»Dafür ist dein Vater in Auschwitz gestorben, dass du jetzt eine Fünf in Mathe hast«

Der Liedermacher Wolf Biermann ist heute vor allem wegen seiner Ausbürgerung aus der DDR bekannt. Für ihn selbst waren andere Erlebnisse viel prägender. Im SZ-Magazin erzählt er davon. 

    Seit er 17 ist, führt Wolf Biermann wie besessen Tagebuch. Weit mehr als 200 Bände sind es inzwischen, jeden Tag schreibt er penibel auf. »Meine Tagebücher waren mein seelischer Stabilisator«, sagt er, »eine Form permanenter Selbstversicherung und Selbstinfragestellung, die mich vor Depression oder Selbstbesoffenheit schützt.« Bei der Arbeit an seinen Memoiren warf er trotzdem keinen einzigen Blick hinein. »Ich habe keine Lust, meine Tagebücher zu lesen, aber meine Frau hat darin gelesen. Dem Frisieren der eigenen Biografie entgeht kein Mensch.«

    Wolf Biermann, 79, Liedermacher. Seine Geburtstsstadt Hamburg verließ er als Jugendlicher, um Staatsbürger der DDR zu werden. Hanns Eisler ermutigte ihn, Lieder zu schreiben; am Berliner Ensemble brachte ihm Helene Weigel den Sinn für Dramaturgie und Theatralik bei. Wegen seiner DDR-kritischen Songs und Gedichte wurde er 1976 von der SED-Führung ausgebürgert. Die Proteste dagegen gelten als Anfang vom Ende der DDR. Heute lebt Biermann mit seiner Frau Pamela Biermann, einer Sängerin, wieder in Hamburg. Kurz vor seinem 80. Geburtstag traf ihn SZ-Magazin-Autor Sven Michaelsen – und sprach mit ihm unter anderem über die Kriegsnacht, die Biermann als Sechsjähriger überlebte. Die Vorteile einer dicken Stasi-Akte. Und das Glück der späten Vaterschaft.

    Seinem eigenen Vater begegnete Biermann nur ein einziges Mal bewusst: mit vier Jahren, für eine halbe Stunde. Er starb im Konzentrationslager Auschwitz, die Familie erfuhr davon durch Zufall. »Der eingeborene Grundkummer um den Vater ist das Gesetz, unter dem ich lebe. Wenn die Angst mich hatte, schwebte mein Vater unsichtbar von der Auschwitz-Wolke runter und sagte: »Ich habe mit meinen Genossen das Leben aufs Spiel gesetzt – da wirst du ja nun wenigstens dein Wohlleben aufs Spiel setzen!«

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    Nach dem Krieg besuchte Biermann ein Gymnasium in einem bürgerlichen Stadtteil. »Ich machte den Klassenkampf-Clown und agitierte meine armen reichen Mitschüler, denn ich sollte doch als tapferer Kommunist eine gerechtere Weltordnung aufbauen und so meinen Vater rächen. Das war die private Rache meiner Mutter an Adolf Hitler und Auschwitz.« Biermanns Noten waren miserabel, sein Lehrer habe ihn gezwungen, schlechte Zensuren von seiner Mutter unterschreiben zu lassen. »Als ich meiner Mutter diese Schande zeigte, kam von ihr der Hammer-und-Sichel-Satz: ›Dafür ist dein Vater in Auschwitz gestorben, dass du jetzt eine Fünf in Mathe hast!‹ Das hat gesessen.«

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    Kurz vor seinem 80. Geburtstag spricht Wolf Biermann über die Kriegsnacht, die er als Sechsjähriger überlebte, Vorteile einer dicken Stasi-Akte und das Glück der späten Vaterschaft.

    Foto: Markus Jans