»Sommer! Aus den braunen Schollen / Springt die Saat empor / Grüne Knospen rollen / Tausendfach hervor.« Wenn Gunther Tiersch, ZDF-Wettermann, Gottfried Keller zitiert, klingt das wie ein Geständnis sexueller Abartigkeit. Sein kirschroter Kopf oszilliert vor digitalen ZDF-Sonnen. Sonnen, so weit das Auge reicht. Jede wolkenlose Grafik macht mich trauriger und stumpfer – ich mag Wolken. Besonders graue Regenwolken.
Ich will weinen, aber das Telefon geht. Ignatz. Er hat sich vor zwei Jahren eine Butze in Neuholland gekauft. Neuholland bei Oranienburg. Brandenburger Provinz, Schlaglöcher mit Straßen, das Summen der Autobahn, des Umspannwerks.
»Kommt ihr raus?«, fragt Ignatz. Ich sehe ihn vor dem Hüttchen warten. »Was machst du?«, frage ich ihn. »Ich bin draußen!«, jauchzt er. Wie letztes Jahr. Wenn es draußen zu schwül wurde, tranken wir abgestandene Orangina, lauschten dem Surren der Stromleitungen und beobachteten die Brennnesselfelder, bis in der Dämmerung der Fuchs auftauchte. »Nein«, meint Ignatz, »den gibt es nicht mehr. Der ist von den Nazis hier mit Paintballgewehren erschossen worden. Lag in einem Haufen Farbe und ist verblutet. Dafür haben wir jetzt eine Nachtigall.«
»Es gibt nichts, was mir mehr Kopfschmerzen bereitet als Nachtigallen, die um drei Uhr nachts auf der Zeltstange Platz nehmen und Pol Pot spielen, Ignatz.« – »Ach so.«
Und dann diese Erinnerung: Irgendwo in den Brennnesselwäldern von Neuholland, denke ich, hängen meine Schmerzensschreie noch in den Blättern, seit dem Tag, an dem ich einen Zelthering in den weichen Sandboden drücken wollte, sich die Sedimente verschoben, Erdzeitalter überschlugen und ich den Hering mit entschlossenem Griff in eine feste Formation von Gneis stieß. Die Hand blutete, der Hering hinterließ eine fleischfarbene Blume in der Hand. I ch habe dann bei Ignatz in der Hütte geschlafen. Mit den Pilz- und Gall- und Faltenmücken. »Es gibt Tiere«, erkläre ich Ignatz, »die halten Sommerschlaf. Sie fahren ihren Stoffwechsel herunter, reduzieren ihre Darmgröße um 40 Prozent, während sie unter einer Schlammdecke schlummern und auf die ersten Regenwolken warten, die den Herbst verheißen.« – »Heißt das, du kommst nicht?«, fragt er. Ich sage nichts.
Christian Ulmen ist Schauspieler und Autor.