Natürlich gibt es kaum etwas Unhöflicheres, als Besuch aus der Ukraine zu haben und dann keinen Alkohol zu trinken. Schon als der ukrainische Freund sich ankündigte, dachte ich: Oh, oh, das muss ich aber echt gut verkaufen.
Ich verkaufte es dann erst mal gar nicht und schlug einen Spaziergang zum Hafen vor. Der ukrainische Freund stimmte zu und lächelte, wie er immer lächelt, wenn er nicht über Feigheit, Zaghaftigkeit, Diktatoren im Allgemeinen oder Putin im Besonderen spricht. Er ist einfach ein Ausbund an Freundlichkeit und Zuversicht, was ich bewundere, weil er gleichzeitig auch im Besitz einer analytischen Klugheit ist und schon Anfang der Neunzigerjahre in geradezu hellsichtigen Romanen das erzählt hat, was aktuell mit Europa und der Ukraine passiert.
Also liefen wir zum Hafen und kamen, wie das auf St. Pauli üblich ist, an einer Eckkneipe vorbei. Er lächelte verstohlen – mir war klar, dass wir da jetzt nicht einfach dran vorbeigehen konnten. Ich schlug ein Getränk in jener Kneipe vor, in seinem Gesicht ging die Sonne auf und infolgedessen dann auch in der Kneipe. Ich besorgte ihm ein Bier und mir eine Cola. Er reagierte geschockt, was los sei mit mir, wollte er wissen.
Ich nuschelte etwas von »Bisschen krank gewesen in den letzten Monaten« und »Alkoholpause« und »Mach dir keine Sorgen«, weil ich ihn wirklich nicht mit meinem Scheiß belästigen will, er wird tagtäglich mit genug Scheiß belästigt, zum Beispiel mit Marschflugkörpern und den immer gleichen Theorien zum Thema Einfrieren.
Er trank sein Bier, aber er war irritiert.
Wenn der ukrainische Freund zu Besuch ist, gibt es für mich eine Art Hauptdirektive: Ich tue alles, was in meiner Macht steht, damit er es gut hat. Und weil es nun mal leider nicht in meiner Macht steht, die Krim zu befreien, kläre ich das über Gastfreundschaft.
An einer Cola zu nuckeln, während der Gast dann aus reiner Höflichkeit ebenso vorsichtig an seinem Bier nippt, erfüllt dieses Konzept in meinen Augen nicht wirklich. Da müssen schon richtige Drinks her, oder zumindest ein Rehbraten.
»Juri«, sagte ich, »lass uns in eine schöne Bar gehen, am besten in die schönste Bar der Stadt.« Er lächelte.
Ich rief uns ein Taxi, das Taxi spuckte uns ein paar Minuten später vor einem alten Hotel am Hauptbahnhof wieder aus, am hinteren Ende der Lobby stieß ich die Tür zu diesem Art-déco-Juwel auf, man fühlt sich gleich wie in New York, wie in einer dunklen, warmen Ecke der Grand Central Station. Der fast jugendlich wirkende Barchef trug Anzug, Krawatte und Einstecktuch. Mein ukrainischer Freund bestellte Whisky, die goldene Flüssigkeit kam in einem schweren, glänzenden Tumbler.
Ich sah den Barmann an.
»Irgendwas Schillerndes ohne Alkohol, bitte.«
»Selbstverständlich«, sagte er, »überhaupt kein Problem«, er stellte ein zierliches Martiniglas auf den Tresen und fing an zu mixen. Eiswürfel, alkoholfreier Gin, Limettensaft, Soda und ein öliger, grüner Sirup, er schüttelte alles gekonnt in seinem Mixbecher hin und her und ließ es dann durch ein feines Sieb in das Glas vor meiner Nase laufen.
»Wow«, sagte ich, »was ist das, ein Virgin Basil Smash oder so?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen, ich hab es mir eben erst ausgedacht.«
Mein Freund hob seinen Tumbler, wir stießen an, er wirkte fast glücklich und wie immer voller Zuversicht.
»Juri«, sagte ich, »was machen wir denn jetzt mit der Zukunft Europas?«
»Wir denken uns was aus«, sagte er. »Und dann nennen wir es, wie wir wollen.«