Geburtstag und das bunte Bettchen steht immer noch in unserem Schlafzimmer. Im Wohnzimmer quellen Kinderkleidung und Spielsachen aus Kisten, Schubladen und einigen freigeräumten Fächern im Bücherregal. Statt stolz angesammelter Weltliteratur stellen wir Popo-Creme, Kuscheltiere und Duplo-Steine zur Schau.

Mir ist bewusst, was meine Mitbewohnerin durchgemacht hat und weiterhin durchmacht: Sie hat ihr Zuhause verloren. Ihr Sohn ist gefallen. Sie macht sich Sorgen um ihren Mann. Von ihrer Tochter war sie monatelang getrennt. Eben weil mir das so bewusst ist, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich an Regalplatzmangel und anderen Kleinigkeiten wie einem gekippten Badfenster oder Wurstbrot-Geruch störe.

Ich schließe das Fenster und ignoriere den Geruch. Derlei Belanglosigkeiten bei meiner Mitbewohnerin anzusprechen, käme mir kleinlich vor. Dass wir so harmonisch zusammenleben, liegt unter anderem daran – aber vor allem an Irina, die uns auf keinen Fall zur Last fallen will. Sie kocht oder duscht nur, wenn sie sich sicher sein kann, dass wir gerade nicht die Küche oder das Bad benutzen wollen. Zum Essen oder Lernen zieht sie sich an ihren Schreibtisch zurück.

Es ist mir wichtig, dass wir uns zuhause komplett fallen lassen können. Doch mir fällt das seit Irinas Einzug manchmal schwer

Seltsamerweise fühle ich mich trotzdem manchmal fast so, als stünde ich unter Aufsicht. Das liegt wohl nicht an ihr, sondern an mir – und dem Umstand, dass ich ohnehin gelegentlich an meiner Performance als erwerbsarbeitende Mutter eines Kleinkinds zweifle. Jedenfalls ist es mir vor Irina peinlich, wenn sich in der Küche schmutziges Geschirr stapelt. Oder wenn wir alle den halben Sonntag im Schlafanzug vor uns hingammeln. Oder wenn die Kleine mit eiskalten Händen nach Hause kommt, weil ich ihre Handschuhe vergessen habe.

Das Zuhause ist für die meisten Menschen ein Rückzugsort, an dem man sich vom Leben in der Gesellschaft erholt. Für mich ist unsere Wohnung jedoch nicht nur der Ort, an dem wir schlafen und die Zeit bis zum nächsten Programmpunkt des Alltags totschlagen. Sie ist das Zentrum unseres Familienlebens. Es ist mir wichtig, dass wir uns zuhause komplett fallen lassen können. Doch mir fällt das seit Irinas Einzug manchmal schwer.

Dass man eine Art Publikum hat, dass man auf andere Rücksicht nehmen muss: Derlei Unannehmlichkeiten kommen in jeder Wohngemeinschaft vor. Aber von uns drei Erwachsenen hatte niemand geplant, in seinem Leben nochmal in eine WG zu ziehen.

Wir sind uns einig, dass das Konstrukt keine Dauerlösung ist. Irina zurück in eine städtische Unterkunft zu bringen, war für uns allerdings nie eine Option. Ihre Tochter wohnt bis heute mit dem Partner in einer dieser Notunterkünfte. Sie schlafen in einer Leichtbauhalle hinter einem Vorhang. Elena schildert, dass von der Zeltdecke das Kondenswasser tropft, dass im Winter mehrmals die Heizung ausfällt und Gerüchten zufolge geklaut wird.

Was Irina braucht, ist eine eigene Wohnung. Doch nach der suchen wir vergeblich. Seit Monaten. Und ohne Hilfe: In dem Jahr, das Irina hier wohnt, hat sich kein Amt bei uns gemeldet und gefragt, ob wir wissen, wie es weitergeht. Und ob womöglich eine Wohnung gesucht werden muss. Dabei sind wir kein Einzelfall. Drei Viertel aller aus der Ukraine Geflüchteten sind in Deutschland privat untergekommen – bei Bekannten oder bei Menschen, die sie zuvor nicht kannten. Es müsste also Hunderttausende Haushalte in Deutschland geben, die jemanden aufgenommen haben. Und davon allein einige Tausend in München.

Hier überstieg die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum und Sozialwohnungen schon vor der Ankunft der aus der Ukraine geflüchteten Menschen bei Weitem das Angebot.

Offiziell steht Irina ganz oben auf der Liste derer, die Anspruch auf geförderten Wohnraum haben. Bloß: Allein die Bearbeitungszeit, um diesen Anspruch festzustellen, dauert der Stadt München zufolge »mindestens sechs Monate«. Und erst mit diesem Bescheid kann man anfangen, sich auf eine Sozialwohnung zu bewerben.

Wir stellen also den Antrag, gehen aber gleichzeitig noch andere Wege. Wir suchen auf Mietbörsen nach Wohnungen, die im Größen- und Preisrahmen liegen, den das Jobcenter vorgibt. Momentan sind das maximal 50 Quadratmeter für maximal 781 Euro Brutto-Kaltmiete – was teuer klingt, für Münchner Verhältnisse allerdings günstig ist.

Wir schreiben Dutzende Anfragen. Schönheit oder Lage sind längst keine Kriterien mehr, Irina wäre mit allem zufrieden. Die meisten Vermieterinnen und Vermieter reagieren nicht. Einige schicken Standard-Absagen: »Bitte entschuldigen Sie die späte Antwort. Wir wurden von der extrem hohen Anzahl der Anfragen überrascht. Die Wohnung ist inzwischen vergeben.« Zweimal bekomme ich persönliche Antworten in Richtung von: »Wie nett, dass Sie einer Ukrainerin helfen, aber die Wohnung kriegt jemand anderes.«

Mich frustriert das, obwohl ich es nachvollziehen kann: Die meisten wollen wohl langfristige Mietverträge abschließen. Bei einer aus der Ukraine Geflüchteten kann es gut sein, dass die irgendwann wieder zurück in die Heimat will – und dann die Wohnung wieder neu vermietet werden muss. Ich wünschte nur, andere würden in meiner Mitbewohnerin nicht ein Problem sehen, das wir uns versehentlich aufgeladen haben und zu lösen versuchen. Sie ist kein Problem, sondern ein Mensch, der momentan auf Unterstützung angewiesen ist.

Immerhin kam Anfang Mai endlich der Behördenbescheid, der wie erwartet Irinas dringenden Bedarf einer Sozialwohnung bescheinigt. Ich habe Irina geholfen, sich damit auf geförderte Wohnungen zu bewerben. Es gibt dafür ein spezielles Onlinesystem, in dem bei jeder Wohnung Fakten wie Größe, Ausstattung und ungefähre Lage aufgeführt sind. Und es steht dabei, wie viele Menschen sich beworben haben. Bei denen, die für Irina infrage kommen, sind es teilweise mehr als 300. Zwei Absagen kamen schon. Drei Bewerbungen stehen noch aus. Vielleicht hat sie ausnahmsweise Glück.