An einem Sommermorgen im Buttes-Chaumont könnte man meinen, in Paris lebten nur Jogger und asiatische Senioren. Der Klang ihrer Schritte hebt sich leise ab vom Zischen der Rasensprenger. Schwitzen und Spazieren. Ansonsten herrscht eine Ruhe, die das Herz öffnet für das in Paris seltene Gefühl, für sich zu sein. 20 000 Einwohner pro Quadratkilometer, das ist fünfmal enger als Berlin. Dazu vierzig Millionen Touristen, die sich zwischen Ostern und Weihnachten unaufhaltsam über die Trottoirs walzen von Claude Monet zu Louis Vuitton zum nächsten Steak frites. Sauerstoffnot in der Métro. Paris ist immer und überall Mensch. Paris ist auch Stein. Die Haussmann-Fassaden entlang der Boulevards. Die endlosen Kaimauern entlang der Seine. Der gigantische Louvre. Quader türmt sich auf Quader.
Der Parc des Buttes-Chaumont erinnert daran, dass es Bäume gibt. Und was für welche! Eiben, Pinien und Robinien, Zedern, Kaki- und Honigbäume. Keine Art, die hier nicht Wurzeln schlüge, auf diesen wundersamen Hügeln im Nordosten der Stadt. Auf denen keine Ecke der anderen gleicht, keine erkennbare Ordnung die Orientierung erleichtert. Ein kleiner Tempel sitzt auf einem Kalkfelsen, fette Karpfen gründeln im See, alte Eisenbahngleise führen ins Nichts. Buttes-Chaumont ist ein Landschaftspark nach englischem Vorbild und damit der Gegenentwurf zum Jardin du Luxembourg und den Tuilerien, die sich der royalistischen Symmetrieobsession beugen mussten.
Vier Jahrhunderte lang thronte im
Buttes-Chaumont der wichtigste Galgen von Frankreich.
Und Buttes-Chaumont ist ein Ort der Freiheit. Fast nur hier darf man in dieser Stadt eine Wiese betreten, querbeet spazieren, nachts campieren, ohne dass ein Parkwächter motzt. Hier können Menschen sie selbst sein, oder ganz andere. Die Handvoll älterer Frauen und Männer, die mohnrote Fächer durch die Luft schnarren lassen, in langsamen, sauber ausgeführten Bewegungen, wie Ausdruckstanz auf Baldrian. Der Mann mit Tarzanfrisur, nur in Shorts, im Sparring gegen einen unsichtbaren Gegner. Die chinesischen Ü50-Damen, mitten auf dem Gehweg im Synchrontanz formiert, einigermaßen eins mit sich und der Musik aus der Boombox.
Paris ist eine Postkartenstadt, in der sich Klaustrophobie einstellt. In der Sieben-Quadratmeter-Löcher für mehr als 100 000 Euro annonciert sind, in der es abseits des Prunks schmutzig und gedrängt zugeht. Diese Stadt braucht einen solchen Ort. Auf den 25 Hektar des Buttes-Chaumont im 19. Arrondissement verschwinden Hierarchien, Klassen, Unterschiede.
Die Schriftstellerin Virginie Despentes hat mit ihrer Trilogie um den abgestürzten Plattenhändler Vernon Subutex den vielleicht wichtigsten Gesellschaftsroman über das gegenwärtige Frankreich oder zumindest Paris geschrieben. Der zweite Teil spielt im Parc des Buttes-Chaumont, wo Subutex Phasen seiner Obdachlosenexistenz auslebt. Unter einer Kastanie sitzend, zieht er die Bekannten aus seinem alten und neuen Leben an wie ein Pheromon Insekten. Es sind Großstadtbürger, die kaum mehr eint als Hilflosigkeit und Wut, die ihre Suche nach Glück längst aufgegeben haben und es hier, im Park, in der Gemeinschaft, unerwartet finden. Nur um es dann, kaum kehren sie in ihren Alltag zurück, wieder ihrem Selbsthass und dem Hass auf Migranten oder Kapitalisten, Frauen oder Männer zu opfern. Bis zum nächsten Ausflug nach Buttes-Chaumont. Despentes hat den Park zu einem Glücksversprechen erhoben und seinem Mythos ein weiteres Kapitel hinzugefügt. In und um die Hügel von Chaumont lagert sich die Geschichte der Stadt schon seit dem Mittelalter Schicht um Schicht ab. Die Eiben, Pinien und Robinien wachsen auf Blut und Scheiße. Vier Jahrhunderte lang thronte im Buttes-Chaumont der wichtigste Galgen von Frankreich. Im Gibet de Montfaucon, einem rechteckigen mehrstöckigen Konstrukt, konnten bis zu 80 Leichen gleichzeitig am Strick hängen und als Mahnung an die Gesellschaft vor sich hin modern. Man verscharrte sie an Ort und Stelle. Manch eine Frau ließ man hier auch bei lebendigem Leibe begraben.
Dann kamen die Tiere. Nachdem um 1629 der letzte Verdammte am Gibet gebaumelt hatte, verwandelte sich das Viertel um die Kalkfelsen in eine apokalyptische Müllkippe. »Immerzu rotteten dort mehr als 12 000 Pferdekadaver und mehr als 25 000 Kadaver von Hunden, Katzen, Ziegen und Eseln«, schreibt der Autor Luc Sante, der in seinem Buch The Other Paris die Modermilieus der Stadt porträtiert. Abdecker zerlegten die Tiere, Gerber tränkten die Häute in ätzende Laugen, Ratten und Maden fraßen das Fleisch. Dazu karrte man täglich um die 70 000 Liter menschlicher Ausscheidungen an, um sie mit Gips und Kohle zu Dünger zu verrühren. Der infernalische Gestank trug die Geschichte von Buttes-Chaumont bis ins Zentrum von Paris.
Heute riecht es hier und dort nach Lavendel, unweit der Parkmitte stürzt ein Wasserfall in eine Grotte. Palmen wachsen in Rufweite des kleinen Tempels, der hoch über dem See thront, in dem Kanadagänse ihre Kreise ziehen. Ein einzelner Vogelkundler in Tarnfarben steht morgens mit Teleobjektiv im Unterholz. Grundschüler in Warnwesten suchen, mit leeren Eierkartons ausgestattet, am Wegesrand nach Käfern. Und Alte, deren Haut von einem Leben im Wetter gegerbt ist, liegen nach dem Mittag wie Grillhähnchen auf den Hängen in Richtung Süden.
Seit 1867 wandelt man hier. Es war Frankreichs letzter Kaiser, der Buttes-Chaumont zu einem Park umbauen ließ. Unter Napoleon III. fraß die Stadt ihre Ränder, ab 1860 war auch die ehemalige Müllkippe Teil von Paris. Nach der Revolution war die Arbeit mit totem Tier langsam durch Gipsabbau verdrängt worden, nun aber mussten die Stollen verschwinden. Der Stadtplaner Jean-Charles Alphand übersetzte die durch die Steinbrüche entstandene Topografie in ein kurvenreiches Labyrinth, Erde wurde abgetragen und andernorts wieder aufgeschüttet, man sprengte vereinzelt Felsen mit Dynamit. Zur gleichen Zeit ließ George-Eugène Baron Haussmann, der als Präfekt die Modernisierung der Stadt vorantrieb, jene kilometerlange Geraden durch Paris schlagen, die sein Bild bis heute prägen. War das neue Paris vor allem eine Geburt der Vernunft – in Erwartung einer modernen Industriegesellschaft wagte es der Parc des Buttes-Chaumont, ganz Gefühl zu sein.
Knapp hundert Jahre vor Despentes mystifizierte der Surrealist Louis Aragon in Der Pariser Bauer den Parc des Buttes-Chaumont ein erstes Mal literarisch. Mit zwei Freunden flaniert er abends durch den Park, beschreibt ihn hier mit der Präzision des Kartografen, dort mit den Werkzeugen der Metaphysik. Noch ehe sie die Eingangstore durchschreiten, notiert Aragon: »Die Buttes-Chaumont ließen in uns eine Fata Morgana erstehen mit allem, was derartige Erscheinungen an Greifbarem haben […]. Vor uns öffnete sich ein wunderbares Jagdrevier, ein Experimentierfeld, auf dem uns unweigerlich tausenderlei Überraschungen zuteil werden mußten und, wer weiß, eine große Offenbarung, die Leben und Schicksal verändern würde.«
In Aragons Betrachtungen wird alles Spiel, auch der Tod. Die kurze steinerne Brücke, die auf die Insel in der Seemitte führt, beschreibt er zärtlich. Bis heute ist sie als »Pont des Suicidés« bekannt, Aragon erklärt, sie habe in den Menschen spontan den Wunsch entstehen lassen, sich in die Tiefe zu stürzen. Schon 1924, als er durch den Park spazierte, sollte ein Gitter die Menschen davon abhalten. Heute reicht der Maschendrahtzaun bis über den Kopf. Auf die Innenseite der Brücke hat jemand geschrieben: »Einen schönen Tag und vielen Dank!« Dazu eine Sonne. Als habe man die Verzweiflung erfolgreich eingehegt.
Am Nachmittag verschwinden die Wiesen auf der Südseite des Parks unter Picknickenden. Decken werden entfaltet, Karten gespielt, Weißwein getrunken. In die Kakophonie der konkurrierenden Bluetooth-Boxen mischt sich das Klacken von Flaschenöffnern auf Glas, das die bierverkaufenden Inder ankündigt, die über die Hügel streifen, nur zwei Euro die Flasche. Man beobachtet angeleinte Katzen und entgrenzte Dackel. Und, natürlich, Liebespaare auf Parkbänken, die, so beschrieb sie Aragon, »Löcher in der gewaltigen menschlichen Einsamkeit«.
Auf der anderen Seite des Sees fläzt und flirtet die jüdische Jugend, weiße und schwarze Kippot, Mädchen mit langen dunklen Haaren. Hier, im 19. Arrondissement, stehen die meisten Synagogen von Paris. Daneben Frauen mit Kopftuch, Schwarze, Weiße, Asiaten. Paris wirkt oft wie eine segregierte Stadt, in der man genau weiß, welche Hautfarbe die Menschen auf der Straße haben werden, je nachdem, an welcher Métro-Station man aussteigt. Doch in den an den Buttes-Chaumont grenzenden Vierteln wie Belleville wird die Gleichzeitigkeit von Unterschieden nicht nur ausgehalten, sondern stolz betont.
Das Nebeneinander gelingt meistens, nicht immer. Die Jogger, die im Park über Kuppen und Abhänge hecheln, erinnern auch an eine blutige Episode der Stadt. Hier trainierten Anfang der 2000er-Jahre die Kouachi-Brüder als Teil der sogenannten Buttes-Chaumont-Zelle für den Dschihad. 2015 stürmten sie in die Redaktion von Charlie Hebdo und erschossen zwölf Menschen. Virginie Despentes greift die Geschichte in ihrem Roman am Rande auf, sie schickt Aïcha, eine junge fromme Muslimin, zum Training in den Park, »um schneller verschwinden zu können«. Der Dschihad interessiert Aïcha nicht: Sie will zusammen mit einer Gruppe gewaltbereiter Frauen ihre Mutter rächen.
Der Rest ist Ekstase. Der Romanheld Subutex legt regelmäßig im »Rosa Bonheur« auf, einer Kneipe, die es im Osten des Parks wirklich gibt. Früher luden jüdische Familien einander hier zu Bar-Mizwa-Festen ein, heute trinken im »Rosa« Urbane von hip bis verloren. Bei Despentes wird die Bar zum Tempel. Die Bekannten von Subutex, die sich nicht recht erklären können, warum sie diesen Penner ständig besuchen, werden im »Rosa« endgültig wehrlos, Vernunft löst sich auf in Gefühl. Hier trifft Despentes auf Aragon, die Tanzfläche wird zur großen Offenbarung, die Leben und Schicksal verändert.
Die Realität ist hüftsteifer. Drinnen laufen gegen 22 Uhr die Jackson 5, und zwei Männer mit Polohemden in der Hose bemühen sich, die gespeicherte Wärme des Tages in Bewegung umzuwandeln. Draußen auf der Terrasse zelebriert eine Gruppe Endzwanziger in der Silent Disco unter großen Kopfhörern ihre Textunsicherheit bei Bruno-Mars-Songs. Das verschwitzte Leuchten des Sommers steht ihnen gut.
Folgt man vom »Rosa Bonheur« dem Abhang gen Norden und verlässt im Tal den gesicherten Weg, landet man auf stillgelegten Bahngleisen, deren Holzschwellen verfallen. Brombeersträucher und Brennnesseln wuchern ungehindert, auch Plastikmüll. Die Schienen führen auf beiden Seiten in Tunnel. Im Süden versperrt ein viele Meter hohes, mit Graffiti besprühtes Gitter den Weg, sein oberes Ende ist mit Dornen versehen. Im Norden geht es hinein. Ein paar Silhouetten heben sich gegen das Licht ab, der Tunnel ist Wohnung. Im Parc des Buttes-Chaumont wird gejoggt, spaziert, getanzt. Und geschlafen.